Die Story im Kopf

Investigativjournalismus

An dieser Stelle steht in Artikeln über Kundenbetrug klassischerweise ein szenischer Einstieg. Alles dreht sich um eine Person, genauer ein Opfer. Es sitzt an einem Wohnzimmertisch und studiert Rechnungen. Dicke Ordner, Broschüren, Formulare, ein Einzelschicksal gegen den großen Konzern: Es ist die mustergültige Geschichte eines Verbrauchers, der sich durch einen Anbieter am Markt in den Ruin ­getrieben fühlt.

„Aus dem Dilemma, dass wir bevorzugt als Bösewichter dargestellt werden, werden wir nicht rauskommen“, sagt Christoph Hardt. Er leitet die Kommunikation des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) und ist es gewohnt, dass der große Versicherungskonzern neben dem kleinen Opfer schlecht wegkommt. Wenn die Branche in der Kritik steht, muss der Verband Präsenz zeigen. Hardt setzt auf das Gespräch, will „weniger konfrontativ“ sein. Bis Ende 2015 hat der GDV noch „Klarstellungen“ publiziert, eigene Fakten gegen die negativen Berichte in ­Spiegel, “Frontal 21” & Co.

Pointiert, nicht ­tendenziös

Es gibt einige Unternehmen, die sich von den Investigativformaten zu Unrecht an den Pranger gestellt fühlen. Eine Schweizer Biotech-Firma schreibt auf ihrer Facebook-Seite, die “Frontal 21”-Redaktion habe mit Absicht ein negatives Bild gezeichnet. Die Firma sei zielsicher von den verantwortlichen Redakteuren vernichtet worden, steht dort. Ein Wirtschaftsinformatikprofessor schreibt über den Beitrag von “Frontal 21” über die Samwer-Brüder, er sei interessant, aber tendenziös: „Ich konnte keine positiven Worte im Beitrag identifizieren!!!!“

Andreas Halbach ist seit elf Jahren Redakteur bei “Frontal 21”. Er habe manchmal den Eindruck, dass Unternehmen nicht wüssten, was sie von der Redaktion erwarten könnten, sagt er. „Es ist nicht unsere Aufgabe, Werbung zu machen.“ Unternehmen schlecht darzustellen, sei nicht das Ziel. Aber das Magazin deckt eben Missstände auf. „Es ist der schlimmste Vorwurf, den man einem Journalisten machen kann, tendenziös zu berichten. Wir berichten pointiert, aber nicht tendenziös. Zu einem pointierten Beitrag gehört, dass wir eine stringente Geschichte erzählen und nicht ­immer ‚ja, aber‘ sagen.“

Für ­Pressesprecher ist das „ja, aber“ wichtig: Zu einer guten Geschichte gehöre, dass man auch mal die Position der Gegenseite einnehme, meint Hardt. Doch immer wieder gibt es Vorwürfe, dass Journalisten mit einer fertigen Geschichte Unternehmen kontaktieren, um noch den passenden O-Ton zu bekommen. Hardt berichtet von einem Fall, bei dem ein Experte des GDV 30 Minuten vor der Kamera Rede und Antwort stand. Als er wiederholt auf ein Thema angesprochen wird, sagt er am Ende: „Wir haben uns dazu hinreichend geäußert.“ Die Redakteurin hakt nach: „Ist das alles, was Sie dazu zu sagen haben?“ Und der Experte entgegnet knapp: „Ja.“ Genau dieser Ausschnitt landete im Beitrag, kein Wort über die Antworten vorab – die Versicherungswirtschaft als mauernde Instanz.

Kritisch ohne ­Beißreflex

„Wenn wir als O-Ton-Geber für eine Tendenzberichterstattung herhalten müssen, ist das für uns ärgerlich“, sagt Hardt. Als Kommunikationsverantwortlicher müsse er den Experten im Haus überzeugen, sich beim nächsten Mal wieder vor die Kamera zu stellen, und entsprechend vorbereiten. Immer mehr Pressestellen trainieren ihre Mitarbeiter für den Ernstfall.

Auch ­Ulric ­Papendick kennt die Praxis. Der Direktor der Kölner Journalistenschule für Politik und Wirtschaft weiß, dass manche TV-Redaktionen versuchen, Pressesprecher mit ihren Fragen aus der Fassung zu bringen und ihre Story durchzuziehen, lehnt es aber ab: „Im Magazinjournalismus gibt es manchmal eine Tendenz dazu, sich eine These nicht zerstören zu lassen. Man muss als Journalist ­immer ­ergebnisoffen an eine Geschichte gehen. Es ist nicht schön, eine These zu verabschieden. Man muss die innere Größe und den Mut dazu haben. Alles andere wäre fahrlässig.“

Kritisch bleiben ohne Beißreflex: Papendick will seine Schüler motivieren, auch positive Aspekte darzustellen. „Es macht Sinn, dass Medien Vorbilder zeigen, an denen sich ein Unternehmen orientieren kann.“ Der Trend zum Servicejournalismus und die Debatte um konstruktiven Journalismus tragen dazu bei, dass die Stimmung insgesamt positiver werde. Doch Journalisten müssen hinter die Kulisse schauen. „Wenn sich Unternehmen an Gesetze halten, ist das für uns keine Meldung“, sagt Halbach. Und ein Wirtschaftsredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung spitzt zu: „Es ist nicht unsere Aufgabe, Jubelarien zu verfassen. Wer nur lobende Worte lesen will, kann dafür eine Anzeige schalten.“

Der Wirtschaftsjournalismus steht für die Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche im Verdacht, zu unkritisch zu sein. Zu nah an Unternehmen, zu weit von der Wahrheit: Anders als im öffentlichen Bereich gibt es im privaten keine Auskunftspflicht, Unternehmen können Informationen weitgehend steuern. Ein kritischer Kommentar ist nicht so leicht zu finden wie in der Politik, oft gibt es keine Opposition, die sich deutlich äußert. Einen „Informationsnachteil“ nennt das Papendick: „Durch die hohe Professionalisierung der Pressearbeit wird es für Unternehmen leichter, ihre Sicht der Dinge zu platzieren. Es ist die Aufgabe der Journalisten, dagegenzuhalten.“

Ein Image kritisch ­hinterfragen

Was passiert, wenn Journalisten nicht dagegenhalten, hat man bei der Bild am Sonntag gesehen: 2015 widmete sie dem Thermomix eine Seite und schrieb vom Hype über das „geile Gerät“. Zu unkritisch, urteilten viele und unterstellten der Zeitung Schleichwerbung. „Das ist keine Schleichwerbung. Es gibt dieses Phänomen, der Autor hat es lustig beschrieben. Das muss möglich sein“, schrieb Chefredakteurin ­Marion Horn auf Twitter.

Markenphänomene beschreibt auch der “Markencheck” der ARD. Das Format ist ein Quotenhit und läuft seit 2012 zur Primetime im Ersten. Im Oktober startet die neue Staffel. Die Redaktion sucht für den Check Marken, die für den Alltag der Zuschauer eine große Relevanz haben. Aspekte einer Marke gebe es viele, die Redaktion wähle schlichtweg die spannendsten: „Wir filtern nicht nach positiv und negativ. Wir suchen die Geschichten, die für Verbraucher am interessantesten und wichtigsten sind“, sagt Eva Lindenau, stellvertretende Leiterin der WDR-Wirtschaftsredaktion Fernsehen und seit 2016 verantwortlich für den “Markencheck”. Angst davor, zu kritisch oder zu positiv zu sein, habe sie nicht, die Redaktion wolle als Anwalt der Verbraucher ergebnis­offen an die Recherche gehen und Antworten auf Fragen geben, die sich Verbraucher stellen.

Im Durchschnitt sechs Monate recherchiert das Team für einen Check. Lindenau betont, wie wichtig der faire Umgang mit Unternehmen sei, dass die Redaktion sie vorab informiere, die Möglichkeit zur Stellungnahme einräume und Urteile gewissenhaft prüfe. Während Unternehmen ein Image kreieren, ist es die Aufgabe der Journalisten, es zu hinterfragen. Dass nicht alle Unternehmen mit dem Ergebnis zufrieden seien, liege in der Natur der Sache, sagt Lindenau: „Ein Unternehmen schaut sich genau an, welche Aspekte vermeintlich positiv oder negativ wirken können. Der Zuschauer möchte etwas Interessantes, Neues, Hintergründiges über eine große Marke erfahren.“

Rede und Antwort ­stehen

Mario Köpers vertritt eine solch große Marke, die 2013 im ARD-Markencheck stand. Der Kommunikationsleiter von Tui Deutschland wehrte sich gegen die Ergebnisse. Der Beitrag sei durch und durch tendenziös, die Redaktion habe offenkundig lange nach negativen Beispielen suchen müssen, mit einer fairen Berichterstattung habe das nichts zu tun, schrieb er auf der Tui-Webseite. Die Redakteure hätten ihm in den Gesprächen signalisiert, dass Tui in der Kategorie Qualität herausragend sei, am Ende ist nur ein „ordentlich“ rausgekommen. „Ich habe mich über den Tisch gezogen gefühlt. So ein Vorfall bestätigt nur den Eindruck, dass bei wirtschaftskritischen Magazinen die Geschichte schon vorab feststeht“, sagt er heute.

Seine öffentliche Kritik hat Tui nach eigener Einschätzung genutzt. Er würde es wieder so machen, sagt Köpers, nur weniger hart formulieren, und sich für einen neuen Markencheck auch wieder vor die Kamera stellen. 45 Minuten Sendezeit ermöglichen ihm ein „ja, aber“, wohingegen acht Minuten mehr zuspitzen. Er habe eher schlechte Erfahrungen mit Investigativmagazinen gemacht, sagt er. Stellungnahmen für solche Formate gibt Tui nur noch schriftlich ab. „Mit einem O-Ton von 30 Sekunden können Sie in dem Kontext keine vernünftige Stellungnahme rüberbringen. Nichts, was den Tenor der Berichterstattung erschüttern könnte, wird jemals gesendet werden.“

Die Redaktionen sollten Unternehmenssprechern mehr Platz in der Berichterstattung einräumen, fordert Köpers, und „zulassen, dass die Kernthese ihres Beitrags auch mal in Frage gestellt wird“. Köpers fühlt sich in guter Gesellschaft, immer mehr Unternehmen würden sich den Interviews mit Investigativmagazinen entziehen. Für Journalisten wie den “Frontal 21”-Redakteur Andreas Halbach ist das ärgerlich. „Wenn Pressesprecher darauf pochen, dass wir fair berichten, müssen sie uns auch eine Chance dazu geben“, sagt er. „Pressesprecher sind oft erfahrene Journalisten, die sich ihren Job sehr gut bezahlen lassen. Dann sollen sie ihn auch richtig machen. Dazu gehört, dass man sich auch mal in die Mangel nehmen lässt. Professionelle Pressestellen stehen auch harten Fragen Rede und Antwort.“

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe EHRLICHKEIT. Das Heft können Sie hier bestellen.

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