Kein Ausweg aus der Hölle

Social Media

Die beste Definition der Hölle liefert der Schriftsteller Thomas Mann. In “Doktor Faustus” beschreibt er ein System zweier Räume, die durch eine offene Tür miteinander verbunden sind. Ein Raum ist sehr heiß. Der andere sehr kalt. Das Höllenerlebnis liegt nicht in sengender Hitze oder Eiseskälte, sondern im permanenten Hin- und Herrennen, getrieben vom Stressgefühl, im anderen Raum könnte es eventuell besser sein. So ähnlich verhält es sich für mich mit den sozialen Medien – vor allem mit den von mir am häufigsten genutzten Plattformen Twitter und Linkedin. Ich renne ständig hin und her, in der Hoffnung, im anderen Netzwerk sei es erträglicher.

Auf Twitter nervt mich der permanent aggressive, moralistische und belehrende Schlaubergerton. Es gibt kein Verhalten, das nicht sofort aufs Schärfste verurteilt wird. Persönlicher Anfeindungen gibt es inklusive. Irgendwer wagt es, ein Bild von einem Flughafen zu posten? Flugscham rules! Zweifel am Sinn einer Coronamaßnahme? Geht gar nicht! Der Versuch, etwas zu ironisieren? Doch nicht in Deutschland!

So treibt mich die Suche nach einem entspannteren Diskurs “rüber” zu Linkedin. Hier herrscht menschenfreundliche Achtsamkeit. Man hört regelrecht das sanfte Klingen tibetischer Entspannungsglocken. Aber: Die Sanftmut wirkt häufig passiv-aggressiv. Dahinter steckt ebenso viel Moralismus, hier eingespannt in eine Maschinerie moralbezogener Selbstvermarktung. Jeder Post über die verspätete Bahn beginnt mit der eifrigen Erläuterung, dass man selbst ja nicht mehr Auto fahre, wofür man natürlich gefeiert werden will. Da finden sich massenhaft pompöse Statements zur eigenen Karriere, gern flankiert mit den großen identitätspolitisch grundierten Schwierigkeiten, die man auf dem Weg nach oben habe überwinden müssen. Auch hier ist der Nimbus der von sich selbst Begeisterten omnipräsent. Dazu gibt es die unzähligen Coaches, die mit weltpolitischen Statements ihre Leistungen anpreisen.

Und wie ist es mit Unternehmen? Auf Twitter findet man sie, aber überwiegend mit Marketing. An Diskussionen beteiligen sie sich kaum. Der Meinungswind ist ihnen hier zu rau. Wohler fühlt man sich mit der Kuschelprosa auf Linkedin. Ein paar salbungsvolle Worte zu Nachhaltigkeit, und Zustimmung ist gesichert. Agenturen haben inzwischen Routine darin, Vorständen PR-Statements nach den Regeln des Mediums auf den Leib zu schneidern. Geboten werden weiterhin die Pressestatements der Firmen, jetzt aber garniert mit persönlichen ­Floskeln.

Was bedeutet das für die Zukunft der Kanäle? Für Twitter sehe ich keine Probleme, gepöbelt wird immer. Auf Linkedin könnten mit der feindlichen Übernahme durch ein Höchstmaß an PR-Geschwafel schwierige Zeiten zukommen.

Ein Buch des Medienwissenschaftlers Sangeet Kumar ist in diesem Kontext erwähnenswert: “The Digital Frontier: Infrastructures of Control on the Global Web“. Kumar erörtert, wie die strukturellen Beschaffenheiten von Social-Media-Kanälen katalysieren, was wir sagen, denken oder empfinden können. Jeder Kanal weist seine eigenen Rigiditäten auf, die jeweils auch machtpolitisch ausgenutzt werden können. Für uns Netz-Prosumenten folgt daraus, immer wieder zu analysieren, welche Aussagen der jeweilige Kanal ermöglicht, erleichtert oder unterdrückt. Und nach Wegen zu suchen, dessen jeweilige Rigiditäten zu umgehen.

Meine persönliche Social-Media-Hölle hat zum Glück noch eine weitere Tür: Instagram, die oberflächliche Bildplattform. Klar, auch hier findet Corporate Content statt. Aber wenigstens halten sich die Absender mit aussagelosen Textbinsen zurück. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte? Zum Glück nicht. Manchmal sagt ein Bild auch nur, dass es ein Bild ist und man froh sein sollte, dass es keinen Text gibt.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe #Influencer. Das Heft können Sie hier bestellen.

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