„Wir brechen gerade die Newsroom-Etikette“, sagt Froben Homburger und lächelt. Der Nachrichtenchef der Deutschen Presse-Agentur (dpa) steht am Raumteiler und blickt in das Großraumbüro: Auf 3.800 Quadratmetern Platz produzieren hier zu Stoßzeiten rund 240 Mitarbeiter emsig Meldungen, Videos, Radiobeiträge und Grafiken. „Stehen bleiben und laut reden ist hier eigentlich untersagt.“ Homburger geht in großen Schritten voraus Richtung Newsdesk, der zentralen Steuereinheit der Berichterstattung. Oft ist der Newsdesk eine Art Inner Circle, an den sich die Mitarbeiter nur mit Ehrfurcht herantrauen. Das ist hier anders: Die Tische sind U-förmig angeordnet, die Nachrichtenchefs und Chefs vom Dienst sitzen innen und schauen in die Richtung der Teams. So ist die Hürde geringer, an die Chefs heranzutreten. In der Mitte läuft die Nachrichtenlage über einen Bildschirm, aktuelle Ausgaben der Süddeutschen, des Tagesspiegels und Co. stapeln sich auf einer Ablage.
„Wir Nachrichtenchefs steuern und kontrollieren die gesamte Berichterstattung, wir sind die Troubleshooter in großen Lagen, führen das Themen-Monitoring durch, durchforsten anhand von Tools das Social Web“, erklärt Homburger und bleibt an der Ablage stehen. Dataminr und Tweet Deck heißen die Frühwarnsysteme, die jede außergewöhnliche Bewegung in den Sozialen Medien wahrnehmen. Sie weisen auf Tweets hin, in denen Informationen über ein brisantes Ereignis stecken können, wie erste Eindrücke von Augenzeugen eines schweren Unfalls. „Dadurch werden wir natürlich viel zeitiger alarmiert, als das früher möglich und denkbar war – manchmal sogar noch vor der Polizei.“
Als der 51-Jährige vor 26 Jahren als freier Korrespondent bei der Associated Press (AP) anfing, gab es kein Smartphone, kein für alle zugängliches World Wide Web, kein Twitter. Trafen Agenturjournalisten damals an der Unglücksstelle ein, war eine Frage entscheidend: Wo ist die nächste Telefonzelle? Waren sie nicht selbst vor Ort, hatten sie Kontakte und Informanten, von denen sie bei Großereignissen alarmiert wurden. Von den Behörden wurden sie klassisch per Fax oder Fernschreiber auf den neuesten Stand gebracht.
Der Newsdesk in der Berliner dpa-Zentrale. Er ist die zentrale Steuereinheit der Berichterstattung, von dort aus wird auch das Social Web nach Meldungen durchforstet. (c) Laurin Schmid
Die Emotionalität des Social Webs
Heutzutage, in Zeiten des Social Webs, machen nutzergenerierte Inhalte das Nachrichtengeschäft noch kurzatmiger und vielschichtiger, als es ohnehin schon ist. Die Sozialen Medien haben eine immense meinungsbildende Kraft. Unternehmen und Behörden bestreiten ihre Pressearbeit mittlerweile größtenteils über sie. Informationen sind für alle zugänglich. Sie sind nicht mehr exklusiv. Daraus folgt, dass sich Journalisten kaum noch die Ruhe leisten können, Meldungen, Vermutungen, Behauptungen oder Gerüchte lange zu überprüfen. Sie kursieren längst als Fakten im Netz, während der Redakteur noch seine Quellen abtelefoniert. Der Druck, der Erste – und gleichzeitig objektiv, verlässlich und wahrhaftig – zu sein, lastet also schwer auf den Schultern der Medien, allen voran auf denen von Agenturen wie der dpa. Ihre Kunden erwarten, Breaking News sofort als Eilmeldung im Ticker zu haben.
„Eilmeldung“: Wenn dieses Wort auf dem Smartphone oder am Rechner aufploppt, halten Journalisten kurz inne, denn dann ist meistens etwas Entscheidendes in der Welt passiert. Titelseiten, Radionachrichten, Webseiten – alles muss aktualisiert werden. Vergangenes Jahr wurden 1.200 Eilmeldungen im dpa-Basisdienst versendet; zu Anschlägen, Ermittlungen, Anti-Terror-Maßnahmen, dem Putschversuch in der Türkei. Das sind über 200 mehr als im Jahr zuvor.
Die angespannte Sicherheitslage und das hochemotionale Social Web haben Menschen und Mediennutzung verändert. Froben Homburger beobachtet zwei zentrale Phänomene: „Die verunsicherten Menschen haben ein gesteigertes Bedürfnis, das zu glauben, was sie glauben möchten. Außerdem ist die Bereitschaft, Fakten zu ignorieren, gewachsen.“ Die User haben sich eingerichtet in ihren Facebook-Twitter-Filterblasen, Parallelwelten, in denen Algorithmen darüber entscheiden, was sie sehen und was nicht.
„Außerdem ist auch der Begriff ‚Fake News‘ längst zu einem politischen Kampfbegriff geworden“, sagt Homburger und erinnert an Donald Trumps Wahlkampf. „Abgesehen davon, dass der Begriff ungenau und irreführend ist, bezeichnet er längst unliebsame Nachrichten statt Fälschungen.“ Die Agentur verwendet daher bevorzugt eindeutigere Begriffe wie Fälschung, Manipulation oder Desinformation.
Sensibles Terrain: Todesmeldungen
Die dpa kämpft täglich mit den Verwirrspielen vieler User. Am schwierigsten sind dabei Meldungen, die im Kern wahr sind, die jedoch einen Dreh bekommen, der die Ursprungsmeldung manipuliert. Es gibt jedoch auch viele Nutzer und Fake-Webseiten, die die Öffentlichkeit mutwillig mit erfundenen Nachrichten in die Irre führen: Was früher das gefälschte Fax war – wie im Jahr 2000 das berüchtigte Helmut-Kohl-Fax über eine Parteispenderliste –, ist heute beispielsweise der gehackte Twitter-Account; wie die im Dezember 2016 dort von Sony verkündete Falschmeldung zu Britney Spears’ Tod zeigt.
Bei Todesmeldungen von Prominenten hat die dpa sehr sensible Regeln: „Wir melden keinen Tod, wenn wir keine eigene Bestätigung haben“, sagt Froben Homburger und erinnert sich an den Tweet zum Tod Marcel Reich-Ranickis. Dieser wurde nach einem Tweet vom FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher intensiv im Social Web kommentiert und verbreitet – nur die dpa hatte noch immer keine Eilmeldung. „Wir haben die FAZ und die Familie kontaktiert und brauchten bis zur verifizierten Meldung 20 Minuten“, sagt Homburger. „Das sind Welten im Nachrichtengeschäft.“ Eine Menge Spott habe die dpa dafür einstecken müssen. „Aber wir dürfen uns diesem Druck nicht beugen. Sicherlich ist Schnelligkeit eines der wichtigsten Güter von Agenturen. Aber Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit gehen immer noch vor.“ Plötzlich blinkt eine rote Lampe an der Wand. Eine Eilmeldung, nun müssen einige im Raum sicherlich schnell reagieren.
Besonnenheit und Innehalten
Im rasanten Nachrichtenalltag ist es jedoch auch wichtig, einmal durchzuatmen, innezuhalten, seine Gedanken zu entschleunigen. Ist eine Meldung brisant, jedoch noch nicht vollends verifiziert, bekommen dpa-Kunden daher erst einmal eine „Achtungsnotiz“. Außerdem wurde das Format „Was wir wissen und was wir nicht wissen“ eingeführt: Es sei wichtig, zuzugeben, wenn Vermutungen noch nicht bestätigt werden können, sagt Froben Homburger. Auch wenn sie in den Sozialen Medien längst als Fakten gehandelt würden.
Der Nachrichtenchef passiert die vielen Ressorts des Newsrooms, winkt Stefan Voß kurz zu. Er sitzt an einer nur halb besetzten Tischgruppe. In einer Breaking-News-Lage wird sie zum Topdesk, an dem ein rasant zusammengestelltes Team Platz nimmt, das rund um die Uhr berichtet. Stefan Voß war bislang politischer Redakteur bei der dpa. Seit einiger Zeit baut er parallel die künftige Faktencheck-Einheit auf. Seine neue Position, von Juli an dann Vollzeit: Verification Officer.
Hinter der neu geschaffenen Einheit steht die Erkenntnis, dass der Faktencheck längst nicht nur durch Kontakte und das Zwei-Quellen-Prinzip allein absolviert werden kann. „Verifikation ist Teamarbeit, Austausch“, sagt Voß, der nun zusammen mit Homburger im Besprechungszimmer Platz genommen hat. „Eine meiner Hauptaufgaben ist derzeit, ein Team von Verifikationsexperten quer durch alle Redaktionen aufzubauen. Zum Beispiel bündeln wir Expertenwissen über Waffen, abseitige Webseiten, islamistische Bekennerschreiben, das bei Flugzeugentführungen oder Anschlägen relevant würde.“ Darüber hinaus werden externe Experten zu diesen Themen identifiziert, Twitterlisten angelegt: „Wir wollen wissen: Wo sitzen die Autoritäten, die wir fragen können?“, sagt Voß. Außerdem werden die Teams den anderen Mitarbeitern Tools nahebringen, mit denen sie schnell kleinere Manipulationen von Fotos oder Videos entschlüsseln können.
Wichtig ist generell, feinsinnig einzuschätzen, welche News überhaupt verifiziert werden: „Wir können nicht jeden Blödsinn prüfen, dadurch würden wir manche Dinge auch erst adeln“, sagt Voß und zählt einige frappierende Beispiele auf. „Wir haben spezielle Tools, mit denen wir schauen, inwieweit eine Behauptung in den Medien verbreitet ist, so dass wir einschätzen können, ob wir sie aufgreifen. Alles andere würde Manipulationsstrategien nur befeuern.“
Der größte Feind beim Faktencheck ist jedoch häufig schlicht die eigene Routine. Wie bei dem missglückten PR-Gag über die Pistenraupe, die angeblich versehentlich in das norddeutsche Städtchen Seefeld statt in den gleichnamigen österreichischen Skiort geliefert wurde. Die dpa brachte die Meldung. Elias Walser, Geschäftsführer des Tourismusverbands Seefeld, hatte die Journalisten, die nachfragten, ob die Geschichte stimme, angelogen. Die dpa habe Walser mehrfach ungläubig gefragt: Sagen Sie, belügen Sie uns?, erzählt Froben Homburger. Nein, wirklich nicht, habe Walser entgegnet. Dafür wurde er vom Deutschen Rat für Public Relations gerügt. „Dennoch haben wir auch Fehler gemacht“, sagt Homburger.
Froben Homburger und Stefan Voß sprechen Fehler in der dpa-Berichterstattung ohne Nachfrage an, sie wechseln Blicke, nicken, während der andere spricht, finden klare, ruhige Worte für die Ursachen: „Wir haben nicht kurz innegehalten: Wie kann es sein, dass dieser Lastwagenfahrer konsequent in die falsche Richtung fährt?“, sagt Homburger. „Wir haben das nicht hinterfragt, hatten blindes Vertrauen in die eigene Routine. Außerdem gab es noch den emotionalen Aspekt: Wir wollten einfach diese großartige Geschichte haben.“
Froben Homburger im Gespräch mit Jeanne Wellnitz und Anne Hünninghaus. Später setzt sich Verification Officer Stefan Voß hinzu und beide erzählen intensiv von den Fehlern der vergangenen Monate und der Macht einer für die Öffentlichkeit transparent gemachten internen Aufarbeitung: In den sozialen Medien kehrt dadurch in kurzer Zeit selbst bei den übelsten Polemikern häufig Frieden ein, sagt Homburger, der sich ihrer auf Twitter annimmt. (c) Laurin Schmid
Eine Fehlerkultur etablieren
Auch anlässlich der Trauermarsch-Berichterstattung für die Opfer des Anschlags auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo stand die dpa in der Kritik: Ein Foto suggerierte, dass die Staatsoberhäupter an der Spitze des Trauermarsches liefen. Es wurde jedoch in einer Nebenstraße aufgenommen, kurz darauf seien die Spitzenpolitiker wieder in ihre Autos gestiegen. „Die Kameraperspektive stellte eine verzerrte Wirklichkeit dar“, sagt Homburger. Er bedauert, dass darüber zusätzlich viele weitere Fakten in Zweifel gezogen wurden. „Wir haben das in vielen Runden und im Internet erklärt – und hätten von Anfang an erwähnen müssen, wie das Foto entstanden ist. Wir waren einfach zu bewegt von der Emotionalität dieses Bildes und haben diesen falschen Eindruck gefördert und zu spät darauf reagiert. Es war sehr schmerzhaft, diese Fehler transparent zu machen.“
Passiert solch ein Fauxpas, wird dieser anhand einer selbstverfassten Manöverkritik intern aufgearbeitet. Die Beteiligten dokumentieren: Was war der Fehler? Wie kam es dazu? Was können alle daraus lernen? Diese Selbstkritik wird manchmal als Q&A-Format an alle dpa-Kunden geschickt. Auch auf Twitter antwortet der Nachrichtenchef mit seinem eigenen Account in solchen Fällen offen und einsichtig. „In den sozialen Medien kehrt dadurch in kurzer Zeit selbst bei den übelsten Polemikern häufig Frieden ein“, sagt Homburger.
Von Pressesprechern wünschen sich die Agenturjournalisten die gleiche Transparenz. „Rund um den April verzichten wir auf manche schöne Geschichte. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Pressesprecher auch auf fünfmaliges Nachfragen behaupten, es sei kein Aprilscherz, obwohl es einer ist“, sagt Homburger. „Ich verstehe, dass Pressesprecher Interessenvertreter sind. So bewerten wir das auch. Aber wir brauchen die gleiche Transparenz von ihnen, die wir uns auch selbst verordnen.“ Transparenz ist ein offener, diffuser Begriff. Hier bedeutet er für die Pressesprecher vor allem: lieber Nichtwissen und Nichts-sagen-Dürfen zuzugeben, als zu lügen. Doch die Realität ist eine andere. Für Homburger und die dpa ist daher seit jeher oberstes journalistisches Credo: Journalisten sollten ihrem Gegenüber niemals trauen.
Die Deutsche Presse-Agentur
Die Deutsche Presse-Agentur (dpa) beliefert tagesaktuelle Medien aus dem In- und Ausland. Weltweit arbeiten 1.300 Journalisten für die Nachrichtenagentur. 2010 wurde ein Newsroom in Berlin eröffnet. Dort sitzen alle zentralen Redaktionen – von Wort über Foto, Grafik und Online bis zu Audio und Video. Momentan wird dort eine Verifikationseinheit aufgebaut, um Informationen, Bilder und Videos im Social Web zu überprüfen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe EHRLICHKEIT. Das Heft können Sie hier bestellen.