„Wir erleben eine große Gereiztheit“

Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen

In Ihrem neuen Buch „Die große Gereiztheit“ konstatieren Sie eine zunehmende Hysterie im Netz. Man könne, selbst wenn man wollte, den „digitalen Fieberschüben“ nicht entkommen. Wäre das aber nicht eigentlich leicht – Stichwort „Digital Detox“? Was hindert uns am Abschalten?

Bernhard Pörksen: Zum einen erliegen wir einer konstanten Neuigkeitserwartung, die uns in Atem hält und an Push-Nachrichten und Breaking News fesselt; zum anderen durchdringen Medien in einem bisher unbekannten Ausmaß den öffentlichen Raum. Selbst wenn wir das Smartphone abschalten – spätestens in der U-Bahn flackern dann die aktuellen Nachrichten doch wieder für jeden sichtbar über den Bildschirm. Und schließlich ist, ganz grundsätzlich gesprochen, Informationsisolation unter den Bedingungen digitaler Vernetzung illusionär. Wir sehen, was andere denken, posten, publizieren. Wir sehen Bilder totaler Armut und bizarren Reichtums. Wir sind sofort mit dem neuesten Tweet eines rasenden amerikanischen Präsidenten konfrontiert. Diese Dauerkonfrontation mit immer anderen Wirklichkeiten verstärkt die große Gereiztheit der digitalen Zeit.

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Fehlt es unseren westlichen Gesellschaften schlicht an Medienmündigkeit? An einer Art digital-sozialer Kompetenz?

So ist es. Wir stecken in einer Übergangsphase der mentalen Pubertät im Umgang mit den neuen Medienmöglichkeiten. Wir sind diesen Medienmöglichkeiten momentan noch nicht gewachsen.

Sie schlagen als eine Lösung die Einführung eines Schulfachs vor. Das müssen Sie bitte kurz erläutern.

Wir benötigen heute die Fähigkeit zur Medien- und Machtanalyse, zur Quelleneinschätzung. Wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen, was seriöse, glaubwürdige und veröffentlichungsreife Information ist – und was eben nicht. All dies sollte an Schulen gelehrt werden.

Wenn Aufmerksamkeit inzwischen offenkundig zu einer immer wichtigeren Währung wird: Was ist aus Ihrer Sicht dann die Konsequenz für professionelle Kommunikatoren und für Personaler? Lauter schreien, um künftig überhaupt noch wahrgenommen zu werden?

Nein, der Aufmerksamkeitsmarkt differenziert sich erkennbar aus. Natürlich, es gibt die Schrei- und Brüllecken, die Billiganbieter und Bullshit-Produzenten in einem sich globalisierenden Aufmerksamkeitspoker. Aber es gibt eben auch zunehmend Premium-Sphären der Zuwendung, die von impliziter Wertschätzung und maximaler zielgruppenspezifischer Relevanz geprägt sind.

Durch Digitalisierung und Vernetzung lassen sich Images heute leicht kreieren, verändern, aber auch ramponieren. Wie verändert sich Kommunikation, wenn die Reputationskrise nur ein paar Postings entfernt ist?

Sie wird zunehmend von Verzagtheit und Ängstlichkeit geprägt – und das ist keine gute Nachricht für einen offenen, freien, auch mal von kreativem Überschuss und produktiven Frechheiten geprägten Diskurs. Man fürchtet den plötzlichen Erregungsexzess und formuliert eben deshalb besonders vorsichtig, glatt, in vorauseilender Konfliktvermeidung. Frei nach dem Motto: „Bloß keine Angriffsfläche bieten!“

Unternehmen und Organisationen können rasch zu Zielscheiben werden. Etwa dann, wenn sich Protestgemeinschaften bilden und – wie Sie es nennen – innerhalb von Selbstbestätigungsmilieus vermeintliche Gewissheiten entstehen, die in Wahrheit eigentlich doch nichts anderes sind als Gerüchte, Desinformation oder Fake News. Wie wehrt man sich Ihrer Meinung nach als Attackierter am besten?

Es gibt kein Fertigrezept für gelingende Kommunikation, wohl aber ein paar nützliche Prinzipien der Reaktion, die man individuell adaptieren muss. Das erste Prinzip nenne ich das „Prinzip der Relevanzklärung“, das sich an drei Fragen orientiert: Wie berechtigt ist der drohende Protest? Wie mächtig sind die Protestierenden? Wie emotional wirksam ist das Protest-Thema? Wenn das Thema aufwühlt, an der Attacke etwas dran ist und die Kritiker einflussreich sind, dann greift das zweite Prinzip. Es ist das „Prinzip der raschen Reaktion“, weil man im digitalen Zeitalter – Stichwort Salamitaktik – nicht mehr auf Zeit spielen kann. Das dritte Prinzip bezeichne ich als „Prinzip der Dialogorientierung“. Wer reagiert, tut gut daran, das ernste, von Lernwillen und Berührbarkeit gezeichnete Gespräch als mentales und kommunikatives Modell zu wählen. Aber noch einmal: Jede Situation und Organisation ist einzigartig, deshalb muss man sehr genau hinschauen, um eine stimmige Strategie zu entwickeln.

Wenn Kontrollversuche, wie Sie behaupten, Kontrollverlust überhaupt erst provozieren – wie ist das Spiel um Aufmerksamkeit dann auf Dauer überhaupt zu gewinnen?

Man kann das Spiel um Aufmerksamkeit immer noch gewinnen – auch durch das sinnlose Spektakel. Aber das Spiel um Anerkennung ist sehr viel schwieriger geworden. Reputationsrisiken sind im digitalen Zeitalter allgegenwärtig, und Kontrollversuche können, wie man am Beispiel des sogenannten Streisand-Effekts zeigen kann, blitzschnell in den Kontrollverlust umschlagen. Auch hier gilt: Die Dialogorientierung bietet zumindest einen gewissen Schutz, weil eine solche Haltung die Eskalation von Auseinandersetzungen vermeiden hilft. Dialogorientierung nimmt der Aggression ihre Wucht.

"Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung" von Bernhard Pörksen (Hanser Verlag, 256 Seiten)

Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung
Bernhard Pörksen, 256 Seiten, Hanser Verlag

Ist die „fünfte Gewalt der vernetzten Vielen“, die Sie in Ihrem Buch beschreiben, nicht eigentlich doch aber auch ein Segen? Denn zwingt nicht diese „fünfte Gewalt“ Institutionen, Organisationen und Unternehmen zu einer Transparenz, wie sie früher praktisch undenkbar gewesen ist?

Sie kann ein Segen sein, aber ich würde es anders formulieren: Die fünfte Gewalt hat ein Doppelgesicht. Mal engagiert sie sich für die dringend benötigte Transparenz und Aufklärung, liefert grandiose Recherchen und weist auf massenmedial ignorierte Themen hin. Und es ist durchaus denkbar, dass tatsächlich relevante Skandale – Gewalt, Folter, die Demütigung eines Menschen – erst durch die Aktivitäten dieser neuen Medienmacht bekannt werden, gerade und besonders auch in autoritären Systemen. Dann jedoch zelebriert die fünfte Gewalt auch das Mobbingspektakel gegenüber Unschuldigen und Ohnmächtigen. Beides kommt vor und forciert die große Gereiztheit intensiv vernetzter Gesellschaft, die wir momentan erleben.

Der Erfolg von Bewertungsplattformen wie Kununu ist der lesbare Ausdruck einer solchen Gereiztheit. Solche Plattformen sind aber ja kein Abbild der Realität, sondern lediglich ein selektiver Ausschnitt derselben – weil nämlich in der Regel eher die Unzufriedenen dort posten, oder?

Sie haben Recht. Das ist die programmierte Relevanzverzerrung der digitalen Öffentlichkeit. Hier zeigt sich: „Angry people click more!“

Wie müssten betroffene Arbeitgeber Ihrer Meinung nach reagieren? Wie ernst sollten sie einen solchen Ausschnitt der Realität nehmen?

Auch hier gilt: Man kann wenig pauschal empfehlen, denn manchmal kann die Ignoranz der Idiotie, die sich so offensichtlich selbst richtet, auch eine gute Idee sein. Allerdings gilt eines gewiss: Es braucht heute in jedem Unternehmen eines präzisen Social-Media-Monitorings, um das große, manchmal brummelnde und grummelnde Gespräch über die eigenen Produkte, den eigenen Service und die eigenen Leistungen möglichst unmittelbar zu verfolgen. Man muss wissen, was über einen gesagt wird, um dann gegebenenfalls rasch zu reagieren und die Entstehung von Negativ-Images noch vor ihrer Verfestigung zu blockieren.

Bleibt die allumfassende, zugebenermaßen sehr komplexe Frage: Auf welche Weise lässt sich die „große Gereiztheit“ besänftigen, wenn nicht vermeiden?

Meine These lautet, dass sich in der gegenwärtigen Mediensituation ein großer, noch unverstandener Bildungsauftrag verbirgt. Im Kern geht es um eine Kommunikationsethik für die Allgemeinheit.

Und was verstehen Sie – in knappen Worten – unter einer „konkreten Utopie einer redaktionellen Gesellschaft“?

Die redaktionelle Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der die Maximen und die Ideale des guten Journalismus zu einem Element der Allgemeinheit geworden sind. Diese lauten beispielsweise: Prüfe erst, publiziere später! Höre immer auch die andere Seite! Analysiere deine Quellen! Sei transparent im Umgang mit Fehlern! Sei skeptisch! Weil heute jeder zum Sender geworden ist, sollte auch jeder lernen, als sein eigener Redakteur zu handeln, so mein Argument.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe ALLES AUF ANFANG. Das Heft können Sie hier bestellen.

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