„Europäische Politik ist eigentlich Innenpolitik“

Europa

Herr Neuhann, vergangene Woche fand der EU-Gipfel statt. Der Kompromiss im Streit um das Verbrenner-Aus kam dann erst am Wochenende. War das eine der intensivsten Wochen für Sie, seit Sie aus Brüssel berichten?

Die Gipfelwochen sind immer intensiv. Ich habe hier aber andere Gipfel erlebt, die sehr viel intensiver waren. Ich erinnere mich vor allem an die Gipfel kurz nach Kriegsbeginn im vergangenen Jahr und an die, bei denen es um Sanktionen ging. Da war dieser einer der langweiligeren. Für deutsche Medien war das Thema Verbrenner-Aus sehr wichtig. Aber in den Briefings habe ich festgestellt, dass es für Korrespondentinnen und Korrespondenten aus anderen Ländern nicht die große Rolle gespielt hat.

Welche Faktoren müssen zusammenkommen, damit ein EU-Thema die Öffentlichkeit in Deutschland interessiert?

Am besten ist es natürlich, wenn ein Thema relevant ist für die Menschen in Deutschland – und damit für die Zuschauerinnen und Zuschauer. Das ist bei einem Thema wie dem Verbrenner-Aus gegeben, weil viele in Deutschland Auto fahren. Aber es ist auch bei anderen Themen gegeben, zum Beispiel wenn es um Energiepreise geht oder um die Frage, ob wir ukrainische Flüchtlinge aufnehmen. Was sicherlich auch hilft, ein Thema in den Medien zu verkaufen: wenn es Streit gibt. Ein Gipfel, auf dem sich alle einig sind, taugt nicht immer für den Aufmacher im „Heute-Journal“.

Haben Sie Beispiele für Themen, die unter dem Radar liefen und für die Sie sich mehr Interesse in Deutschland gewünscht hätten?

Die Gesetzgebungsprozesse in Brüssel sind kompliziert: Die Kommission schlägt etwas vor. Meist berichten wir – und dann passiert erst einmal lange nichts, weil die beteiligten Institutionen jeweils ihre Positionen festlegen. Das ist eigentlich ein spannender Prozess, in dem sehr viel abgesteckt wird, wo sich aber viele Kollegen in den Redaktionen fragen: Ist das relevant? Deshalb wird oft nicht darüber berichtet. Und dann passiert es eben wie beim Verbrenner-Aus, dass die deutsche Öffentlichkeit und auch die deutsche Politik zu spät aufwachen, weil sie diesen Gesetzgebungsprozess nicht intensiv verfolgt haben. Das führt dazu, dass manchmal erst der Aufschrei kommt, wenn ein Gesetz verabschiedet ist.

Versuchen Sie denn, diesen Prozess der Gesetzgebung journalistisch aufzugreifen?

Absolut. Wir reden uns im Studio Brüssel den Mund fusselig gegenüber unseren Redaktionen in Mainz und versuchen immer zu erklären, wann und warum es sinnvoll ist, frühzeitig über ein Thema zu berichten. Ich versuche auch immer zu erklären, in welchem Stadium sich ein Gesetz oder ein Thema gerade befindet. Die Schwierigkeit ist: Wir sind ein Massenmedium. Wir haben in den wichtigen Nachrichten die berühmten 1:30, im „Heute-Journal“ auch mal drei Minuten. Ich versuche trotzdem jedes Mal, das zu erklären.

Welche Sendungen beliefern Sie?

Alle Fernsehsendungen, die sich mit aktuellen Inhalten beschäftigen. Vom „Morgenmagazin“ über die „Heute“- Nachrichten bis zur Sendung „Heute – in Europa“, die für uns sehr wichtig ist. Wir haben das Glück, dass wir diese tägliche Sendung haben, in der wir Dinge frühzeitig aufgreifen und Europathemen unterbringen können, die es nicht in die Hauptnachrichten schaffen. Da haben wir oft den Fall, dass ich ein Thema für „Heute – in Europa“ aufbereite, und dann stellt das „Heute-Journal“ fest: „Ach, das finden wir aber auch spannend.“ Und so hat man bereits Interviews geführt und schafft es dann, dieses Thema auch für die späten und wichtigeren Sendungen zu verkaufen.

Vorher haben Sie für das ZDF aus Berlin berichtet. Wie unterscheidet sich der journalistische Arbeitsalltag?

Ich empfinde die Masse an Themen, in denen man in Brüssel auf dem Laufenden sein muss, als sehr viel größer. Das liegt auch daran, dass wir in Berlin gut 15 Korrespondenten waren. Meine Ressorts waren Innen und Finanzen. Dann habe ich noch zwei Parteien verfolgt: die Union und die Grünen. Dadurch war ich in diesen Themen Spezialist. Hier in Brüssel ist man viel mehr Generalist und muss in allen Themen auf dem Laufenden sein. Das ist heute das Verbrenner-Aus, morgen die nächste Umweltgesetzgebung und übermorgen das Sanktionspaket. Auch die Zahl der Akteure, mit denen man reden muss, ist in Brüssel deutlich größer. Das sind nicht nur die verschiedenen Parteienfamilien im Europäischen Parlament oder in den Regierungen der Mitgliedstaaten. Es sind auch die Regierungen, die ganz unterschiedliche Interessen vertreten. Das führt dazu, dass wir sehr viele Gespräche und Briefings haben mit den verschiedenen Akteuren.

Klingt nach mehr Arbeit als in Berlin.

Dadurch, dass wir weniger Personen sind und ich jetzt eine andere Rolle besitze, habe ich seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine extrem viel gearbeitet. Der Fokus auf Brüssel war enorm und hier ist zudem eine ganz neue Dynamik entstanden. Hier sind in einem Jahr Dinge passiert, die man sich vorher nicht im Traum hätte ausmalen können. Zum Beispiel dass die Europäische Union sich dazu entschlossen hat, gemeinsam Munition anzukaufen. Als ich hier ankam, sagte mein Vorgänger: „Die Nato, das läuft so ein bisschen nebenher, da machst du jedes halbe Jahr etwas.“ Das hat sich dramatisch geändert.

Im August 2021 haben Sie in Brüssel angefangen, ein halbes Jahr vor Kriegsbeginn. Wie viel Prozent Ihrer Arbeit machen Nato-Themen jetzt ungefähr aus?

Ich würde sagen, dass ich immer noch etwas mehr über die EU berichte, weil es da mehr Treffen gibt, mehr Ministerräte, Parlamentswochen und so weiter. Aber dafür sind dann die Nato-Wochen sehr intensiv.

Wie bewerten Sie die Pressearbeit der verschiedenen EU-Institutionen? Auch im Vergleich zu Berlin.

Die Pressearbeit wird hier sehr professionell aufgezogen. Vieles wird einem quasi mundgerecht geliefert, was natürlich ein Problem darstellt, weil wir nichts mundgerecht übernehmen, sondern selbst drehen wollen. Aber es hat im letzten Jahr viele Situationen gegeben, in denen uns beispielsweise kurze Statements von der Kommissionspräsidentin als Video zur Verfügung gestellt worden sind, zum Beispiel auf Twitter oder auf den Seiten der Kommission. Der große Nachteil war – und das ist aus journalistischer Sicht nicht in Ordnung: Wir konnten das PR-Statement so nehmen, wie es war, oder halt nicht. Ich sehe es als großes Problem, wenn wir keine Gelegenheit haben, nachzufragen und eigenes Material zu erstellen. Denn natürlich müssen wir Frau von der Leyen senden.

Es gab keine Gelegenheit nachzufragen?

Es gab öfter Sanktionspakete, die Frau von der Leyen über ein kurzes Twitter-Video präsentiert hat – ohne jede Möglichkeit der Nachfrage für uns Medien. Es gibt dazu eine intensive Diskussion mit der Korrespondentenvereinigung hier in Brüssel. Zum Abschluss des letzten EU-Gipfels gab es zum Beispiel keine Pressekonferenz von der Kommissionspräsidentin und dem Ratspräsidenten Charles Michel. Das hat in den Korrespondentenkreisen für Verärgerung gesorgt. Denn die Pressekonferenzen am Ende eines Gipfels sind wichtig, um nachfragen zu können. Natürlich haben sich nach Ende des Gipfels alle anderen Beteiligten geäußert. Es gab eine Pressekonferenz des Bundeskanzlers und eine des französischen Präsidenten. Wir hatten keinen Mangel an O-Tönen. Trotzdem ist es eine problematische Entwicklung, wenn sich die Spitzen der beiden wichtigsten EU-Institutionen am Ende eines Gipfels nicht den Fragen der Journalisten stellen.

Ist denn der Sprecher der Kommissionspräsidentin, Jens Flosdorff, immer ansprechbar für Sie? Den kannten Sie ja vermutlich noch aus Berlin.

Jens Flosdorff können wir gut erreichen. Er ist, glaube ich, insbesondere für deutsche Medien sehr gut ansprechbar. Man muss wissen, dass man von ihm einen Spin bekommt, aber wir können gut mit ihm reden. Er ist aber nicht der Chefsprecher der Kommission. Das ist Eric Mamer, ein Franzose. Was hier in Brüssel toll ist, ist das mittägliche Pressebriefing der Kommission. Wenn wir eine Frage haben und sich keiner äußert, können wir da die Pressesprecher der Kommission anfragen. Das als Möglichkeit zu haben, ist natürlich wunderbar.

Wie viel Kontakt haben Sie zu Lobbyistinnen und Lobbyisten in Brüssel?

Mein Postfach ist immer gut gefüllt. Es gibt ständig Einladungen zu Abendveranstaltungen, die in irgendeiner Landesvertretung stattfinden. Ich nutze diese Einladungen nicht, da ich dafür kaum Zeit habe. Es gibt sicher ab und zu Kontakt, es ist ja auch wichtig zu hören, was etwa ein Industrievertreter oder ein Vertreter einer Nichtregierungsorganisation sagt. Aber ich suche doch eher den Kontakt zu den Entscheidern, also den Politikern auf den verschiedenen Ebenen.

Läuft man all diesen Akteurinnen und Akteure häufig über den Weg? Von außen stellt man sich Brüssel recht klein vor.

Dadurch, dass es hier wahnsinnig viele Akteure auf den verschiedenen Ebenen gibt – das Parlament, Parteien, die Mitgliedstaaten –, die alle irgendwie mitmischen, ist es nicht mein Eindruck, dass es hier superklein ist. Klar, es gibt Events, auf denen sich alle treffen. Ich könnte jeden Abend auf drei Veranstaltungen gehen, aber dafür fehlt mir die Zeit.

Sie sitzen 500 Meter vom Berlaymont entfernt. Das House of German Business, in dem zahlreiche Unternehmen und Verbände sitzen, ist auch nur zehn Minuten davon entfernt. Aber man begegnet sich trotzdem nicht so oft?

Nein. Aber wir haben ja alle paar Wochen das Vergnügen, dass wir das Parlament nach Straßburg begleiten. Da ist es zum Beispiel so, dass man den Politikern und Abgeordneten sehr viel häufiger über den Weg läuft. Es haben dann auch alle Zeit, sich auf einen Kaffee zu treffen, weil eben alle nach Straßburg müssen und dann nicht noch 1.000 andere Verpflichtungen haben.

Florian Neuhann © ZDF/Matthias Krüger
Florian Neuhann © ZDF Matthias Krüger

Was reizt Sie daran, jetzt aus Brüssel zu berichten statt aus Berlin?

Wenn man als Journalist politisch denkt, dann ist Brüssel wahnsinnig spannend. Hier passiert viel, was für unsere Zukunft wichtig ist. Das hat sich in der aktuellen politischen Lage noch mal verschärft. So schlimm dieser Krieg ist – für einen politischen Journalisten ist es natürlich unglaublich aufregend, an einem Ort zu sein, an dem über die Reaktion des Westens auf diesen Krieg entschieden wird. Und dann war der Wechsel nach Brüssel natürlich auch ein Aufstieg für mich. Eine Chance, die ich gern genutzt habe.

Würden Sie sagen, die Rolle der EU wird in der Öffentlichkeit und auch von Ihrem Publikum unterschätzt?

Ich glaube, das hat sich gewandelt – und wir tun unser Bestes, dass es sich noch stärker wandelt. Wie gesagt, man muss noch viel erklären. Das müssten wir sicher weiter ausbauen. Wir haben hier vier Korrespondenten, das zeigt auch die Bedeutung: Es gibt kein Auslandsstudio im ZDF, das so viele Korrespondenten hat.

Als Sie noch in Berlin waren, hatten Sie ein Erklärformat auf YouTube: „Inside PolitiX“. Braucht man solche Erklärformate auch aus Brüssel?

So etwas wie „Inside PolitiX“ aus Europa zu machen, wäre natürlich super – wobei ich immer denke, man sollte nicht eigene Formate setzen, die sich dann mit der Nische Europa beschäftigen. Denn erst mal ist die EU nicht sonderlich sexy. Wenn wir es schaffen, europäische Sichtweisen und Themen in die normalen Debatten zu integrieren, dann ist, glaube ich, mehr gewonnen. Europäische Politik ist eigentlich Innenpolitik. Deswegen würde ich lieber EU-Themen aus deutscher innenpolitischer Sicht erklären.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe #Europa. Das Heft können Sie hier bestellen.

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