Kürzlich hat sich eine deutsche Konzernzentrale wegen eines kritischen TV-Berichts zwei Tage lang im Krisenmodus befunden. Die Unternehmenskommunikation rechnete mit 100, 200 oder mehr Anrufen beziehungsweise Anfragen von Journalisten. Denn in einem ähnlichen Krisenfall waren es vor mehreren Jahren in etwa so viele gewesen. Tatsächlich aber meldeten sich lediglich sechs Journalisten. Ganze sechs!
Gleichzeitig lag die Zahl der Medienberichte zum Thema deutlich über jener von vor ein paar Jahren. Nur sechs statt 200 Anfragen, aber gleichzeitig explodierte das Volumen der Berichterstattung dieses Mal regelrecht. Hinzu kamen dann noch all die Blogbeiträge, Tweets und Facebook-Postings. Dieses und andere Erlebnisse markieren aus meiner Sicht eine Zäsur in der Krisenkommunikation.
Etappe für Etappe noch mehr Drama
Ein Kollege von mir hat mal als Journalist gearbeitet. Er hat das journalistische Handwerk in einer echten Redaktion gelernt. Wenn er einen Beitrag geschrieben hatte und damit zum Chef vom Dienst oder Chefredakteur ging, ohne das Unternehmen oder die Person, um die es ging, angehört und zitiert zu haben, konnte es im Chefbüro laut werden. Die Selbstverständlichkeit seinerzeit: Es ist immer die andere, die betroffene, die kritisierte, die beschuldigte Seite anzuhören und zu zitieren.
Dieser Grundsatz gilt heute offenbar in immer weniger Redaktionen. Neulich erst wurde es richtig absurd: Das Nachrichtenportal A greift den kritischen Zeitungsbericht über einen unserer Kunden auf. Daraufhin schrieb das Nachrichtenportal B von A ab. Nur nicht eins zu eins. Der Inhalt wurde weiter dramatisiert. Das Thema wirkte noch skandalöser.
Und nun kommt es: Dann brachte das Portal A wiederum einen Beitrag über den Bericht auf B, also über den Bericht, der sich auf den eigenen Beitrag bezogen hatte. Man könnte sagen, das sei fast wie bei dem Spiel Stille Post vonstattengegangen. Nur eben nicht still, sondern mit zunehmender Lautstärke. Und in der Tat hat die Qualität des Inhalts wie bei Stille Post mit jeder Station stark gelitten. Nur nicht unbeabsichtigt, sondern gewollt.
Mit jeder Etappe erschien die Sache an sich noch kritischer, noch verwerflicher. Mit jedem Mal wurde sie stärker zu Lasten und zum Schaden des betreffenden Unternehmens zugespitzt. Ich beobachte, dass immer mehr Portale, aber auch Printmedien die Meldungen anderer Medien übernehmen und dann nicht nur verändern, sondern bewusst zuspitzen, ohne selbst zu recherchieren und beim Unternehmen, um das es geht, nachzufragen.
Aus Journalismus ist Performance Marketing geworden
Beim Besuch des Nachrichtenportals – sagen wir mal erneut A – fällt eines auf: An dem Tisch für den Content sitzen fünf, sechs Leute und schreiben Beiträge oder kuratieren sie. Im Nebenraum aber sitzen zehn Personen, deren Aufgabe es ist, die Performance der einzelnen Artikel zu steigern. Sie tracken Visits und PIs, tunen die Texte in kurzen Abständen, optimieren die Headlines permanent, tauschen innerhalb kurzer Zeit die Bilder aus.
Sie vermarkten den Beitrag bestmöglich. Und verändern ihn, damit er noch besser funktioniert. Dabei gilt: Je skandalöser, je reißerischer, je dramatischer der Inhalt erscheint, desto mehr Klicks sind drin. Nicht journalistische Qualität ist die Leitwährung, Klicks sind es geworden.
Ziel: Nennungen und Klicks statt ausgewogener Darstellung
Gleichzeitig scheinen Investigativ-Journalisten bestimmter Medien nunmehr neue Zielvorgaben zu haben. Es geht offenbar immer weniger um das Aufdecken echter Mängel, sondern darum, von anderen Medien möglichst oft zitiert zu werden. Das meint als Ziel: Das eigene Medium muss von anderen so oft wie möglich – kostenlos – genannt werden. Und das gelingt natürlich am ehesten mit maximal reißerisch und skandalös anmutenden Storys.
Dafür werden dann auch mal Facetten und Fakten, die eher fürs betreffende Unternehmen sprechen, vorsätzlich weggelassen. Sie würden die Skandalgeschichte nur weniger rund beziehungsweise weniger erschütternd erscheinen lassen.
Am Ende ist dies nichts anderes als Marketing. Es geht – man mag dies beklagen oder nicht oder auch sagen: „War das nicht schon immer so?“ – immer weniger um die Wahrheit, um Objektivität und ausbalancierte Berichterstattung. Es geht um Verkauf.
Das wäre nicht so dramatisch, wenn es Unternehmen und Marken nicht immer mehr und immer öfter eklatant schaden würde, ohne dass sie dies vollends verdient hätten. Ein Blick in die USA zeigt, wohin auch hierzulande die Reise irgendwann mal gehen könnte. Dort beziehen Journalisten oft nur noch ein mageres Grundgehalt, während ein variabler Bestandteil vom Traffic-Erfolg der eigenen Artikel abhängt.
Aus Krisenkommunikation wird Crisis Content Marketing
Mit Blick auf Krisenkommunikation, wie wir sie kennen, ändert diese Entwicklung vieles, wenn nicht alles. Natürlich müssen Unternehmen wie ehedem im Krisenfall unverzüglich den Fall aufklären, offen über die Fakten informieren, den Mangel abstellen und glaubhaft nachhaltige Besserung geloben. Aber sie müssen sich eben auch auf den neuen Modus und die neuen Instrumente einstellen.
Und das heißt: Zeitgemäße Unternehmenskommunikation nutzt eindeutig Instrumente des Performance- und Echtzeit-Marketings. So wird Krisenkommunikation zu Crisis Content Marketing.
Zum einen bezeichnet dies die Fähigkeit zur Echtzeitkommunikation, was nicht weniger voraussetzt, als ein disziplinübergreifendes Realtime Communication Team am Start zu haben, das Inhalte nicht erst aufwändig mit Vorstand, Aufsichtsrat, Mittelmanagement und Legal abstimmen muss.
Zum anderen bedeutet es, ein performanceorientiertes Content Marketing zu betreiben, das den anschwellenden Negativinhalten etwas entgegenzusetzen hat. Unter Einsatz von SEO, SEM, Social und Native Advertising sowie permanenter Content-Produktion, die auf die aktuelle Situation suchmaschinenzentriert reagiert oder sie sogar antizipiert.
Die Zeiten sind vorbei, in denen ein Unternehmen und seine Kommunikation im Krisenstab auf eingehende Journalistenanfragen warten sollten. Unternehmen und Marken müssen sich viel mehr – und zwar nicht nur im Krisenfall – als proaktive Profi-Publisher und agile Medienhäuser verstehen.
Das hat Auswirkung auf die Strukturen und Arbeitsweisen in den Unternehmen. Und auch PR und Marketing müssen sich vollends aus Silogrenzen befreien. Auf Agenturseite müssen vor allem Media-, PR-, Social-Media- und Content-Experten viel intensiver zusammenarbeiten, als dies oft noch der Fall ist.
Krisenhandbuch, Dark Site, (reaktives) Statement und Q&As haben früher geholfen. Krisenkommunikation muss heute eine andere sein, wenn man dem Tun anderer nicht wehrlos ausgeliefert sein will.
Tipps für Unternehmen:
• Gehen Sie nicht (mehr) davon aus, als Kritisierter auch automatisch gefragt zu werden. Äußern Sie sich aktiv, aber überlegt, so dass Ihre Sicht zur Geltung kommt.
• Betreiben Sie Krisenkommunikation auch als Content und Performance Marketing sowie zum Beispiel Native Advertising. Ihr Standpunkt braucht und verdient Reichweite, Traffic, Aufmerksamkeit.
• Klären Sie alle internen Kompetenzen und Abstimmungswege im Vorwege. Sie müssen im Krisenfall in Echtzeit antworten und reagieren können – gerade im Social Web.
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