In Spannungskurven denken

Marken

Wer nach Sehenswürdigkeiten in Wolfsburg sucht, landet zwangsläufig bei der Autostadt. Der Volkswagen-Konzern bezeichnet die am Mittellandkanal gelegene freizeitparkähnliche Anlage mit den verschiedenen Marken-Pavillons als „Kommunikationsplattform“. Die Konzernmarken „inszenieren ihre Philosophie und Werte auf individuelle Weise – mal sachlich, mal spielerisch oder künstlerisch“, heißt es auf der Website.

Kunden können hier ihre Fahrzeuge abholen. In den Pavillons können Gäste Autos bestaunen – alte und neue. Es findet eine Käfer-Ausstellung statt. Es gibt einen Dufttunnel mit 2.160 Blumentöpfen und die Möglichkeit, Fahrtrainings zu absolvieren. In der Weihnachtszeit hat die Autostadt Workshops angeboten. So konnten Kinder in der „kleinen Weihnachtsbäckerei“ Kekse backen. Wer es sich leisten kann, lässt es sich abends im Drei-Sterne-Restaurant oder Fünf-Sterne-Hotel mit Spa gutgehen. Etwa zwei Millionen Menschen besuchten die Autostadt vor der Coronapandemie. Mehr als 40 Millionen waren es seit der Eröffnung im Jahr 2000.

Eine Marke an einem Ort abseits von Metropolen zu inszenieren, wirkt bei global agierenden Konzernen erst einmal ungewöhnlich. Doch wer Emotionen erzeugen und Informationen nachhaltig im Gedächtnis von Zielgruppen verankern will, muss etwas Greifbares schaffen – und ein Erlebnis. Das prominenteste Beispiel für diese Strategie ist der Disney-Konzern, der in den Themenparks an seine Filme anknüpft. Im kleineren Maßstab haben sich auch BMW mit der BMW Welt in München sowie Mercedes-Benz mit seinem Museum Kommunikationsplattformen geschaffen.

Mercedes-Benz Museum

Zwölf Räume, etwa 160 ausgestellte Fahrzeuge, 16.500 Quadratmeter Fläche und rund 850.000 Besucher im Jahr 2019 sind die wichtigsten Kennzahlen des Mercedes-Benz Museums in Stuttgart. „Für das Unternehmen ist das Mercedes-Benz Museum die größte Markenplattform. An keinem anderen Ort kann man der Marke dauerhaft und so umfassend in ihrer ganzen Vielfalt begegnen“, erklärt Pressesprecherin Friederike Valet. Etwa 60 Prozent der Gäste kommen aus dem Ausland – vor allem aus China, den USA und Frankreich. Sie werden somit zu internationalen Botschaftern, die ihre Eindrücke persönlich oder über die sozialen Netzwerke teilen. Mercedes-Benz hat reichlich Geschichten zu erzählen – vom ersten Auto 1886 über die „Silberpfeile“, den Bus der deutschen Mannschaft bei der Fußball-WM 1974 bis zu den jüngsten Erfolgen in der Formel 1. Hinzu kommen die Präsentation der neuesten Fahrzeugmodelle, technische Innovationen und Konzeptfahrzeuge. „Mythos“ und „Collection“ heißen die Erzählstränge der Museumsrundgänge. Einen Audioguide gibt es in acht Sprachen, um das Informationsbedürfnis internationaler Besucher abzudecken.

„Die Dauerausstellung des Museums ist so angelegt, dass die Besucherinnen und Besucher eine Reise durch die Zeit zurücklegen: beginnend bei den ersten Automobilen der Welt bis zu den aktuellen Fahrzeugen aus diesem Jahrtausend“, sagt Friederike Valet. Ergänzend finden im Museum ganzjährig Events und ein Kulturprogramm statt. Dazu gehören das markenoffene Klassikertreffen Classics & Coffee, der Konzertsommer und das Open-Air-Kino. Die Sonderausstellung „Moving in Stereo“ zeigt 150 Kunstwerke aus dem Bestand von Mercedes-Benz. „Wir richten unsere Aktivitäten zielgruppenspezifisch aus. Um ein Beispiel zu nennen: Unter der Woche besuchen sehr viele Schulklassen das Museum und nehmen das für sie speziell gestaltete Angebot gerne wahr. Dasselbe gilt für unsere Familienprogramme“, so Valet. Die Architektur selbst ist bereits außergewöhnlich.

Lindt Home of Chocolate

Das Lindt Home of Chocolate wurde 2020 am Firmensitz von Lindt & Sprüngli in Kilchberg bei Zürich in der Schweiz eröffnet. Das Schokoladenmuseum wird von der unabhängigen Stiftung Lindt Chocolate Competence Foundation finanziert und informiert markenübergreifend über die weltbekannte Schweizer Schokolade. Das strategische Ziel: den Schokoladenstandort Schweiz langfristig zu sichern. Es geht darum, Wissen über Schokolade aus der Schweiz zu vermitteln und Begeisterung für die Produkte und die Tradition zu wecken.

Auch hier ist das Gebäude imposant. Es wurde von den Basler Architekten Christ & Gantenbein konzipiert. Optisches Highlight der Ausstellung ist im Atrium ein mehr als neun Meter hoher Schokoladenbrunnen, den 1.500 Kilogramm Schokolade umfließen. Besucher erkunden das Gebäude auf einem Rundgang. Es geht um Kakaoanbau auf Plantagen, die Schokoladengeschichte, Schweizer Schoko-Pioniere, Produktion und Innovationen.

Die Erwartung der Besucher ist, auch Schokolade probieren, schmecken und riechen zu können – alle Sinne sollen angesprochen werden. Für den Genuss gibt es drei Schokoladenbrunnen – jeweils einen für weiße und dunkle Schokolade sowie einen für Milchschokolade und ein Tasting der bekannten Lindor-Kugeln. Gäste können auch Schokolade mahlen – wie in historischen Zeiten. Im gesamten Museum verteilt sind „Selfie Spots, wo man die perfekten Fotos machen kann“, wie PR-Manager Daniel Huggenberger erläutert. Fast eine halbe Million Besucherinnen und Besucher kamen in diesem Jahr in das Museum. Die wichtigsten Zielgruppen sind Huggenberger zufolge „Touristen, Schweizerinnen und Schweizer, Familien und Schulklassen“, die sich im nach Museumsangaben „größten Schokoladenshop der Welt“ auch für zu Hause eindecken können.

Das Atelier Brückner ist verantwortlich für die Szenografie des Lindt Home of Chocolate. Die Stuttgarter Gestaltungsspezialisten mit rund 120 Mitarbeitenden konzipieren weltweit für öffentliche Auftraggeber, Stiftungen und Unternehmen Ausstellungen, Architekturen und Erlebnisräume, die Geschichten erzählen und Wissen vermitteln. Zu den aktuellen Projekten gehören unter anderem die Gestaltung der Tutanchamun Galerie im Grand Egyptian Museum an den Pyramiden von Gizeh in Ägypten, der Novartis Pavillon in Basel und das Natural History Museum in Oslo. Auch die Gestaltung des großen Handelssaals der Deutschen Börse sowie des BMW Museums entstammen der Idee von Atelier Brückner.

René Walkenhorst ist dort einer der Partner. Er war als Projektleiter für das Lindt Home of Chocolate verantwortlich. Wie ging er bei dem Schokoladenmuseum vor? Wie schafft man ein nachhaltiges Erlebnis?

„Uns war es wichtig, dass die Besucher einen selbsterklärenden Zugang zu den Inhalten erhalten“, sagt Walkenhorst. „Der Trend ist heute, dass Besucher keine langen Texte mehr lesen und auf Anhieb verstehen wollen, worum es geht.“ Ein nachhaltiges bleibendes Erlebnis muss entsprechend ohne viele Buchstaben entstehen. „Es muss für sich stehen und die Kernbotschaften vermitteln, ohne dass lange Texte gelesen werden müssen.“

Die Besucher des Lindt Home of Chocolate sind sehr unterschiedlich. Eine Gruppe: Touristen, die in der Schweiz Urlaub machen, manchmal weder die deutsche noch die englische Sprache sprechen und nur wenig Zeit mitbringen. Andere wollen sich im Detail über Schokoladenherstellung und -geschichte informieren. Die Ausstellung muss auf die Besucher reagieren. Sie muss so angelegt sein, dass sie die Balance herstellt, um Besucher nicht zu über-, aber auch nicht zu unterfordern. In modernen Museen ist zudem die Berücksichtigung der Bedürfnisse von Menschen mit Beeinträchtigungen eine Selbstverständlichkeit. Die Herausforderung der verschiedenen Sprachen adressiert das Home of Chocolate über Audioguides. Ein Maître begleitet über das Ohr den Rundgang durch die Ausstellung.

Am auffälligsten ist der riesige Schokoladenbrunnen im Eingangsbereich, um gleich ein Ausrufezeichen zu setzen. Der Brunnen fungiert auch als Fotopunkt. In Social-Media-Kategorien gedacht entsteht hier ein Instagram-Moment. „Von einem Markenmuseum wird heute eingefordert, das Erlebnis weiterzutragen“, sagt Walkenhorst. In die Online-Welt.

Die Aufmerksamkeitsspanne, um überhaupt Informationen aufzunehmen, beziffert er auf etwa 30 Minuten. Die Aufgabe eines Kurators und Veranstalters sei es, diese Spanne zu verlängern. Walkenhorst und sein Team denken in Spannungskurven: „Es gibt Bereiche, in denen man in einen Film eintauchen kann. Danach kommen Räume mit mehr Text und Bereiche für das Gustieren von Schokolade.“

Vereinfacht gesagt: Es gilt, zwischen ruhigen und aktionsreichen Phasen abzuwechseln. Auch Raum für Gespräche zwischendurch muss es geben. „Wenn ich immer nur lesen muss, höre ich damit nach einer halben Stunde auf“, sagt Walkenhorst. Gibt es nur laute Unterhaltung ohne Tiefgang, stellt sich das Gefühl ein, nichts mitzunehmen oder gelernt zu haben. Das Schlechteste für Markenplattformen oder Ausstellungen ist, dass die Gäste unzufrieden sind und ihren Unmut im Internet äußern. Was empfinden Besucher in einem Schokoladenmuseum als negativ? Walkenhorst: „Warten! Und keine Schokolade zu bekommen, wenn diese vorab versprochen war.“

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe #Nachhaltigkeit. Das Heft können Sie hier bestellen.

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