Bei der Aufdeckung des Wirecard-Betrugs wirkten deutsche Medien bisweilen wie Zuschauer am Spielfeldrand. Lange beobachteten sie vor allem, wie die „Financial Times“ das damalige Dax-Unternehmen auseinandernahm, das seinerseits versuchte, gegen die britische Wirtschaftszeitung vorzugehen. „FT“-Korrespondent Olaf Storbeck stieg Ende 2019 in die Wirecard-Recherche ein. Noch immer sorgt der Fall für Schlagzeilen. „Mit Skandalen bekommt man natürlich besonders viel Aufmerksamkeit“, sagt Storbeck heute. Er berichtet seit 2017 aus Frankfurt für die „Financial Times“. Zuvor hat er mehrere Jahre beim „Handelsblatt“ und später bei Reuters in London gearbeitet. „Im Grunde sind die großen Dax-Unternehmen für uns interessant“, erklärt Storbeck als Grundprinzip. „Und zwar vor allem dann, wenn sie in der Krise stecken. Dann schauen wir da natürlich genauer hin, als wenn alles in Ordnung ist.“
Selbstverständlich landen deutsche Unternehmen nicht nur mit Skandalgeschichten in den Artikeln des Ressorts „Companies & Markets“ der lachsfarbenen Wirtschaftszeitung, für die fünf Korrespondenten aus Deutschland berichten. Zwei davon befassen sich ausschließlich mit Unternehmensthemen und zwei weitere teilweise. Häufig geht es um Firmenexpansionen und -käufe, wie ein Blick in die Ausgaben der vergangenen Wochen zeigt: „Adidas verkauft Yeezy-Schuhe für wohltätige Zwecke“, heißt es da zum Beispiel, „Deutschland prüft den Verkauf der wichtigsten Viessmann-Pumpeneinheit an Carrier“ oder „Schroders kritisiert Silver Lakes 2,6-Milliarden-Euro-Übernahme der deutschen Software AG“.
Themen, die einen allgemeinen Trend erkennen lassen
Neben der Größe des Unternehmens sind laut Storbeck die Interdependenzen wichtig, also die Bedeutung des Unternehmens für die gesamte Branche. Weitere zentrale Themen für die „FT“ sind Corporate Governance und generell der Bankensektor. „Über die Deutsche Bank berichten wir allein wegen ihrer systemischen Bedeutung für die gesamte Bankenlandschaft“, so Storbeck. „Und natürlich war sie lange eine der Skandalnudeln der Branche.“
Er und das Redaktionsteam in Frankfurt interessieren sich aber auch für Themen, an denen man einen allgemeinen Trend erkennen kann: zum Beispiel wenn Adidas plant, nur noch recyceltes Polyester für die Herstellung von Schuhen und Kleidung zu verwenden, wenn die Deutsche Bank den Frauenanteil unter ihren Führungskräften erhöhen will oder der CEO von Hugo Boss im Interview ankündigt, seine Produktion stärker in die Türkei zu verlagern. „Wir suchen nach Geschichten, die über das konkrete Unternehmen hinausgehen“, sagt Storbeck. „Das sind Sachen, die extrem gut gelesen werden.“ Anders sieht es mit der Verkündung der Quartalszahlen aus. „Diese 08/15-Berichterstattung machen wir nicht mehr“, so der Journalist. Leserstatistiken würden eindeutig zeigen, dass diese Texte auf wenig Resonanz stoßen. „Wir berichten zwar nicht klickgesteuert, aber wenn etwas auf so wenig Interesse stößt, widmen wir uns wichtigeren Dingen.“
Auch bei anderen Korrespondent*innen ist das Interesse für Quartalszahlen gering. Ein Auslandskorrespondent, der nicht mit Namen genannt werden möchte, findet die Pressearbeit deutscher Unternehmen generell zu prozessorientiert. „Diese jährliche Zwei-Stunden-Veranstaltung, bei der Bilanzen vorgelesen werden – das interessiert den gewöhnlichen Leser nicht“, sagt er. „Der will echte Nachrichten lesen – von Unternehmen, mit denen er etwas anfangen kann: Adidas, Mercedes-Benz, Aldi.“ Der Journalist kritisiert auch das Zusammengehen von PR und Marketing, das dazu führe, dass Pressemitteilungen mitunter Teil von Marketingkampagnen seien. „Ich schreibe nur über ein Produkt, wenn es etwas Größeres über die Marke aussagt.“ Es gehe um das, was ein Unternehmen anders macht als andere. Bevorzugt präsentiert er seiner Leserschaft exklusive Nachrichten. Schließlich geht es immer auch für ihn ums Geschäft.
„Wie machen die Deutschen das?“
Cécile Boutelet, die seit 2010 als Wirtschaftskorrespondentin für die französische Tageszeitung „Le Monde“ aus Berlin berichtet, besucht gerne Unternehmen, die beispielhaft für aktuelle wirtschaftliche Entwicklungen in Deutschland stehen.
Auf ihren Begegnungen vor Ort baut sie dann eine Analyse auf. Dabei beschäftigen sie zurzeit vor allem geopolitische Fragen und die Herausforderungen der Transformation in den Bereichen Energie und Technologie. „Im Moment will man vor allem wissen, wie sich die deutsche Wirtschaft transformiert“, so die Korrespondentin. „Es ist die Frage, ob genug Angebote da sind, um das deutsche Modell neu zu erfinden.“ Die neue Wirtschaft komme deutlich weniger in den Medien vor, was auch daran liege, dass die etablierten Unternehmen eine starke Lobby besitzen. „Aber sind diese großen Unternehmen wirklich so wichtig für die Zukunft Deutschlands?“, fragt Boutelet. Sie beschäftigt sich viel mit Start-ups, gerne auch im Osten Deutschlands, der ihrer Meinung nach von den Medien häufig übersehen wird.
Boutelet trägt nicht nur Vorschläge an die Redaktion heran. Auch von Paris aus werden Themen gesetzt. „Wenn in Frankreich eine große Wirtschaftsfrage aufkommt, bekomme ich oft eine Anfrage aus der Redaktion, in der es heißt: Wie machen die Deutschen das?“, sagt Boutelet. Häufig geht es dabei um gesellschaftliche Aspekte: Warum ist es in Deutschland okay, dass die Renten so niedrig sind? Wie geht man mit Migrant*innen in Unternehmen um? Wie ist es um die Gleichstellung von Mann und Frau bestellt? Viele Dinge laufen in den Nachbarländern eben unterschiedlich. Eine wichtige Erkenntnis hat Boutelet der Dieselskandal bei Volkswagen gebracht. „Da habe ich verstanden, wie wichtig die Industrie für das Selbstverständnis der Deutschen ist“, sagt sie. „Das ist etwas, was wir in Frankreich nicht immer verstehen. Mit diesem Wissen versuche ich zum Beispiel zu erklären, warum der Verbrennungsmotor hierzulande immer noch verteidigt wird – ohne das zu beurteilen.“
Die „Le Monde“-Korrespondentin würde sich mehr offene Gespräche mit den Verantwortlichen aus der Wirtschaft wünschen. „Man braucht direkte Ansprechpartner und keinen E-Mail-Austausch“, sagt sie. „Es ist immer besser, mit den Menschen zu sprechen, dann ist auch die Berichterstattung viel besser.“ Auch deutsche Ministerien antworten ihrer Erfahrung nach sehr oft schriftlich. In Frankreich laden hingegen nicht nur Ministerien, sondern auch börsennotierte Unternehmen regelmäßig zu Hintergrundformaten ein, in denen offener gesprochen wird, erklärt Boutelet. Solche Formate, wie sie hierzulande beispielsweise Bosch mit den „Kamingesprächen“ veranstaltet, hält sie gerade auch für Auslandskorrespondent*innen für wertvoll. Schließlich berichten diese meist über ein breites Themenfeld und haben daher weniger Zeit für das einzelne Unternehmen. Darum sei es für sie umso wichtiger, in regelmäßigen Abständen ein Gespräch mit Unternehmensvertretern zu führen, ohne dass gleich ein großer Beitrag erwartet wird.
Großes Interesse am Mittelstand
Hohe Erwartungen kennt auch der Korrespondent, der ungenannt bleiben möchte: „Ich treffe hier in Deutschland oft auf die Haltung: Ein Vorstandsmitglied muss wie ein Mitglied des Königshauses behandelt werden – man muss auf jeden Fall einen Fotografen zum Termin mitbringen, und der Beitrag läuft dann auf Seite eins.“ Einen solchen Obrigkeitsrespekt gebe es in vielen anderen Ländern nicht, so der Korrespondent. Seiner Meinung nach sollten PR-Verantwortliche Führungskräften mehr Freiraum lassen. „Sie sind schließlich Teil einer lebendigen Gesellschaft und nicht eines monolithischen Unternehmens, das nur dazu da ist, Geld zu verdienen. Sie haben Einfluss, sie sollten sich als Thought Leader sehen.“ In Deutschland erlebt er es jedoch oft, dass Unternehmen genau davor Angst haben und jede Art von Kommentar an die Verbände delegieren. „Das ist vielleicht auch eine Generationenfrage“, so der Korrespondent. Jüngeren Führungskräften fehlt es seinem Eindruck nach oft an Unabhängigkeit, um ihre Meinung zu sagen. Sie halten sich lieber strikt an die offizielle Sprachregelung.
Obwohl die Größe von Unternehmen für die „FT“ ein wichtiges Thema ist, schaffen es immer wieder auch kleine und mittlere Unternehmen ins Blatt. „Das Interesse am Mittelstand ist riesengroß, sowohl unter unseren Lesern als auch bei meinen Kollegen in London“, sagt „FT“-Korrespondent Storbeck. Allerdings seien Verantwortliche von mittelständischen Unternehmen häufig sehr öffentlichkeitsscheu – „vor allem gegenüber Journalisten, die nicht schon seit Ewigkeiten zu ihren Bilanzpressekonferenzen kommen“. Und natürlich müsse man über ein kleineres Unternehmen eine besondere Geschichte erzählen können, so wie die über den Verkauf großer Teile des deutschen Wärmepumpen-Herstellers Viessmann an dessen US-Konkurrenten Carrier, der ausgerechnet den Geschäftsbereich Klimalösungen übernimmt. Das ist eines dieser Themen, die über das einzelne Unternehmen hinausweisen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe #Medien. Das Heft können Sie hier bestellen.