Politik leugnet digitale Realität auf ganzer Linie

Politische Kommunikation

Ja! Wir leben in irren Zeiten! 12.000 Wissenschaftler schließen sich zusammen, Hunderte Zeitungen und Fernsehsender berichten unentwegt über den Klimawandel und dann kommt ein Youtuber und stellt die deutsche Europawahl auf den Kopf.

Nicht auszudenken, wenn dies einem Verschwörungstheoretiker gelungen wäre. Eine Ohrfeige für die deutschen Volksparteien – und das bei hoher Wahlbeteiligung. Doch die Reaktion auf diese digitale Watsche ist explosiver als die eigentliche Wahlschlappe von CDU/CSU und SPD. Allen voran die von Annegret Kramp-Karrenbauer mit ihrem Vorschlag, die digitale Kommunikation vor Wahlen zu regulieren.

Selbstverständlich sind Plattformen wie Youtube, Facebook oder Instagram, genauso wie sie eine Chance für die Demokratie darstellen, auch eine Gefahr für diese. Ihre Regulierung, ihre Kontrolle, der gesunde Umgang mit ihnen, Schulungen der Bevölkerung in Sachen digitaler Medienkompetenz – all dies könnte Teil einer umfangreichen Debatte sein. Im Jahr 2009! Nicht im Jahr 2019.

Es ist unfassbar, dass dieser gesellschaftliche Diskussionsbedarf von der Politik jetzt erst erkannt wird und die Ergebnisse dieses Versäumnisses kommunikativ so unprofessionell gehandhabt werden. Bereits einige Jahre nach dem Auftauchen von Youtube wurde davor gewarnt, dass sich dort eine Parallelgesellschaft bilden könnte. Man sollte Politiker heute fragen, welchen der über 70 Youtuber sie selbst kennen, die sich an dem Wahlaufruf-Video von Rezo beteiligt haben.

Ein Berufsstand, der in Bierzelten und auf Schützenfesten erscheint, um sich volksnah zu geben, sollte doch auch einen Fuß bei der Jugend in der Youtube-Tür haben.

Altmodische Polit-Kommunikatoren

Barack Obama hatte bereits in seinem ersten Wahlkampf 2008 durchdachtere Konzepte, um seine Wähler digital zu erreichen. Dass ihr Versäumnis der deutschen Politik nun nur den so genannten Volksparteien auf die Füße fällt, ist eher noch als harmlos zu bewerten. Ein deutscher Donald Trump hätte ein leichtes Spiel mit diesen altmodischen Kommunikatoren – die paradoxerweise auch noch die politische Verantwortung für das Vorantreiben der Digitalisierung tragen. Ein Youtube-Video eines Influencers ist dabei die kleinste Bedrohung, um die man sich heute kümmern müsste.

Was könnte in Zukunft der Politik in der digitalen Kommunikation noch alles um die Ohren fliegen?

Die Geschwindigkeit des digitalen Wandels

Im Jahr 2019 gibt es exponentielles Auftreten von Innovationen. Basierend auf dem Mooreschen Gesetz werden neue Kommunikationsplattformen schneller auftreten und verschwinden, als es noch vor einigen Jahren der Fall war.

Neue Techniken und Erfindungen helfen der Öffentlichkeit in sehr großen Innovationssprüngen von heute auf morgen neue Regeln und Gesetzmäßigkeiten zu schaffen. Diese sind vielleicht in Stunden, Tagen einfach da. Wenn man sich vor Augen hält, dass im Jahr 2018 Horst Seehofer per klassischer Pressemeldung verlauten ließ, in 14 Tagen werde er zu twittern beginnen (was für das Medium Twitter mit seinem Echtzeitcharakter an sich schon ein Hohn ist) und dann auf seinem privaten Account in einem halben Jahr lediglich zwei Tweets absetzte, dann nimmt ein Politiker mit Regierungsverantwortung dieses Medium und seine Nutzer nicht ernst.

In Zeiten des digitalen Wandels ist es umso fragwürdiger, ob jemand mit solchem Verständnis für Kommunikation überhaupt Entscheidungsgewalt haben sollte. Dies betrifft aber das Gros der politischen Klasse, da Entscheidungsfindungen, interne und externe Kommunikation viel zu langsam sind im Verhältnis der digitalen Realität von heute.

Das Bilden einer Regierung in sechs Monaten passt einfach nicht in die Schnelllebigkeit der jetzigen Zeit. Google & Co. können innerhalb von Tagen Entscheidungen treffen, die die Politik schneller als in sechs Monaten diskutieren müsste. Da kann man bei den jetzigen Aussagen von AKK, dass es da vielleicht zu regulierende Probleme in 2019 geben können, mit einem Jahrzehnt Verzögerungen rechnen, bis es dazu vielleicht einmal Entscheidungen gibt.

Die Grundgesetze der digitalen Kommunikation

Natürlich hat die Politik verstanden, dass Facebook, Youtube und Co. Macht besitzen. Das Statement, wonach Nutzer reguliert werden müssten, macht jedoch klar: Es mangelt an einem Grundverständnis, was solche Plattformen tatsächlich tun könnten. Würde sich beispielsweise Youtube entscheiden, ein Video wie das von Rezo aktiv zu pushen, dann lägen die Reichweite und ihre Folgen noch weitaus höher und weit mehr in der Verantwortung der Plattform selbst als in jener der Video-Ersteller. Es ist zu bezweifeln, dass diese Problematik von der Politik überhaupt erkannt wurde.

Automatisierter Journalismus

Vor einigen Jahren wurden in der Politik Chatbots als mögliche Bedrohung identifiziert. Heute haben wir im digitalen Marketing automatisierte Textbots, die es ermöglichen, einem Texter Tausende Schreibkräfte mittels Software zur Seite zu stellen. Jede Partei – und wäre sie zunächst noch so klein und unbekannt – könnte sich mit dieser Technik enorme Wahlerfolge erhoffen.

Die Option hat in Deutschland bislang glücklicher Weise noch niemand als politisches Marketingtool genutzt. Eine adäquate Reaktion auf ein solches Problem durch die momentan aktive Politik ist allerdings auszuschließen. Solche Phänomene wären nicht einfach zu regulieren, es wären ganz neue Schritte nötig.

Künstliche Intelligenz

Hinzu kommt die auf KI basierende, selbstlernende Möglichkeit, Wählergruppen zu identifizieren, zu adressieren und gegebenenfalls zu manipulieren. Seit dem zweiten Obama-Wahlkampf 2012, spätestens seit der Wahl von Trump 2016 ist allgemein bekannt, dass dies in der politischen Kommunikation möglich ist. Vor diesem Hintergrund eine Regulierung von Influencern vorzuschlagen, ist ein Armutszeugnis. Ebenso könnte man zwei Wochen vor der Wahl alle Bürger zwingen, ihr TV und Internet abzustellen. Dann gibt es auch keine massenhafte Beeinflussung. Weltfremder geht es nicht.

Abschließend bleibt zu sagen: Ja! Influencer können eine Gefahr darstellen. Genauso wie es Stechwaffen tun. In Zeiten potenzieller digitaler Atombomben unterschiedlicher Art wäre jedoch eigentlich zu erwarten, dass Politiker solche Grundlagen bereits seit Langem kennen und längst in ihre Positionen und Entscheidungen zur Digitalisierung hätten einfließen lassen.

 

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