Vom Sieg der Atomkonzerne, der keiner war

Meinungsbeitrag

Man kennt das Phänomen „Informationsblase“ von internationalen Konferenzen, so beispielsweise zu beobachten bei der als „historischer Erfolg“ gefeierten Weltklimakonferenz in Paris Ende 2015. Auch die Journalisten vor Ort – und nicht wenige Vertreter von Nichtregierungsorganisationen – bejubelten das Ergebnis, statt aus journalistisch und fachlich gebotener Distanz zu analysieren, was das Paris-Abkommen im Einzelnen bedeutet und welche Fragen offen geblieben waren. Dies geschah erst in den Monaten danach. Nach der vor Kurzem verkündeten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe zu den Beschwerden der Betreiber von Atomkraftwerken in Sachen Atomausstieg wurde erneut deutlich, wie Realität gelegentlich medial verzerrt dargestellt wird.

Redaktionen: Im Wettlauf mit Social Media oder fehlendes Hintergrundwissen

Ob dies geschah, weil sich Redaktionen zunehmend gezwungen sehen, im Wettlauf mit sozialen Medien wie Twitter oder Facebook weiterhin die Ersten zu sein oder schlicht wegen fehlendem Hintergrundwissen, das müssen jene, die für Fehlinterpretationen verantwortlich sind, sich jedenfalls fragen lassen. Fakt ist, dass eine erste Eilmeldung der Nachrichtenagentur dpa wenige Minuten nach Beginn der Urteilsverkündung zu einer ganzen Reihe von fehlerhaften Schlussfolgerungen führte, die viele Redaktionen leider bis heute nicht korrigierten.

„Konzernen steht angemessene Entschädigung für Atomausstieg zu“, hieß es aus Karlsruhe zunächst bei dpa und kurz darauf meldete die Nachrichtenagentur in einem Überblick, dass es um Gesamtforderungen in Höhe von „rund 19 Milliarden Euro“ gehe. Wenige Augenblicke später liefen diese Zeilen als Eilmeldungen über sämtliche Nachrichten-Seiten der großen Tageszeitungen und erweckten so den Eindruck, als hätten die Energiekonzerne ihre Klage gewonnen und die Bundesregierung müsse nun wegen eines überhasteten Atomausstiegs enorm hohe Entschädigungszahlungen leisten. Dies entspricht jedoch nicht den Tatsachen, denn im Kern hat das Gericht die Beschwerden der Konzerne abgelehnt und den Atomausstieg bestätigt. Um Milliarden hätte es nur dann gehen können, wenn das Gericht die Rücknahme der Laufzeitverlängerungen von 2010 grundsätzlich für verfassungswidrig erklärt hätte. Das hat es aber nicht getan. Lediglich „in Randbereichen“ muss das entsprechende Gesetz jetzt nachgebessert werden. Voraussichtlich geht es noch um einige hundert Millionen Euro Schadensersatz. Fraglich ist zudem, ob die AKW-Betreiber am Ende überhaupt etwas bekommen. Doch der angebliche „Sieg der Energiekonzerne“ und die Milliarden-Zahlen stehen weiter im Raum. Auch Schweizer Medien berichteten kurz nach dem Urteil: „Die Klagen mehrerer Atomkonzerne auf Entschädigung wegen des 2011 beschlossenen Atomausstiegs sind im Wesentlichen erfolgreich“ – ebenfalls eine klare Falschmeldung. Diese unzutreffende Information verbreitete sich, wie im Zeitalter der sozialen Medien üblich, in Windeseile auch in viel gelesene Online-Portale unter anderem der Welt, des Spiegels, der taz und von N24. Zugleich stiegen die Aktienkurse von Eon und RWE. Die ersten anders lautenden Pressemitteilungen von atomkritischen Organisationen wie dem BUND und .ausgestrahlt fanden zwar Eingang in einige Print-Berichte am Tag darauf, jedoch dominierten online wie auch in vielen Medien weiterhin Schlagzeilen wie „Staat muss Stromriesen entschädigen“ (bild.de). Ergänzt wurde dies dann im Artikeltext um die weniger sichtbare Botschaft „allerdings nur zu einem kleinen Teil“. Die falsche Berichterstattung wurde relativiert, aber nicht korrigiert.

Ein Lehrstück über die moderne Medienwelt

Die Berichterstattung rund um das Atom-Urteil von Karlsruhe ist ein Lehrstück über und für die moderne Medienwelt und ein Beleg dafür, wie wichtig die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen ist. Deutlich wurde aber auch, dass die Berichterstattung durch kompetente Fachjournalisten unersetzlich bleibt. Die ARD, der Deutschlandfunk und andere Medien, die sich noch Gerichtsreporter leisten, wussten schon wenige Minuten nach dem Urteil den Sachverhalt richtig einzuordnen. Auch die gedruckten Ausgaben der Süddeutschen Zeitung und der taz berichteten zutreffend. Dort aber, wo spezialisierte Journalisten und damit auch sachliche Kompetenz in den vergangenen Jahren immer weniger wurden, dominierte eine verfälschende und damit industriefreundliche Sichtweise.

Wer heute Medienkritik betreibt, steht gelegentlich im Verdacht, am rechten Rand fischen zu wollen. Darum geht es mir natürlich nicht. Als Vertreter im ZDF-Fernsehrat möchte ich aber das Ansehen und das Vertrauen in die sogenannten klassischen Medien in einer von Lügenmedien-Anwürfen belasteten Öffentlichkeit stärken. Weiterhin ist auf die vielseitige und daher insgesamt ausgewogene deutschsprachige Medienlandschaft mit ihren Nachrichtenagenturen und anderen unabhängigen Berichterstattern meistens Verlass. Ganz überwiegend verfahren sie entsprechend dem Pressekodex und bilden damit auch einen Gegenpol zu Medien, die durch bestimmte Staaten oder rechtslastige Akteure gesteuert werden und offensiv sogar Falschmeldungen verbreiten, wie die russischen Fernsehsender RT oder „Sputnik“.

Genau deshalb sehe ich die Berichterstattung der Medien rund um das „Atomurteil“ des Bundesverfassungsgerichtes kritisch. Journalisten, die völlig unabhängig von industriepolitischen Einflüssen und Interessen berichteten, waren in einzelnen Bereichen wie der Energie- oder der Verkehrspolitik schon immer rar. Auch deshalb sind die als Informationsquelle für andere Print- und Online-Medien, für Radio- und auch TV-Journalisten wesentlichen Nachrichtenagenturen nicht zu unterschätzen. Um die Meinungsvielfalt zu stärken und rechtspopulistischen Tendenzen entgegenzuwirken lautet daher mein Appell insbesondere an Nachrichtenagenturen: Im Zweifel muss Richtigkeit vor Schnelligkeit gehen. Und mein Appell an alle Leserinnen und Leser ist: Für guten Journalismus und eine stabile Demokratie lohnt es sich, auch weiterhin Geld auszugeben. Facebook und Google-News mit ihren Algorithmen können eine vielfältige Medienlandschaft nicht ersetzen.

 

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