Vielfalt auf verschiedenen Ebenen

DFB-Kampagne

Ein Döner-Verkäufer in Berlin startet im Video mit „Antonio, mein Bruder“ und verkündet damit offiziell die Nominierung des Fußball-Nationalspielers Antonio Rüdiger für den deutschen Kader zur Heim-EM 2024. Weil Rüdiger hier als Schüler gerne Döner gegessen hat, gibt es als Bonus heute für die ersten 50 Schüler einen Gratis-Döner. Wenn mir das einer vor zwei Jahren, ach, vor sechs Monaten erzählt hätte, ich hätte ihn für nicht ganz klar im Kopf erklärt. Und nun? Was soll ich zur Nominierungskampagne des DFB sagen? Natürlich habe ich als Kommunikator und Fußball-Fan die Kritik dazu wahrgenommen. Doch ich finde die Kampagne schlicht großartig. Für mich zeigt sie echte Vielfalt auf vielen Ebenen.

Als Teenager oder auch Twen hätte ich damals bei solch einer Antonio-mein-Bruda-Nominierung gedacht: Wow, die Mehrheitsgesellschaft sieht „uns“, das ist ja mal geil. Klingt übertrieben, ist aber so. Und allein dafür hätte sich die ganze Nominierungsnummer der 18 Spieler vorab schon gelohnt.

Damit könnte ich diesen Beitrag beenden. Aber diese Kampagne, die mit dem Video „Was ist typisch deutsch?“ zur Vorstellung der neuen Trikots von Adidas im März begann, ist für mich viel mehr. Neben dem klassischen weißen Heimtrikot stellte der DFB dabei noch das lila-pinke Auswärtstrikot vor. Geht’s noch? Da kann ich nur antworten: Mega! Danke DFB, dass ihr euch traut, die Korridore der Kampagnenlinien wie einst bei „Keine Macht den Drogen“ und etwa „Respekt! Kein Platz für Rassismus“ auszuweiten, nach dem Motto: Fußball ist für alle da. Die ganze Vielfalt der Menschen.

„Typisch deutsch“ aufs Korn genommen

Im „Typisch deutsch“-Video zur Trikot-Präsentation sprechen Protagonisten wie der schwarze Spieler Serge Gnabry deutsche Klischees an, von der doppelten Staatsbürgerschaft (im Herzen) über Pünktlichkeit bis zu Badeschlappen mit weißen Socken. Untermalt vom Neue-Deutsche-Welle-Hit „Mayor Tom“ von Peter Schilling. Fortgesetzt wird dieser Move von der Nominierungskampagne, bei der Testimonials wie „Tagesschau“-Sprecher Jens Riewa (Spieler Nico Schlotterbeck), Altenpfleger Rashid Hamid und Oma Lotti (Jonathan Tah), Günther Jauch (Pascal Groß) oder Rapperin Nina Chuba (Florian Wirtz) Spieler öffentlich nominieren. Auf vielfältige Weise und auf verschiedenen Kanälen.

Was Frank Elstner Zeit seines Lebens im Fernsehen versucht und ihm mit „Wetten, dass …?“ auch grandios gelungen ist, hat diese Kampagne spielend geschafft: Mehrere Generationen einzubinden, anzusprechen und (virale) Diskussionen auszulösen. Nur der Fußball schafft es neben dem Münster-Tatort noch, bei EM und WM mehr als zehn Millionen Menschen vor die Fernseher und die Laptops zu locken. Fußball in Deutschland ist mehr als Sport. Er hat eine gesellschaftliche Verantwortung und Aufgabe.

Stimmung gedreht? Auch dank fußballerischer Erfolge

Diese Kampagne trägt mit zu einem Umschwung bei. Die Menschen haben wieder mehr Lust auf die EM im eigenen Land.

Natürlich haben die beiden Länderspielsiege im Frühjahr gegen Frankreich (2:0) und gegen die Niederlande (2:1) einen wesentlichen Anteil daran. Zusammen mit dem Comeback von Toni Kroos waren sie so etwas wie eine Initialzündung. Denn machen wir uns nichts vor, ohne Substanz, sprich fußballerische Qualität und Erfolge, versandet jede noch so brillante PR- oder Werbe-Kampagne. Die spielerischen Glanzlichter von Bayer Leverkusen als ungeschlagener Meister tragen ebenfalls zu mehr Fußball-Begeisterung bei. Die Werkself hat zusätzlich das Europa-League-Finale erreicht. Borussia Dortmund steht im Champions-League-Finale gegen Real Madrid. Besser hätte es dramaturgisch kaum laufen können. Frischer Wind nach elf Meisterschaften in Folge von Bayern München.

Vielfalt ist mehr als ethnische Herkunft, Religion, sexuelle Identität oder das Geschlecht. Die Charta der Vielfalt nennt sieben Dimensionen. Soziale Herkunft, Alter, körperliche und psychische Einschränkungen gehören ebenfalls dazu. Die Gesellschaft ist bereits vielfältig. Der Weg zur Akzeptanz dieser Diversität ist aber noch weit, auch im Fußball, wenn wir allein die Dimension sexuelle Identität nehmen. Dennoch geht die DFB-Nominierungskampagne wieder einen Schritt weiter und macht Hoffnung, dass etwas passiert.

Über die Auswahl der Kanäle und Protagonisten lässt sich streiten. Ob Boulevard-Moderatorin Frauke Ludowig wirklich den Nationalspieler Aleksandar Pavlovic als EM-Teilnehmer verkünden musste? Zur Vielfalt gehört allerdings auch, vielfältige Meinungen zuzulassen, liberale wie konservative, nur halt keine Extreme, ob links oder rechts.

Natürlich sind auch die handwerklichen Kriterien der kurzen Nominierungsvideos im Leak-Modus bemerkenswert. Reichweite, Kanäle und Stilbrüche haben jedenfalls für Aufmerksamkeit und Diskussionsstoff gesorgt. Dass einem nicht jeder Nominierungsweg gefällt, muss man aushalten.

„Bild“-Sportjournalist Alfred Draxler findet die Nominierungskampagne des DFB „albern“ und gefährlich, weil Spieler wie Mats Hummels sich nicht von Fake-Nominierungen (passiert bei „TV Total“) „verarschen“ lassen müssten. Das zeigt mir, dass der DFB vieles richtig gemacht hat. Zum einen gilt es, den Fußball und Fußballer nicht zu überhöhen, sondern im Gegenteil dank Altenpfleger und Döner-Verkäufer nahbarer zu machen. Zum anderen sehnt sich Draxler nach den Zeiten von Sepp Herberger (1960!) zurück, denn „da kamen die Einladungen noch per Post“. Kein Witz, er hat es wirklich so geschrieben.

Chapeau DFB für euren Mut. Bleibt auch auf und außerhalb des Platzes so mutig und vielfältig! Vielfältig zusammengestellte Teams sind in der Wirtschaft meist erfolgreicher, wie Studien zeigen. Niemand sollte allerdings so naiv sein zu glauben, dass aufgrund der Kampagne die (Social-Media)-Welt friedlicher wird. Wenn U21-Nationalspieler wie Youssoufa Moukoko und Jessic Ngankam und viele andere Sportler künftig wenigstens nicht mehr so viele „Affen-Kommentare“ in den sozialen Netzwerken lesen und beleidigende Rufe im Stadion hören müssten, wäre schon viel erreicht.

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