Hoffen auf die Titelseite

Krankenkassen

„Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.“ Das soll der britische Staatsmann Winston Churchill einmal gesagt haben. Wie bei so vielen geflügelten Worten ist diese Zuschreibung zwar nicht verbrieft. Aber der Spruch hat sich doch bei vielen Menschen festgesetzt: Mit der richtigen Statistik lässt sich alles beweisen.

Solcher Zynismus dürfte Rüdiger Scharf fremd sein. Er ist Pressesprecher und Leiter des Bereichs Public Relations bei Deutschlands ältester Krankenkasse DAK-Gesundheit, deren Geschichte bis 1774 zurückreicht. Seine zentrale Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die DAK in der öffentlichen Debatte und in den Medien vorkommt. Aber nicht irgendwie: „Wir wollen natürlich eine hohe Reichweite erzielen, aber wir wollen auch die Reputation der DAK sichern und stärken.“ Und dabei spielen Statistiken, Daten, Umfragen und Studien eine wichtige Rolle. Beispiel: Ende Mai, als die DAK-Gesundheit ihren jährlichen Kinder- und Jugendreport herausbrachte. Eine deutliche Zunahme an Depressionen und Übergewicht habe es gegeben. Die Ergebnisse und ihr Bezug zu den Coronamaßnahmen des Vorjahres fanden einige Beachtung. „Bild“ berichtete groß. Der WDR, die „Tagesschau“ und auch die „FAZ“ zählten zu den Medien, die das Thema aufgriffen. Die Situation der Kinder und Jugendlichen bewegt nicht nur Eltern. „Die andere Pandemie“, schrieb die „Süddeutsche Zeitung“.

Rüdiger Scharf ist seit 20 Jahren bei der DAK. 2016 wurde seine Abteilung als Pressestelle des Jahres ausgezeichnet. © DAK Gesundheit
<sup>Rüdiger Scharf ist seit 20 Jahren bei der DAK 2016 wurde seine Abteilung als Pressestelle des Jahres ausgezeichnet © DAK Gesundheit<sup>

So wie der DAK geht es allen Krankenkassen in Deutschland. Spätestens seit der Verabschiedung des Gesundheitsstrukturgesetzes in den Neunzigern und der damit eingeläuteten freien Krankenkassenwahl konkurrieren sie um jeden Versicherten. Doch auf einem Markt, auf dem die verschiedenen Marken und Unternehmen eher wenig Emotionen auslösen, die Leistungen sich ähneln, ist es gar nicht so einfach, herauszustechen. Eine Krankenversicherung als Produkt ist nicht sexy. Deswegen versuchen die Kassen vor allem, mit Expertise zu glänzen. Nahezu im Wochentakt veröffentlichen sie Studien und Umfragen zu Gesundheitsthemen. Es gibt Suchtreporte, Arzneimittelreporte, Urlaubsreporte, Zahnreporte, Fehlzeitenreporte. Häufig basieren diese auf den Daten der Krankenkassen. Es geht also darum, aus den über die eigenen Mitglieder verfügbaren Informationen relevante Themen zu entwickeln. So sollen potenzielle Kunden aufmerksam gemacht, aber auch politische Standpunkte in die Debatte eingebracht ­werden.

Aber handelt es sich bei der Masse an Reports und Studien um eine für alle Seiten hilfreiche Informationsoffensive? Oder eher um eine Gesundheitsdaten-Kakofonie, mit der am Ende niemandem gedient ist? Die Kassen glauben an die positive Wirkung der Studien, sowohl wenn es darum geht, die eigene Marke zu stärken, als auch wenn die gesundheitspolitische Agenda mit gesetzt werden soll. Wie durchschlagend diese Wirkung ist, darüber gibt es Diskussionen.

Vergleich mit der Konkurrenz

Rüdiger Scharf verweist zunächst auf die große Medienpräsenz der DAK-Gesundheit, gerade wenn man die Größe der Kasse betrachte. „Wir haben einen Marktanteil von acht bis neun Prozent, die AOK und die Techniker sind zum Beispiel deutlich größer“, sagt er. Bei Medienerwähnungen der Kassen habe die DAK aber einen deutlich höheren Anteil. „Und dafür sorgen vor allem selbstinitiierte Beiträge, zum Beispiel über Studienveröffentlichungen.“

Diese Studien sind unerlässlich, um in die Medien zu kommen. Das sehen auch andere Institute so. „Gut laufen vor allem Themen mit aktuellem Bezug und repräsentativer Methodik“, sagt Kai Behrens, Sprecher des AOK-Bundesverbandes. Über diesen organisieren sich auf Bundesebene die elf Allgemeinen Ortskassen, bei denen über 27 Millionen Personen versichert sind. „Gerade in der Coronapandemie konnte man das sehen. Wir haben zum Beispiel in dieser Zeit mehrere Erhebungen über die schwankenden Fallzahlen und die Versorgung von Coronapatienten in den Krankenhäusern gemacht“, erklärt er. Auch Daniel Freudenreich, Pressesprecher der Barmer Ersatzkasse, betont, dass Studien am besten laufen, wenn sie den Geist der Zeit treffen. „Eine der erfolgreichsten Studien der Barmer war zum Beispiel der Arzneimittelreport 2019 zu Kinderschutzimpfungen, als die Masernimpfpflicht öffentlich politisch und medial kontrovers diskutiert wurde“, erinnert er sich.

Die aktuelle Nachrichtenlage kann aber auch ein Hindernis sein. Für ihn sei zum Beispiel die klassische Pressekonferenz immer noch das Mittel der Wahl, wenn er dem Nachrichtenwert vertraue, sagt AOK-Mann Behrens. „Wenn die Themenkonjunktur im Umfeld des PK-Tages aber in eine andere Richtung drehe, wird es schwieriger.“

Das betont auch Rüdiger Scharf von der DAK: „Wenn an dem Tag der Bundeskanzler nach Kiew reist, kann das Thema noch so gut sein, die Titelseite bekomme ich dann natürlich nicht.“  Welches Medium für die Ausspielung am wichtigsten ist, hänge auch von der Zielgruppe ab. „Wenn ich mit einem Thema besonders viele Menschen erreichen möchte, dann sind vor allem die reichweitenstarken Online-Medien wichtig, also ‚Spiegel‘, ‚T-Online‘ und ‚Bild‘“, sagt er. Gegebenenfalls spiele die DAK dann ein Thema auch exklusiv bei einem dieser Anbieter.

Welcher sich dafür eignet, hängt wiederum davon ab, welches Zielpublikum man erreichen will. Soll die breite Bevölkerung ein Thema auf den Schirm bekommen, ist natürlich die reichweitenstarke „Bild“-Zeitung nach wie vor eine passende Anlaufstelle. Für die politischen Kreise wiederum sind es eher Leitmedien, die gut durch einen Exklusivdeal mit den Nachrichtenagenturen auf ein Thema aufmerksam werden.

Die lokale Ebene

Auch die regionalisierte Aufbereitung von Daten kann Aufmerksamkeit generieren. Denn diese hilft dabei, in den Regional- und Lokalmedien zu landen. Was reichweitentechnisch durchaus interessant ist, denn laut Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) stehen den sechs überregionalen Tageszeitungen hierzulande 307 lokale und regionale Abonnementzeitungen gegenüber, die nach wie vor auf eine Auflage von knapp zehn Millionen kommen. „Mit regionalen Daten kann der Erfolg einer Studie stehen und fallen“, meint Freudenreich.

Kai Behrens betont den Wert der regionalisierten Daten besonders für die AOKs. „Unsere Kassen nehmen diese natürlich gerne auf, um Aufmerksamkeit für ein Thema vor Ort zu generieren.“ So könnten auch regionale Probleme deutlich gemacht werden. „Wenn zum Beispiel viel mehr Volkskrankheiten in Sachsen-Anhalt als im bayerischen Allgäu nachgewiesen werden können, so können diese Daten sowohl für die AOK Sachsen-Anhalt als auch für die AOK Bayern ein spannender Aufhänger sein.“ Eine zu kleinteilige Aufschlüsselung kann allerdings auch Risiken bergen, bei zu kleinen Stichproben können Zufallsschwankungen Ergebnisse verzerren. Das ist den Krankenkassen bewusst, eine zu kleinteilige Aufbereitung kann die Belastbarkeit der Studien beschädigen.

Die Herangehensweise der Krankenkassen: Daten anschaulich in Infografiken ­aufbereiten. Häufig weisen die Kassen Daten regional aus. © DAK Gesundheit
<sup>Die Herangehensweise der Krankenkassen Daten anschaulich in Infografiken ­aufbereiten Häufig weisen die Kassen Daten regional aus © AOK<sup>

Und das kann gefährlich sein, gerade dann, wenn das Material an die gründlich arbeitenden Nachrichtenagenturen wie „dpa“, AFP und Co. ausgespielt wird. Greifen diese ein Thema auf, ist eine große Resonanz sehr wahrscheinlich. Dafür müsse das Material aber hochprofessionell präsentiert werden, betont Barmer-Sprecher Freudenreich. Hilfreich ist es, wenn die Daten grafisch präsentiert werden und ein Problem beziehungsweise eine Entwicklung verdeutlichen. Entsprechend sollten Studien einen Datenvergleich über mehrere Jahre zulassen: Hat sich eine Situation verbessert oder verschlechtert? Gibt es in unterschiedlichen Regionen verschiedene Entwicklungen? Dabei hilft die Aufschlüsselung auf einzelne Bundesländer. Natürlich müssten die Daten belastbar sein. Freudenreich: „Eine Analyse, die sich als ‚Mogelpackung‘ oder ‚heiße Luft‘ entpuppt, würde den Journalisten rasch auffallen und könnte dem Renommee der Barmer nachhaltig schaden.“

Patentrezepte sind all diese Maßnahmen nicht. „Für mich ist eine Sache ganz wichtig: Journalismus ist kein Automat“, sagt Scharf. „Nicht jedes PR-Rezept, das wir entwickelt haben, funktioniert immer.“ Dann sei es wichtig, nicht beleidigt zu sein, sondern in den offenen Austausch mit den Medien zu treten, um herauszufinden, woran es gelegen hat. „Man muss sich auch klarmachen, dass verspielte Marketingtechniken bei Journalisten selten funktionieren“, sagt Kai Behrens. Ohne harten Nachrichtenwert würden diese auf Themenvorschläge eher nicht reagieren.

Wie sie in die Medien kommen, haben Krankenkassen also mittlerweile herausgefunden. Nur: Bringt das wirklich viel für ihr Image? Sören Schiller arbeitet seit 20 Jahren am Institut für angewandte Marketing- und Kommunikationsforschung (IMK) mit Krankenkassen zusammen, er hat auch untersucht, wie diese ihre Marke stärken können. „Etwa die Hälfte der Versicherten bilden sich ihre Meinung durch direkte Kontakte mit der Kasse“, sagt er, also durch Gespräche mit Service-Mitarbeitern oder Sachbearbeitern. „Die andere Hälfte geht selten zum Arzt und bildet sich ihre Meinung durch Informationen von Dritten, also entweder aus dem sozialen Umfeld oder eben über die Kommunikation“, sagt er.

Ein zunächst eher ernüchterndes Ergebnis. Allerdings sieht Schiller durchaus Mehrwert in einer gut geplanten und exekutierten Kommunikationsstrategie. „Eine gut gemachte Kampagne beeinflusst die Menschen schon.“ Auch der Versuch, sich inhaltlich von anderen Kassen abzugrenzen, sei empfehlenswert. „Krankenkassen sollten sich unbedingt profilieren, etwa als Familienkasse, als Präventionskasse oder als die digitale Kasse“, meint Schiller. „Die Leute brauchen ja einen Grund, warum sie zu einer bestimmten Kasse gehen sollten.“

Diesen Punkt sehen auch die Kommunikationsköpfe der Krankenkassen so. Rüdiger Scharf warnt vor Spontanfeuerwerken in der Kommunikation. „Wir gehen Themen nachhaltig an“, sagt er. Das Thema Sucht etwa habe man seit mehr als zehn Jahren im Fokus, mit entsprechenden Reports und der jährlichen Kampagne „bunt statt blau“. „So werden wir auch zum dauerhaft gefragten Ansprechpartner für Medien und Politik, wenn es um das Thema Alkoholmissbrauch bei Jugendlichen geht“, sagt er.

Und so ziehe man auch die Aufmerksamkeit der Politik auf sich. „Ein weiteres wichtiges Thema für die DAK-Gesundheit ist das Thema Pflege“, erklärt Scharf. Doch sei bei der Pflegereform des früheren Gesundheitsministers Jens Spahn das Pflegegeld vergessen worden. „Wir haben dies über eine Studie und eine exklusive ‚dpa‘-Nachricht in die politische Debatte gebracht. Und im Koalitionsvertrag der Ampel wurde darauf reagiert“, erinnert er sich.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe #AgendaSetting. Das Heft können Sie hier bestellen.

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