Gefühl für Timing und Debatten

Agenda Setting

“Agenda Surfing statt Agenda Setting? Inwieweit können einzelne Unternehmen Debatten lostreten und die mediale ­Agenda bestimmen?” Das haben wir Regine Kreitz gefragt. Sie leitet die Kommunikation bei der Stiftung Warentest und ist Präsidentin des BdKom. Ihre Antwort.

“Der Begriff Agenda Setting hatte für mich schon immer etwas Großmäuliges. Einfach mal so ein Thema setzen, über das dann alle reden sollen? Natürlich kann das gelingen, wenn es sich beispielsweise um ein außergewöhnliches Ereignis handelt. Tesla konnte bei der Standorteröffnung sogar Medien aussperren. Alle Augen waren dennoch auf Grünheide gerichtet.

Ob das klug war, steht auf einem anderen Blatt. Aber wer wirklich neue Debatten eröffnen oder grundlegend beeinflussen will, muss einen langen Atem haben und sich zu verbünden wissen. Wie sehr würden wir davon profitieren, hätten es einzelne Organisationen vor 25 Jahren geschafft, den Klimaschutz auf der weltweiten Agenda dort zu platzieren, wo er heute steht! Nur mühsam kletterte das Thema auf der medialen Tagesordnung nach oben, obwohl nicht nur alle notwendigen Fakten auf dem Tisch lagen, sondern auch viele einflussreiche Stimmen sich dafür starkmachten. Warum? Auch weil es weitaus mächtigere Player gab, die das Thema eben nicht auf der Agenda sehen wollten. Gibt es eigentlich auch hierfür einen Fachbegriff? Agenda Clearing?

Ist Agenda Surfing dann eher etwas für Opportunist*innen, die ihr Fähnchen nach dem Wind hängen, um was von der Aufmerksamkeit abzubekommen? Ja, wenn es falsch verstanden und schlecht gemacht ist. Der Pride Month liefert hier oft zahlreiche Beispiele. Dann fliegt es aber auch schnell auf. Gutes Agenda Surfing heißt hingegen, die gesellschaftliche Debatte genau zu beobachten und den eigenen Akzent darin mit einem Gefühl für das Timing zu setzen. Und zwar nicht nur einmal, sondern permanent.

Organisationen, denen es damit ernst ist, wissen auch, wann es Zeit ist, die Klappe zu halten. Und das war nie so wertvoll wie heute. Wenn eine Pandemie oder ein Krieg ‚dazwischenkommen‘, muss man die ursprüngliche eigene Agenda loslassen können – und zwar schnell. Die Deutsche Bahn etwa hat nach dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs sofort ihre Kommunikationsprioritäten verschoben. Die Hilfe für Geflüchtete und der Transport von Hilfsgütern standen im Vordergrund und wurden mit angemessener Nüchternheit und Empathie kommunikativ begleitet. Andere – wie beispielsweise Edeka – enttäuschten wiederum mit hohlen Lippenbekenntnissen.

Wenn unsere krisenreichen Zeiten etwas Gutes haben, dann ist es, dass die Zuhörer oft besser aufgestellt sind als die Großmäuler.“

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe #AgendaSetting. Das Heft können Sie hier bestellen.