Frau Marx, welche Strategie steckte hinter der Kampagne „Begegnungen“?
Christina Marx: Unser satzungsgemäßer Auftrag ist die Aufklärung. Uns geht es darum, ein Bewusstsein in der Bevölkerung zu schaffen für Menschen mit Behinderung und deren Teilhabechancen zu verbessern. „Begegnungen“ war 2015 unser Jahresthema bei der Aktion Mensch, denn Inklusion kann nur gelingen, wenn sich behinderte und nichtbehinderte Menschen treffen, und das findet im Alltag noch zu wenig statt.
Eine Umfrage hat ergeben, dass 30 Prozent der Deutschen keine Berührungspunkte mit Menschen mit Behinderung haben, weder in Kita, Schule noch Beruf. Zweidrittel sagen, sie haben ab und zu Kontakt, aber nicht regelmäßig. Wir wollen Berührungsängste abbauen und mit einer integrierten Kampagne gleichzeitig Aufmerksamkeit für die Lotterie schaffen.
Wie entstand das Konzept?
Die Idee, das Casting für den Lotteriespot als Aufklärungsfilm zu nutzen, stammt von unserer Kreativagentur Kolle Rebbe. Hierfür haben wir Paarungen gebildet aus jeweils einem behinderten und einem nichtbehinderten Menschen. Wir haben einen Aufruf starten lassen, dass wir Darsteller für eine Werbeproduktion suchen, aber nicht gesagt, um welches Produkt oder welche Organisation es gehen wird. Es gab sogar getrennte Warteräume, so dass alle Reaktionen wirklich echt sind. Wir wollten zeigen: Die meisten Barrieren sind in den Köpfen.
Wurde mehr als 810.000mal bei Youtube geklickt: Der Spot „Das erste Mal“ aus der Kampagne „Begegnungen“
Waren die Nichtbehinderten Schauspieler – eine kenne ich nämlich zufällig persönlich?
Es gibt kaum professionelle Schauspieler mit Behinderung, die Darsteller fanden wir zum Teil über einen Aufruf in Social Media, und wir kennen natürlich auch viele schon. Unter den Nichtbehinderten sind Schauspieler und Models aus Werbeproduktionen, die sich auf den Casting-Aufruf gemeldet haben. Wir haben dann lange überlegt, welche Paarungen wir bilden, damit es möglichst spannend ist zu sehen, wie die Profis auf etwas reagieren, womit sie nicht rechnen konnten.
Haben Sie bewusst mit dem Storytelling-Ansatz gespielt?
Wir haben zumindest bewusst eine Art Laborsituation hergestellt, in der alles passieren kann. Aber es gab eine Dramaturgie, die der Regisseur, der auch Dokumentarfilmer ist, aufgebaut hat. Der Nichtbehinderte kam herein, stellte sich vor, stellte sich wie bei einem Casting üblich auf die Markierung am Boden. Dann ging der Regisseur unter einem Vorwand raus, und der Protagonist mit Behinderung kam herein. Die Kameras liefen weiter und zeichneten auf, was bei der allerersten Begegnung geschah also bewusst ohne Anleitung. Dann wurde es noch spielerisch, zum Beispiel bei der Übung „Secret Handshake“, bei der die beiden Darsteller interagieren mussten. Auch die Verabschiedung war nicht gescriptet. Die Paarungen waren meist nur eine halbe Stunde zusammen, aber es entwickelte sich viel zwischen ihnen und einige haben sich zum Abschied in den Arm genommen.
Welche Rolle hatte der Regisseur noch?
Er führte weniger im Sinne von „jetzt macht mal das und das“, sondern war eher Moderator. Bei der Vorstellung am Anfang sagten fast alle Nichtbehinderten, sie hätten keine Berührungsängste. Später waren die meisten aber doch unsicher, wenigstens für einen kurzen Moment sieht man es in ihren Gesichtern.
Wonach haben Sie die Paarungen festgelegt?
Wir haben schon im Vorweg beim E-Mail-Casting nach Hobbys und Interessen gefragt. Die Mischung aus Winfried, dem schnoddrigen Kungfu-Kämpfer und Mathias, dem kleinwüchsigen Speerwerfer, der es zu den Paralympics geschafft hat, passt zum Beispiel super, weil beide sportbegeistert sind. Für sie haben wir inzwischen sogar mit den „Begegnungstestern“ ein neues Format geschaffen.
Spannend waren auch die blinde Anna und das Model Klemens. Er war im Casting relativ eitel, baute auf sein Äußeres und ihr sieht man nicht an, dass sie behindert ist. Dann fragt sie ihn zu Beginn von der Seite „bist du auch behindert?“ und er fragt zurück „nee, wieso?“ Darauf sie: „Naja, ich seh dich ja nicht“ und man sieht, wie sein Konstrukt zusammenfällt. Am Ende sagt er, wie toll er es findet, dass sie so locker ist und dass er echt aufgeregt war. Da legt sie den Kopf schief und sagt charmant: „Merkt man nicht“. Das war ein toller Moment, der auch viele Zuschauer begeistert hat.
War der Kontrollverlust für Sie die größte Herausforderung?
Ja, denn das hätte ja auch richtig peinlich werden können. Wir wollten aber eine Situation schaffen, in der niemand vorgeführt wird, auch nicht die Menschen ohne Behinderung, an die sich unsere großen Kampagnen richten. Der Betrachter sollte denken: „Ja, so wäre es mir auch gegangen.“ Wir wollten nicht didaktisch agieren und zeigen, wie man jemandem die Hand gibt, der keine Arme hat. Oder ob man sich zu jemand, der kleinwüchsig ist, herunterbeugt. Es sollte sich aus der Situation ergeben. Und der Betrachter sollte sich verwandt fühlen in seiner eigenen möglichen Reaktion.
Welche Paarung hat Sie denn persönlich am meisten berührt?
Anna und Klemens waren schon toll. Wir haben uns hinter den Kulissen alle gefragt, ob die nicht ein Paar werden, aber Anna hat einen festen Freund. Bei Mathias und Winfried ging bei mir gleich das Kopfkino los, was wir mit denen noch machen können, weil die so lustig zusammen sind. Schön waren auch Ulrike, die frühere Boutiquenbesitzerin, und Volker, der im Rollstuhl sitzt. Bei der Verabschiedung sagte sie: „So, dann gehen wir jetzt.“ Darauf er lakonisch: „Ich kann nicht gehen.“ Sie stutzte kurz und sagte einfach, „na, dann rollen wir“. Die mochten sich und haben sich auch danach noch getroffen.
Was waren Ihre wichtigsten Learnings für nächste Kampagnen?
Loslassen. (Lacht) Auch wenn wir den Luxus hatten, dass der Film ja nicht Teil einer Abverkaufskampagne war, muss er trotzdem etwas beim Betrachter auslösen. Unsere Botschaft „Jede Begegnung kann ein Anfang sein“ kam an. Mut zum Kürzen war ein Learning. Der Film ist viral 5.30 Minuten lang. Bei uns spielte das Mediabudget zwar keine Rolle, aber die Durchsehraten waren sehr gut. Und wir haben gelernt, dass die Erzählweise super im Kino funktioniert, dazu haben wir das meiste Feedback bekommen. Wir hätten die Idee medial noch besser verzahnt planen können, weil wir erst auf halbem Weg neue Formate erdacht haben. Und wir hätten unsere Zielzahlen ruhig höher setzen können.
Haben Sie also Abfall aus dem Schnitt hinterher zweitverwertet?
Wir haben so viel Material, aber irgendwann ist das Budget halt erschöpft. (Lacht) Es gab dann noch die geplante Verzahnung zur Lotterie, denn mit zwei der Paarungen haben wir später die Spots gedreht, aber das fiel den Menschen draußen kaum auf. Es ist schwierig, eine Call-to-action-Idee im Sinne von „Denk nach“ mit einem Vertriebsspot zu verbinden, dessen Ziel es ist, Lose zu verkaufen.
Welche KPI nutzen Sie, um den Kampagnenerfolg zu überprüfen?
Wir messen klassisch Zugriffszahlen, Durchseh- und Interaktionsraten so wie die Conversion auf unserer Werbemittel, also wie viele Leute klicken auf unsere Online-Banner. Auf der Kampagnen-Microsite gab es einen „Begegnungszähler“, der die User gezählt hat sowie die Quizteilnehmer und Bestellungen unseres Aktionsboten, eines elektronischen Newsletters. Überall haben wir die Ziele mehr als erreicht und der Klickpreis ist deutlich günstiger als bei früheren Kampagnen.
Sie haben das Prinzip der „Begegnungen“ dann auch im neuen Spot genutzt, in dem Kinder Technik entdecken, die Menschen mit Behinderung im Alltag hilft. Warum?
Unser Thema in neuen Spot ist Barrierefreiheit, speziell wie Technologien helfen, Barrieren zu überwinden. Im gemeinsamen Workshop mit der Agentur haben wir viele klassische Ansätze über Bord geworfen wie den journalistischen, zu zeigen, welche Technik es schon gibt und was alles möglich ist, wenn man zum Beispiel nicht hören kann, aber Klavier spielt. Wir fanden, dass der experimentelle Charakter der Laborsituation noch nicht ausgereizt ist.
Und wir haben Kinder gewählt, weil die im Umgang unbekümmerter sind – und neugieriger. Wir wollten nicht die Technik in den Vordergrund stellen wollten, sondern die Menschen, die sie nutzen, ob bewusst oder auch nicht – denn es gibt ja auch viele Menschen mit Behinderung, die sagen, „ich soll mich dauernd selbst optimieren und will das nicht mehr“.
„Die neue Nähe“ ist der Folge-Spot aus 2016 und wurde bisher knapp 1,5 Millionen mal geklickt
Die Reaktionen der Kinder waren dann auch noch viel positiver und unbefangener als die der Erwachsenen.
Das stimmt. Dabei hatten wir in dem Fall mit mehr Kritik gerechnet und schon eine FAQ-Liste gemacht für mögliche Punkte wie „da geht es ja nur um Technik“ oder „das kann sich kaum einer leisten“. Stattdessen kamen Schreiben von Eltern, deren Kind auch einen Talker nutzt, der ihnen mehr Lebensqualität bietet. Und dieser Film funktionierte komplett viral, wir haben ihn ohne Mediabudget ins Netz gestellt, die Protagonisten, die so zu Influencern wurden, haben ihn im Netz geteilt, am meisten über Social Media und Blogs.
Sie erschaffen in den Filmen einen Ort der Begegnung – und wie schaffen Sie das im wahren Leben?
Durch unsere Förderprojekte und unsere Freiwilligendatenbank, in der man Inspiration findet, wie man sich engagieren kann.
Und was kommt als nächstes?
Der Themenschwerpunkt für 2017 steht noch nicht ganz fest. Aber wir haben in unserer Szene gefragt, was Menschen mit Behinderung noch fehlt, was dringend erfunden werden sollte und machen im November dazu gemeinsam mit Microsoft einen Hackathon: Wir basteln gemeinsam mit Entwicklern und Researchern weiter an digitalen Ideen.