Vernachlässigte Ethik

Digitale Kommunikation

Digitale Plattformen bieten neue Chancen für Kommunikator*innen. Doch gleichzeitig entstehen Grauzonen, die schwer zu greifen sind. Viele erinnern sich an die bundesweiten Diskussionen um die Kommunikation zur Heinsberg-Studie im Frühjahr 2020, die zu einer Rüge der beteiligten Agentur durch den Deutschen Rat für Public Relations führte. Doch wie häufig treten ethische Dilemmata auf? Welche digitalen Praktiken sind besonders problematisch? Helfen Branchenkodizes weiter? Diesen Fragen sind wir in einer europaweiten Studie nachgegangen. Die Befunde für den deutschsprachigen Raum geben interessante Einblicke und Denkanstöße.

Die Potenziale digitaler Medien für die Unternehmens- und Organisationskommunikation sind in aller Munde. Neue Praktiken führen zwangsläufig zu neuen Herausforderungen. Im Branchendiskurs und auch in der Wissenschaft geht es zumeist um Effizienz und Effektivität. Dass die Ethik ebenso bedeutsam ist, liegt auf der Hand. Nicht alles, was möglich und rechtlich zulässig ist, ist normativ gerechtfertigt. Beispiele für Grauzonen finden sich überall: intransparente Beiträge von Influencern und auf Online-Portalen, das Profiling von Nutzern auf Websites oder auch Erfolgsnachweise von Agenturen an Auftraggeber in Form von Nutzerzahlen, die auf Aktivitäten von Bots zurückzuführen sind. Empirische Erkenntnisse über das Ausmaß dieser Probleme und mögliche Lösungsansätze wurden im Rahmen des diesjährigen „European Communication Monitor“ erstmals erhoben.

Zunahme von Grauzonen

Europaweit haben etwa zwei von drei Kommunikatoren (68 %) und Kommunikatorinnen (63 %) in den vergangenen zwölf Monaten bei ihrer täglichen Arbeit eine oder mehrere ethische Herausforderungen erlebt. Lediglich ein Drittel der Befragten berichtete über keine Probleme. Wer in Agenturen arbeitet, ist tendenziell etwas häufiger betroffen – möglicherweise deshalb, weil hier viele operative Tätigkeiten der externen Kommunikation anfallen. Dabei werden Dilemmata naturgemäß schneller sichtbar als bei inhouse anfallenden Aufgaben wie zum Beispiel der Steuerung und der internen Kommunikation.

Wer in Agenturen arbeitet, erlebt häufiger ethische Herausforderungen. (c) ECM 2020

Wer in Agenturen arbeitet, erlebt häufiger ethische Herausforderungen. (c) ECM 2020

Ein Vergleich mit früheren Daten zeigt, dass der Gesamtanteil der Betroffenen im Berufsfeld und die Häufigkeit ethischer Grauzonen in den letzten Jahren klar zugenommen haben. Im deutschsprachigen Raum musste sich die Mehrzahl der Kommunikator*innen mit ethischen Dilemmata auseinandersetzen. Der Anteil der Kommunikator*innen, der davon ganz verschont blieb, ist in der Schweiz am geringsten (32 %) und in Deutschland am größten (44 %); Österreich liegt mit 37 % in der Mitte.

Bots und Big Data als Problembereiche

Durch den Einsatz digitaler Technologien sind neue Praktiken entstanden, die in der Branche weniger institutionalisiert sind und von gängigen Verhaltenskodizes seltener thematisiert werden als die traditionelle Medienarbeit oder Werbung. Beispiele hierfür sind der Einsatz von Social Bots, Big-Data-Analysen, aber auch die Arbeit mit Influencern und Corporate Influencern. Unsere Studie zeigt, dass sich die meisten Kommunikationsprofis durch diese Praktiken ethisch herausgefordert fühlen.

Der Einsatz von Bots in der Social-Media-Kommunikation wird von vielen Kommunikationsprofis als problematisch erachtet. (c) ECM 2020

Der Einsatz von Bots in der Social-Media-Kommunikation wird von vielen Kommunikationsprofis als problematisch erachtet. (c) ECM 2020

Dabei zeigen sich länderspezifische Unterschiede. Alle thematisierten Dilemmata werden von Kommunikator*innen aus der Schweiz häufiger als problematisch bewertet. Dies deutet darauf hin, dass dort entweder eine größere Sensibilität für ethische Fragen vorliegt oder dass in Deutschland und Österreich schon mehr Erfahrungen gesammelt beziehungsweise mehr Aufklärung betrieben wurden, so dass man sich besser gewappnet fühlt und die Herausforderungen anders einstuft. Die zweite Interpretation wird dadurch untermauert, dass schon länger bekannte und diskutierte Fragen wie datengestütztes Profiling oder die Bearbeitung öffentlicher Wiki-Einträge überall in der Branche als am wenigsten problematisch eingeschätzt werden.

Zahnlose Kodizes

In moralischen Dilemma-Situationen müssen Entscheidungen getroffen werden. Orientierung bieten neben dem eigenen Gewissen, das von individuellen Werten und Überzeugungen geprägt wird, sowohl ethische Richtlinien der jeweiligen Organisation als auch Kodizes auf Ebene der Professionen. Die einschlägigen Kommunikationskodizes für das Berufsfeld Kommunikationsmanagement/PR können auf den Websites der Ethikräte eingesehen werden. Sie werden – wie die Studie zeigt – europaweit allerdings nur von wenig mehr als der Hälfte (58 %) der befragten Kommunikator*innen für die Bewältigung konkreter ethischer Herausforderungen genutzt.

Im deutschsprachigen Raum sind die Kodizes noch weniger wirkmächtig (Deutschland: 44 %; Österreich und Schweiz: 43 %). Ein Grund könnte sein, dass Ethiktrainings, in denen diese Kodizes vermittelt werden, weniger verbreitet sind als in anderen Ländern. In der Schweiz (48 %) und in Deutschland (45 %) hat annähernd jeder zweite Befragte noch nie an entsprechenden Praxistrainings oder Kursen im Studium teilgenommen. Nur sehr wenige haben in jüngster Zeit (weniger als ein Jahr) ethische Kompetenzen vermittelt bekommen – 16 % in Deutschland, 7 % in der Schweiz. Die von vielen Skandalen geprägte Branche in Österreich ist in dieser Hinsicht besser aufgestellt: Dort berichten 23 % der Kommunikator*innen über ein kürzlich besuchtes Ethiktraining. Nur 31 % wurden in der Aus- und Weiterbildung noch nie mit dem Thema konfrontiert.


Über die Studie

Der „European Communication Monitor 2020“ stützt sich auf eine Befragung von 2.324 Kommunikationsfachleuten aus 44 europäischen Ländern. Die meisten sind Führungskräfte mit mehr als zehn Jahren Berufserfahrung. Die Studie wird seit 2007 jährlich durchgeführt und durch komplementäre Erhebungen in Nordamerika, Lateinamerika und Asien-Pazifik ergänzt. Das ECM-Forschungsteam unter Leitung von Ansgar Zerfaß besteht aus 25 Professor*innen von renommierten Universitäten. Alle Ergebnisse finden Sie hier.


Ein weiterer Grund für die große Bedeutung individueller Werte und Überzeugungen dürfte die Dynamik der öffentlichen Kommunikation und der im Berufsfeld eingesetzten Technologien und Vorgehensweisen sein. Viele Grauzonen lassen sich schwer fassen und verallgemeinern. Mögliche Handlungsoptionen sind ebenso vielschichtig wie die Kommunikationspraxis selbst. Das erschwert die Erstellung übergreifender Richtlinien. Agenturen und Kommunikationsabteilungen sind dabei tendenziell noch in einer besseren Position, weil ihre Handlungsfelder besser eingrenzbar sind, als Verbände, die ganze Professionen abdecken und zwangsläufig institutionell träge sind.

Berufsverbände können ihre Deutungsmacht und Vorbildfunktion dennoch einsetzen. Ein Beispiel dafür ist der jüngst veröffentlichte „Ethics Guide to Artificial Intelligence in PR“ des Chartered Institute of Public Relations (CIPR) in Großbritannien. Etwas Vergleichbares gibt es hierzulande noch nicht. Die jüngsten Entwicklungen im deutschsprachigen Raum sind die 2018 aktualisierte Richtlinie zur PR in digitalen Medien und Netzwerken des Deutschen Rats für Public Relations und der im gleichen Jahr ebenfalls überarbeitete Kodex „Ethik in der Digitalen Kommunikation“ des PR-Ethik-Rats in Österreich. Zudem hat der Bundesverband Influencer Marketing im Dezember 2019 einen gemeinsam mit der Universität Leipzig erarbeiteten „Ethikkodex Influencer-Kommunikation“ veröffentlicht.

Die skizzierten Befunde stoßen bei Entscheider*innen in der Kommunikationsbranche auf Widerhall. „Die Studie weist auf die Notwendigkeit hin, stärkere Kompetenzen in der Kommunikationsethik zu entwickeln. Gezielte, aktuelle und regelmäßige Schulungen sind gefragt – insbesondere für jüngere, weniger erfahrene Fachleute“, sagt GPRA-Vizepräsidentin Alexandra Groß, Vorstandsvorsitzende der Agentur Fink & Fuchs aus Wiesbaden.

In diese Richtung denkt auch Thomas Leitner von Cision Deutschland, der auf die verschiedenen Facetten technologischer Innovationen hinweist: „Digitale Kommunikation über alle Kanäle bietet neue Chancen zur genauen Adressierung von Zielgruppen. Die notwendige Infrastruktur gilt es abzusichern und Mitarbeiter zu sensibilisieren – auch im Hinblick auf die Spielregeln in rechtlich noch ungeregelten Bereichen.“

Schulungen sind gefragt

Wie das konkret umzusetzen ist, bedarf gemeinsamer Anstrengungen der gesamten Branche. Verbände und Forscher*innen können gemeinsam konkrete Problemlagen identifizieren und Leitlinien entwickeln, die hinreichend konkret werden und neue Entwicklungen aufgreifen. Derartige Leitlinien müssen im Wechselspiel mit rechtlichen Vorgaben betrachtet werden. „Absendertransparenz, Richtigkeit der Information und Respekt sind keine unverbindlichen Empfehlungen, sondern notwendige Kriterien für jegliche Form der Online-Kommunikation“, sagt Sabine Einwiller, Vorsitzende des Österreichischen Ethik-Rats für Public Relations. „Deshalb begrüßen wir das von der Regierung in Wien geplante Gesetzespaket gegen Hass im Netz, das Branchenkodizes untermauern wird.“

Agenturchefs und Leiter*innen von Kommunikationsabteilungen können ethische Grauzonen bei der Planung und dem Review von Projekten und in Mitarbeiter*innengesprächen ansprechen und damit Raum für Reflexionen geben. Bei internen und externen Weiterbildungen im Bereich der digitalen Kommunikation muss das Thema Ethik integriert werden. Vor allem aber liegt es an jedem selbst, die Konsequenzen des eigenen Handelns für andere, die Kompatibilität mit allgemeinen Werten und mit dem eigenen Gewissen im Blick zu behalten – jeden Tag, bei großen und bei kleinen Entscheidungen im Berufsalltag.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe DIVERSITY. Das Heft können Sie hier bestellen.

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