Herr Röhn, auf Ihrer Website schreiben Sie, Recherche vor Ort sei nicht nur wichtig, sondern alternativlos. Jetzt sind Sie in die Welt der Zahlen abgetaucht. Warum haben Sie Corona zu Ihrem Thema gemacht?
Röhn: Da bin ich so reingerutscht. Vor der Pandemie habe ich mich um das Thema Flüchtlingskrise gekümmert. Über den ersten Lockdown in Spanien habe ich dann berichtet, weil ich hier der einzige „Welt“-Reporter war. Im ersten Pandemiejahr war ich trotzdem relativ viel auf Reisen. Die intensive Beschäftigung mit der Lage in Deutschland hat damit begonnen, dass ich letzten Winter fünf Monate an der Uniklinik Köln recherchiert und das Pflegepersonal und die Mediziner bei ihrem Kampf gegen die zweite Welle begleitet habe. Ich finde, so eine Pandemie mit ihren Auswirkungen ist nicht nur ein Thema für Wissenschaftsjournalisten, sondern ein Jahrhundertthema für Reporter.
Im Dezember haben Sie in der „Welt“ über verzerrte Inzidenzwerte bei Geimpften und Ungeimpften in Bayern geschrieben, die dadurch entstehen, dass Menschen mit unbekanntem Impfstatus den Ungeimpften zugerechnet werden. Das war zwar kein Geheimnis – wie viele Menschen das mitunter betrifft, war aber nicht bekannt. Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen?
Röhn: Das ist eigentlich durch Zufall entstanden. Dass Ungeimpfte in den Inzidenzen ausgewiesen werden, habe ich in Spanien nie gesehen. Irgendwann habe ich mich gefragt: Kann das wirklich sein? Und dann habe ich einfach mal nachgefragt bei der Pressestelle des Landesamts für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit in Bayern. Dabei kam raus, dass in einer Woche 70 Prozent der Fälle nicht bekannt waren – und eben den Ungeimpften zugerechnet wurden. Das habe ich bei Twitter geteilt, weil ich abklopfen wollte, ob das die Leute interessiert. Dann erst habe ich darüber geschrieben.
Auch in Hamburg stimmten Zahlen nicht. Wie sind Sie dort an die korrekten Zahlen gekommen?
Röhn: Es gab erst die Berichterstattung in der „Welt“, dass Hamburg Zahlen verheimlicht. Und ich habe auch immer wieder bewusst über Twitter Druck ausgeübt und gesagt: Ja, Bayern, schlimm – aber wollen wir mal Hamburg nicht vergessen. Die korrekten Zahlen hat am Ende die FDP-Abgeordnete Anna von Treuenfels-Frowein in der Antwort auf ihre Kleine Anfrage bekommen. Ich habe das dann aufgeschrieben. Mir wurde gesagt, die Zahlen könne man mir nicht nennen.
Dabei sind Behörden ja auskunftspflichtig.
Röhn: Ich glaube, dass sich in dieser Coronapandemie viele Pressesprecher oder Behörden gegenüber der Öffentlichkeit nicht rechenschaftspflichtig fühlen. Aus Hamburg fehlen weiter Daten, die wir angefragt haben, und deswegen gehen wir jetzt mit allen juristischen Mitteln gegen den Senat vor. Mittlerweile gibt es ein Verwaltungsgerichtsverfahren. Ich nehme das nicht persönlich, aber wenn man fragt: „Wie kommt ihr zu der Berechnung?“ Und wenn eine Behörde oder ein Ministerium dann antwortet: „Das sagen wir nicht.“ – Das lässt man als Journalist, der seinen Job ernst nimmt, nicht mit sich machen.
Wie viele Anfragen sind dem Gerichtsverfahren vorausgegangen?
Röhn: Ich glaube, es gingen mehrere Dutzend Nachrichten hin und her. Ich habe auch relativ früh gefragt, ob es die Möglichkeit gibt, mit Bürgermeister Tschentscher zu sprechen. Ich glaube, Journalismus muss hart sein, weil das die Leute draußen erwarten, aber er muss trotzdem fair sein. Darum hätte ich mir wirklich gerne von Herrn Tschentscher angehört, was da schiefgelaufen ist. Er spricht ja von einer IT-Panne, und wenn es wirklich eine IT-Panne gab und er mir das erklärt, dann bin ich der Letzte, der weiter von Zahlentrickserei redet. Nur wenn jemand versucht, einen Journalisten für blöd zu verkaufen, dann fällt die Berichterstattung entsprechend aus.
Haben Sie auch anderweitig geklagt?
Röhn: In Bayern haben wir quasi damit gedroht, umgehend gerichtlichen Eilrechtsschutz zur Durchsetzung eines Auskunftsanspruchs zu ersuchen. Einen Tag später haben sie dann die Zahlen rausgegeben. In Hamburg klagen wir auf Herausgabe von Unterlagen nach dem Hamburger Transparenzgesetz. Die „Welt“ ist da sehr gut aufgestellt. Das übernimmt die Rechtsabteilung. Wir leben ja in einem Rechtsstaat, und es ist klar geregelt, was Behörden und Minister an Informationen herausgeben müssen und was nicht. Irgendwann ist das auch einfach Routine: Ich stelle eine Presseanfrage, dann frage ich noch mal nach, und wenn dann nichts kommt, gebe ich es halt an unsere Rechtsabteilung.
Welche Handhaben gibt es für Journalisten jenseits von Transparenz- und Pressegesetzen?
Röhn: Ich glaube, andere Möglichkeiten gibt es nicht. Als ich mehrere Jahre lang den Niedergang des Fußballweltverbands Fifa begleitet habe, war es dort irgendwann einfach so, dass die Presseleute, um weitere negative Berichterstattung zu vermeiden, auf die Journalisten zugegangen sind und gesagt haben: „Vielleicht sollten wir uns mal austauschen.“ So verstehe ich Journalismus. Ich möchte nicht, dass ein Pressesprecher oder eine Behörde mir aus Nettigkeit eine Information gibt oder ein Interview besorgt, sondern dass Journalist und Behörde oder Ministerium auf Augenhöhe agieren.
Wie bewerten Sie die Pressearbeit von Behörden während der Pandemie?
Röhn: Ich bin jetzt erst seit ein paar Monaten dabei, so sehr kritische Nachfragen zu stellen. Und da bin ich schon arg verwundert, mit welcher Überheblichkeit Pressesprecher oder Pressesprecherinnen von irgendwelchen Verbänden oder Behörden mit Journalisten umgehen. Das ist für mich eine Überraschung gewesen. Ansonsten möchte ich das gar nicht allumfassend einschätzen. Ich glaube, Politiker und Ministerien haben die ganze Zeit irgendwelche politischen Pläne und Agenden, und dementsprechend ist dann halt die Medienarbeit.
Sie nennen auf Twitter oft Behörden, die keine Auskunft geben. Wollen Sie damit den Druck erhöhen?
Röhn: Der Leser da draußen sieht immer nur das Endprodukt, den Zeitungsbericht, den TV-Beitrag oder den Online-Text. Ich glaube, dass man teilweise einfach die komplette Kommunikation, die man als Journalist mit den Behörden hat, öffentlich machen muss. Dann ist es am Ende halt ein Text darüber, wie die Behörde Transparenz verhindert. Für den Leser ist es vielleicht sogar noch aufschlussreicher zu erfahren, wie ein Journalist versucht, Antworten zu bekommen, und wie er hingehalten oder nicht ernst genommen wird. Ich sehe gerade, dass es die Leute wirklich extrem interessiert, wenn ich teilweise einfach Rohdaten online stelle bei Twitter. Oder ich stelle Interviewanfragen öffentlich. Ich glaube, man muss Transparenz schaffen, wen man anfragt. Das erhöht dann auch den Druck.
Presseanfragen öffentlich zu machen ist das eine. Aber ist es immer klug, Rohdaten zu posten? Ist es nicht die Aufgabe von Journalistinnen und Journalisten, die Zahlen einzuordnen?
Röhn: Ich bin da gerade eher unter dem Motto unterwegs: So viel raus wie möglich. Das ist mal das große Lauterbach-Stück, mal eine Reportage aus Madrid oder eben einfach nur ein Tweet. Vorhin habe ich zum Beispiel getwittert: „Wenn nichts mehr geht, geht IFG.“ Die Stelle, die heute den Antrag nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) bekommen hat, wird den Tweet lesen und wissen, was gemeint ist. Das ist ja das Wunderbare des Journalistenberufs, dass man so einen riesigen Werkzeugkasten hat. Einordnung ist immer gut, aber teilweise müssen die Sachen auch mal blank raus. Wir haben in der Pandemie so gut wie keine Rohdaten, sondern immer Daten, die erst mal durch den Filter laufen. Ich pack halt mal ein paar Rohdaten raus. Das ist dann die Kommunikation mit der Presseabteilung. Ich glaube, dass das gar nicht mal so schlecht ist.
Die Rohdaten lesen aber auch Ihre Follower, und es erkennen nicht immer alle den Unterschied zwischen den absoluten Geimpften-Zahlen auf den Intensivstationen und der Geimpften-Inzidenz zum Beispiel. Das zieht auch Leute an, die genau das falsch verstehen wollen. Liegt es da nicht in Ihrer Verantwortung, das einzuordnen?
Röhn: Das ist ein wichtiger Punkt. Ich glaube, ich bin schon ein bisschen härter als der Durchschnitt in meinen Recherchen und in meinen Äußerungen nach außen, und gerade deswegen möchte ich Fehler vermeiden. Mit Sicherheit sind mir auch mal Fehler unterlaufen, wo ich diese Einordnung nicht gemacht habe. Aber in der Regel mache ich das. Ein Beispiel von heute morgen: Ich wusste, dass die Stiko die vierte Impfung empfehlen will, und habe einen Tweet dazu geteilt, aber noch einen Link zu einem ZDF-Beitrag drangehängt, der klarmachte: Das betrifft nur vulnerable Menschen ab 70 Jahren. Diese Einordnung ist vonnöten, sie ist aber auch immer nur bis zu einem gewissen Grad zu erreichen. Ich glaube, grundsätzlich ist es wichtig, dass ich in meiner Rolle dafür sensibilisiert bin.
Was könnten Pressesprecherinnen und Pressesprecher aus Ihrer Sicht besser machen?
Röhn: Man muss sich immer wieder vor Augen führen, dass man in ganz verschiedenen Lagern unterwegs ist. Ich glaube, die Frage wäre eher: Was können die Journalisten besser machen? Und das ist, glaube ich, den Pressesprechern das Leben schwerer zu machen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe #Leadership. Das Heft können Sie hier bestellen.