Wenn im Silicon Valley vom „Tech-Nostradamus“ die Rede ist, dann geht es nicht um einen der vielen Unternehmensgründer und Firmenchefs, die im US-amerikanischen Bundesstaat Kalifornien residieren und dort an der Zukunft der Welt werkeln.
Stattdessen ist der inoffizielle Titel für den Schriftsteller Neal Stephenson reserviert. Der Science-Fiction-Autor habe im Laufe seiner Karriere eine ganze Reihe von Innovationen beschrieben, lange bevor sie Realität wurden. Der Mann selbst nahm diesen Titel mit einem Augenzwinkern an. Denn ähnlich wie der Apotheker Nostradamus aus dem 16. Jahrhundert schreibe er verrückte Geschichten, in die Leute viele Jahre später hereininterpretieren könnten, was sie wollten.
Aber auch Stephenson kann sich seiner Reputation als Prophet nicht entziehen, wenn einer der prominentesten Unternehmer der Welt ein Konzept von ihm aufgreift und erklärt, dass dies nun das nächste große Ding sei. So geschehen am 21. Oktober 2021, als Facebook-Chef Mark Zuckerberg erklärte, dass seine Firma ab sofort Meta heißen und sich vorrangig der Entwicklung eines Metaverses widmen werde. Dabei handelt es sich – so zumindest Zuckerbergs Idee – um eine allumfassende virtuelle Welt, dreidimensional dargestellt und für jeden Menschen erreichbar, zum Beispiel per Virtual-Reality-Brille. Genau ein solches Konzept hatte Stephenson 1992 in seinem Buch „Snow Crash“ beschrieben.
Ziemlich genau 30 Jahre später soll diese Idee nun Realität werden. Und die Hoffnungen sind groß seit Zuckerbergs viraler Rebranding-Rede. Vom „Web 3.0“ sprechen die Ersten. Der Markt für Produkte rund um das Metaverse soll 2030 bereits ein Volumen von knapp 680 Milliarden US-Dollar haben. Bloomberg Professional Services sieht sogar ein Potenzial für 800 Milliarden US-Dollar. Und so, wie das Web 2.0 mit seinen sozialen Netzwerken die Kommunikation zwischen Menschen, Marken und Unternehmen grundlegend verändert hat, bedeutet auch das Metaverse eine Umwälzung in der Kommunikationswelt. Längst beschäftigen sich Unternehmen verschiedenster Branchen mit der Frage, wie sie diese Technologie nutzen können, um sich und ihre Produkte zu präsentieren. Noch steht die Entwicklung am Anfang. Den Hype von der Substanz zu trennen, ist aktuell schwer.
Einer, der den Hype fast schon vorhergesehen hat, ist Michael Wingendorf. Er leitet die Bereiche Product Development und New Business bei der Looping Group. Bereits Anfang März hat die Münchener Agentur ihre eigene Metaverse-Lösung präsentiert, mit der Unternehmen künftig kommunizieren sollen. Eine schnelle Reaktion auf den zuckerbergschen Hype sei das aber nicht gewesen, sagt Wingendorf: „Wir sind durch reine Neugier und zugegebenermaßen auch ein bisschen durch Zufall bereits vor der Rede auf das Thema gestoßen und haben deshalb frühzeitig an etwas gearbeitet.“ Die Looping Group tat sich mit einer Videospielefirma zusammen, um die hauseigene Metaverse-Lösung zu bauen. „Die hatten dort Spieleentwickler im Haus, die uns die 3D-Umgebung bauen konnten“, sagt Wingendorf.
Alles total spielerisch
Tatsächlich ist es vor allem die Videospielindustrie, die beim Thema Metaverse bereits ihre ersten Schritte gemacht hat. Populäre Angebote wie der Shooter „Fortnite“ oder die Spieleplattform „Roblox“ bieten schon seit Jahren virtuelle Welten, in denen sich die Nutzer relativ frei bewegen können, ihre Avatare miteinander interagieren und Events abhalten können. Innerhalb des Fortnite-Universums gaben zum Beispiel bereits der US-amerikanische DJ Marshmello und der Rapper Travis Scott virtuelle Konzerte. Musiker und Sportler wie der Basketballer LeBron James kooperierten mit dem Fortnite-Verleger Epic Games. Dem brachte das Spiel im Jahr 2020 über fünf Milliarden US-Dollar ein.
Carina Hauswald kam auch über die Videospiele zum Metaverse. „Mein Bruder, der begeistert spielt, hat mich da eingeführt“, erinnert sich Hauswald. Sie ist Managing Partner bei der Marken- und Kommunikationsberatung GlobeOne. „Als ich gesehen habe, welches Potenzial in diesen Plattformen steckt, hatte ich das Gefühl, zu spät auf einen Trend gestoßen zu sein. Das darf eigentlich nicht passieren.“ Sie arbeitete sich also ein. Ihr Fazit: „Wenn alles tatsächlich so kommt wie momentan vermutet, wird das die Aufgabe von Kommunikatoren so grundlegend verändern wie zuletzt Social Media.“
Theoretisch könnte die komplette Kommunikation künftig im Metaverse stattfinden. Pressekonferenzen, Firmenevents, Präsentationen: Niemand trifft sich mehr persönlich, der Kontakt findet nur virtuell statt. Spätestens seit Corona ist das nicht mehr unvorstellbar. Im Prinzip wäre es nur die nächste Evolution der Videokonferenzen. Auch der Austausch mit den Kunden wird noch direkter. Diese könnten im virtuellen Raum mit den Produkten und Verantwortlichen interagieren. Sollten vermehrt Menschen das Metaverse tatsächlich nutzen, wäre es sowieso unumgänglich, dort als Kommunikationsabteilung Präsenz zu zeigen. Genauso wie es sich heute niemand mehr leisten kann, Social-Media-Plattformen zu ignorieren.
Zu den Unternehmen, die bereits den Vorstoß in die neue Welt wagten, zählen Modemarken und Technologieunternehmen. Die Deutsche Telekom veranstaltete mit Telekom Electronic Beats das digitale Club-Erlebnis „Beatland“ auf der Online-Plattform Roblox. Der bekannte DJ Boris Brejcha spielte mehrere Sets in einem virtuellen Club. Ende März startete die erste Metaverse Fashion Week auf der Plattform Decentraland. Mit dabei waren unter anderem Dolce & Gabbana, Etro und Perry Ellis.
„Produktpräsentationen kann man sehr gut in Metaverse-Showrooms abbilden“, meint auch Looping-Manager Michael Wingendorf. „Gerade Luxus- und Automotivmarken sind sehr an solchen Angeboten interessiert.“ Dies sei auch eine der am einfachsten umzusetzenden Aufgaben. Einen Showroom könnten die Programmierer von Looping mit vier bis acht Wochen Vorlaufzeit designen und implementieren. „Der nächste Schritt ist dann eine Plattform, auf der die User nicht nur etwas betrachten, sondern auch miteinander interagieren können“, sagt Wingendorf. „So können Unternehmen zum Beispiel Umfragen unter ihren Kunden durchführen.“
Verbesserungswürdige Grafik
Wer sich allerdings die aktuell verfügbaren digitalen Events anschaut, etwa die Laufstegshows der Modehäuser, wird wahrscheinlich noch von der Darstellung enttäuscht sein. Avatare in den verschiedenen Metaverse-Angeboten sehen oft noch aus wie Figuren aus Videospielen Anfang der Zweitausenderjahre. Fotorealismus ist weit entfernt; wer in den letzten zehn Jahren einmal ein Computerspiel angeschmissen hat, dürfte von den grafischen Möglichkeiten enttäuscht sein.
Das ist derzeit noch einer der größten Kritikpunkte am Metaverse: Die technologische Umsetzbarkeit halten viele Experten heute noch nicht für gegeben, zumindest wenn es um die luftigen Versprechen Zuckerbergs geht. „Für ein wirklich persistentes und immersives Computing im großen Maßstab, auf das Milliarden von Menschen in Echtzeit zugreifen können, ist noch mehr erforderlich: eine Steigerung der Rechenleistung um das 1.000-fache gegenüber dem heutigen Stand der Technik“, erklärte etwa der Intel-Manager Raja Koduri Ende vergangenen Jahres. Branchenbeobachter kritisieren außerdem, dass das Metaverse im Kern nur ein Sammelbegriff für viele verschiedene Technologien sei, die es teilweise schon länger gebe: Virtual Reality, Augmented Reality, Blockchain und Open-World-Videospiele. Und die tatsächliche Zahl von Menschen, die virtuelle Web-3.0-Welten nutzen, ist ausgesprochen gering. Lediglich 50.000 waren es im November 2021 weltweit.
Selbst Menschen, die an den Hype glauben, sind realistisch, was den aktuellen Stand der Technik angeht. Der erste Schritt könnte deswegen in eher kleinen Anwendungen liegen. So will Microsoft sehr zeitnah die Ergänzung Mesh für sein Teams-Programm herausbringen, die es ermöglichen soll, virtuelle Meetings in einem Raum abzuhalten. Eine clevere Strategie, denn laut Umfragen wollen die meisten Menschen, die sich eine Teilnahme am Metaverse vorstellen können, dies im Arbeitskontext tun, das gilt für gut die Hälfte der Befragten.
GlobeOne-Managerin Carina Hauswald sieht auch vor allem im Arbeitskontext Chancen. „B2B-Unternehmen können ihre Kunden über Metaverse-Anwendungen schulen oder sich über Produkte austauschen“, erklärt sie. Sie warnt aber auch vor Risiken, wenn Unternehmen zu überstürzt ins Metaverse gehen. „Eine schlechte Präsentation schadet am Ende der Marke nur“, sagt sie. Auch Themen wie geistiges Eigentum und Urheberrecht seien noch weitestgehend ungeklärt und könnten heikel werden. So befindet sich die Modemarke Hermes gerade in einem Rechtsstreit mit einem Künstler, der eine digitale Darstellung einer Handtasche der Firma für viel Geld online feilbot. Ist das Kunstfreiheit, Raubkopie oder etwas ganz Neues? Gerichte und Gesetzgeber werden viele Regeln im Metaverse erst noch aufstellen müssen.
Hauswald empfiehlt ihren Klienten trotzdem, sich bereits heute mit den grundsätzlichen Funktionen des Metaverses auseinanderzusetzen, und gibt entsprechende Schulungen. „Alles, was sie da heute an Kompetenzen sammeln, kann ihnen später nutzen“, sagt sie. Dies könne man in geschützten Räumen und Pilotprojekten relativ risikofrei machen. „Auch wenn es blöd klingt: Selbst sich mal ein paar Minuten mit Fortnite oder Roblox zu beschäftigen, kann helfen“, sagt sie. Grundsätzlich sollten sich Kommunikatoren nicht allzu viele Sorgen machen, wenn es um die Unwägbarkeiten des Metaverses geht: „Vieles, was wir im Web 2.0 gelernt haben, wird auch im Web 3.0 gelten.“
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe #Agenturen. Das Heft können Sie hier bestellen.