KI-Hype und Reporterglück im Silicon Valley

Künstliche Intelligenz

Nach ChatGPT bringt Google eine Suche mit künstlicher Intelligenz an den Start. Meta liebäugelt auch mit dem KI-Hype: Ist KI das beherrschende Thema im Silicon Valley?

Definitiv. Als ich Anfang 2022 hier angekommen bin, herrschte jedoch eher eine große Sinnkrise. Es gab zahlreiche Entlassungen, die Börsenkurse sind eingebrochen – und nun ist KI das allbestimmende Thema. Alle Unternehmen schauen, wie sie KI und insbesondere die großen Sprachmodelle in ihre Produkte integrieren können. Und wie sich neue Produkte auf Basis dieser Modelle bauen lassen. Es herrscht absolute Goldgräberstimmung. Wir sind mitten in einem großen technologischen Umbruch, den ich in meiner gesamten journalistischen Laufbahn so noch nicht erlebt habe. Es ist großes Reporterglück, genau in diesem Moment mitten im Geschehen zu sein.

Welche Rolle spielen Start-ups im Schatten der großen Tech-Konzerne?

Sie spielen eine sehr prominente Rolle – insbesondere jetzt im Zusammenhang mit dem stärkeren Fokus auf KI. Das Unternehmen, das den ganzen Boom mit angestoßen hat, ist Open AI – ein kleines Start-up. Mit gut 200 Leuten und der Partnerschaft mit Microsoft hat das Unternehmen dieses System auf die Beine gestellt. Selbst die große Microsoft-Forschungsabteilung mit 1500 Leuten war dann schon überrascht, dass Open AI ein System dieser Qualität auf die Beine gestellt hat. Es findet gerade eine Machtverschiebung statt. Die großen etablierten Spieler waren es gewohnt, ihren Bereich zu dominieren. Jetzt geraten sie unter Druck.

Wie werden Sie auf spannende Tech-Themen aufmerksam?

Im Moment werden wir überschüttet mit Ankündigungen und Themenangeboten von Firmen und PR-Agenturen. Es ist schwierig, in dieser Fülle etwas Sinnvolles auszuwählen. Bei mir geht vieles über Hinweise von Menschen, mit denen ich persönlich spreche. Oder: Manchmal klingt etwas, das bei mir im Postfach landet, spannend und ich frage jemanden nach einer Einschätzung, ob etwas Interessantes dahintersteckt und es sich lohnt, mehr Zeit darauf zu verwenden.

Stephan Scheuer © Max Brunnert
Stephan Scheuer © Max Brunnert

Warum erhalten Sie derzeit besonders viele Angebote?

Es waren immer schon viele, aber jetzt nimmt es rasant zu. Ich denke, durch die KI-Sprachmodelle wird es bald noch mehr sein. Ich glaube, da wird auch viel mit ChatGPT generiert. Aber trotz der Fülle an Informationen gibt es überall auch etwas Faszinierendes. Ich fühle mich gerade schon wie ein kleines Kind im Süßigkeitenladen.

Wie informieren Sie sich selbst über aktuelle Trends und Entwicklungen?

Ich nutze eine Reihe an Medien-Abos und Datenbanken. Außerdem Alerts zu verschiedenen Themen und zahlreiche Newsletter. Was im Silicon Valley wirklich gut funktioniert, ist persönlicher Austausch. Ich habe den Eindruck, dass der Zugang – auch zu hochkarätigen Leuten – hier viel einfacher ist als in Deutschland oder China, wo ich vorher gearbeitet habe. Es ist etwas ganz Normales, jemanden einfach auf einen Kaffee oder zum Mittagessen zu treffen. Und daraus ergeben sich weitere spannende Anknüpfungspunkte und Kontakte.

Wie kommen Sie an Insiderinformationen?

Die wichtigsten Quellen sind diejenigen, die ich zum Kaffee oder zufällig treffe und persönliche kenne. Im Silicon Valley tragen viele Patagonia-Outdoorjacken mit dem Firmenlogo ihres Arbeitgebers – sei es Meta, Google oder Salesforce. Wenn man zum Beispiel mit anderen Eltern zusammen auf dem Spielplatz steht, kommt man mit ihnen schnell ins Gespräch. Es ist eine totale Blase. Die meisten Leute arbeiten bei einem dieser Unternehmen. So hört man, was in einer Firma gerade passiert. Als es bei Meta seinerzeit die erste Entlassungswelle gab, war intern relativ früh bekannt, dass es nicht die letzte sein würde. Bei einer offiziellen Anfrage an die Pressestelle kommt dann natürlich nichts.

Wie finden Sie die Öffentlichkeitsarbeit von Unternehmen im Silicon Valley?

Es gibt eine große Bandbreite. Eine Reihe von jungen oder auch etablierten und größeren Unternehmen machen eine intensive und sehr gute Pressearbeit. Google ist ein Konzern, der traditionell sehr offen ist, mit vielen Bezugs- und Zugangspunkten. Microsoft ist ebenso offen. Die Skala geht immer weiter bis zu Unternehmen, die fast keine Informationen nach außen geben. Der absolute Extremfall ist Twitter seit der Übernahme durch Elon Musk. Wer eine Presseanfrage schickt, erhält automatisiert ein Kothaufen-Emoji als Antwort. Seitdem Musk das Presseteam aufgelöst hat, habe ich keine Rückmeldung auf meine Anfragen bekommen. Das war früher bei Twitter völlig anders.

Was unterscheidet die Arbeit mit amerikanischen Pressestellen von der mit deutschen Pressestellen?

Ein ganz banaler Unterschied: Deutsche Firmen kennen das „Handelsblatt“. Für eine amerikanische Pressestelle sind wir zunächst irgendein Medium aus Deutschland. Dann braucht es ein wenig Erklärung, wer wir sind, damit die Verantwortlichen einsortieren können, wie mit uns als Medium umzugehen ist. Viele der größeren Unternehmen haben jedoch auch Pressestellen in Deutschland. Meine Erfahrung ist, ähnlich wie damals bei den großen chinesischen Tech-Unternehmen: Diese sind relativ weit weg vom eigentlichen Geschehen. Wenn etwas vor Ort passiert, ist es immer besser, den direkten Kontakt zu der Pressestelle in den USA zu haben. Im Zweifelsfall rede ich mit den Leuten in Deutschland und mit denen in San Francisco.

Und im direkten Kontakt gibt es gravierende Unterschiede?

Die Vertreter von amerikanischen oder britischen Unternehmen sind viel souveräner im Umgang mit Journalisten als Vertreter von deutschen Firmen. In Deutschland haben Pressestellen oft eine Schutzfunktion. Mir ist es häufig passiert, dass ein Pressesprecher in ein Interview reingegrätscht ist. Das habe ich in den USA noch nie erlebt. Hier wählt die Pressestelle aus, mit wem ein solches Gespräch geführt wird, und schult die Interviewpersonen im Vorfeld. Sie sind sich auch hundertprozentig darüber im Klaren, dass das Gesagte in die Geschichte einfließen kann. Und sie wissen auch, was sie nicht sagen. Ich habe den Eindruck, dass es in Deutschland eine viel größere Unsicherheit gibt.

Welchen Zugang zu Pressekonferenzen und -informationen erhalten Journalisten aus Deutschland?

Deutschland ist für viele der Tech-Unternehmen ein wichtiger Markt. Meist werden zwar erst die amerikanischen Medien bedient, danach haben wir als europäisches Medium aber eine Chance. Die Sprache spielt dabei eine große Rolle. Die „New York Times“ ist ein amerikanisches Medienhaus und spricht aufgrund der englischen Sprache ein globales Publikum an. Deutschsprachige Medien produzieren erst mal für ein deutschsprachiges Publikum. Das ist in der Kalkulation eines Unternehmens eine Unterscheidung.

Welche deutschen Unternehmen werden im Silicon Valley ernst genommen?

In einer ganzen Reihe von Bereichen spielt Deutschland eine wichtige Rolle. Zum Beispiel im Automobilbereich haben die deutschen Autobauer eine besondere Funktion. Bosch ist ein wichtiger Industriekonzern. In dem ganzen B2B-Bereich ist Deutschland auch wichtig. Was KI betrifft, gibt es zwar ein paar KI-Start-ups in Europa, aber in den einschlägigen Listen tauchen sie sehr selten auf. In dem Bereich müssen Deutschland und Europa noch ordentlich nachlegen.

Wie ist generell der Blick von den USA auf Deutschland in Bezug auf Wirtschaft?

Die USA beschäftigen sich gerade sehr mit sich selbst in Hinblick auf die Wirtschaftslage. Alle laufen sich warm für den Präsidentschaftswahlkampf. Da ist nicht nur Deutschland eine Randnotiz, sondern Europa insgesamt. Die Amerikaner sind überrascht, dass es der amerikanischen Wirtschaft so gut geht. Es gibt nahezu Vollbeschäftigung. Im Zweifel kommen die Leute in anderen Bereichen unter. Der US-Wirtschaft scheint es im Moment extrem gut zu gehen. Die ganzen Sorgen um die langfristigen Auswirkungen der Corona-Pandemie haben sich bislang nicht bewahrheitet.

Die Tech-Unternehmen gelten als Vorreiter für New Work. Wie arbeitet man im Silicon Valley?

Bei den Themen wie hybrides Arbeiten und Homeoffice waren die Firmen am Anfang sehr weit vorne. Nicht nur weil sie gesagt haben, so sieht die Arbeit der Zukunft aus. Sondern auch weil sie selbst die Werkzeuge bereitgestellt haben, um von zu Hause aus zu arbeiten. Trotzdem erleben wir jetzt, dass die US-Tech-Konzerne viel restriktiver sind, was eine Büropflicht betrifft, als ich es von den Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland höre. In Deutschland wird gesagt: „Kommt doch bitte zurück ins Büro!“ Es werden Anreize geschaffen, Vorteile gezeigt. In San Francisco ist es so, dass Angestellte an bestimmten Tagen im Büro sein müssen. Teilweise gelten die Anwesenheitstage nicht nur für ein einzelnes Team, sondern für das gesamte Unternehmen.

Was läuft abgesehen von Homeoffice und Mobile Work noch anders im Silicon Valley?

Die Unternehmen sind gut darin, nach außen zu verkaufen, dass es bei ihnen ganz anders läuft. Bei Firmen, die von sich selbst behaupten, in flachen Hierarchien zu arbeiten, trügt der Anschein bei genauerer Betrachtung. Nicht alles, was als innovative Konzepte des Arbeitens verkauft wird, ist in der Praxis unbedingt der Fall. Ein großer Unterschied zu Deutschland sind zudem die insgesamt viel höheren Gehälter. Das gilt ganz besonders für den Tech-Sektor. Im Bundesstaat Kalifornien gibt es eine hohe Transparenzpflicht für das Offenlegen von Gehältern. So wissen wir, dass das Medianeinkommen bei Google und Facebook bei 300.000 Dollar liegt. Die Leute wollen gerne viel Geld verdienen und arbeiten dafür hart. Ganz oft steckt die Idee an, umgeben zu sein von brillanten Leuten. Das Silicon Valley insgesamt hat es geschafft, ein besonderes Umfeld zu kreieren, von dem man unmittelbar profitieren kann. Aber es greift oft zu kurz, wenn man denkt, man stellt einen Kickertisch auf und ist ein innovatives Unternehmen. Auf dieser Ebene bleibt es oft stecken, wenn Firmen aus Deutschland darauf schauen, was Google macht.

Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus?

Morgens um sechs Uhr geht es normalerweise los. Ich checke meine E-Mails und Kanäle wie Slack. Die ersten Stunden sind oft geprägt von Absprachen mit Europa. Sowohl intern mit Kolleginnen und Kollegen, aber eben auch mit den Pressestellen der US-Tech-Unternehmen, die in Europa sitzen. Am Vormittag gehen die normalen Recherchen los. Ich besuche Konferenzen, die anstehen. Nachmittags treffe ich mich oft mit Insidern oder Experten für Gespräche oder Interviews. Häufig sind dies Sachen, die später in Artikel einfließen, à la „Eine Quelle aus dem Umfeld von XY sagte“ oder „Aus Branchenkreisen ist bekannt, dass“. Wenn etwas über eine Pressestelle geht, ist es ein anderes Setting. Man trifft sich in einem Büro mit einem CEO oder Vorstand für ein Interview mit abgegrenztem Rahmen. Das ist allerdings nur ein kleiner Teil von den Gesprächen, die laufen.

Stephan Scheuer (38) arbeitet für das „Handelsblatt“ im Silicon Valley bei San Francisco. Zuvor war der Journalist fünf Jahre China-Korrespondent in Peking und leitete dann das Technologie-Team in der Zentrale in Düsseldorf. Über die chinesische Tech-Industrie hat er ein Buch geschrieben: „Der Masterplan – Chinas Weg zur Hightech-Weltherrschaft“. Er hat Internationale Beziehungen in Berlin, London und Peking studiert sowie ein Volontariat bei der dpa in Frankfurt am Main absolviert.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe #Medien. Das Heft können Sie hier bestellen.

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