Paul Ronzheimer holt uns im Foyer des alten Springer-Hochhauses ab und führt uns auf die Dachterrasse des 2020 eröffneten Rem-Koolhaas-Neubaus. Er wirkt entspannt. Die beiden obersten Hemdknöpfe sind geöffnet. Es wird nicht geraucht. Während unseres knapp 90-minütigen Gesprächs wird er viermal diskret sein Handy checken, das er mit einer Hülle mit integriertem Akku aufgerüstet hat.
Herr Ronzheimer, seit etwa eineinhalb Jahren läuft „Bild Live“ im Bewegtbild. Was war die erste Story, bei der Sie dachten: „Krass, wir sind relevant“?
Ronzheimer: „Bild“ ist als Marke natürlich seit Jahrzehnten relevant, aber was „Bild Live“ angeht, da war dieser Moment für mich bei Talk-Sendungen, die für große Diskussionen gesorgt haben. Besondere Aufmerksamkeit hat uns dann im Laufe von Corona die Berichterstattung aus den Ministerpräsidentenkonferenzen verschafft. Selbst die Kanzlerin hat halbironisch in internen Runden mal gesagt: „Ich bin gespannt, was ‚Bild Live‘ da heute wieder berichtet.“ Ich weiß von Nachrichtenredaktionen, die immer mehrere Kollegen zum „Bild Live“-Gucken eingeteilt haben, weil wir als Redaktion einfach als erste den aktuellen Stand der Diskussionen und auch die Entscheidungen hatten.
Machen Ihnen Live-Interviews mehr Spaß als Print-Interviews?
Eindeutig ja. Als ich als Parlamentskorrespondent angefangen habe, 2008 war das, haben mich die klassischen Print-Interviews wahnsinnig frustriert. Ich habe mal gute und sicherlich auch mal weniger gute Fragen gestellt, aber am Ende war das egal. Dann kam die Autorisierungsmaschine und viele der spannenden, überraschenden Antworten wurden gestrichen. Live ist das anders. Zwei Beispiele: Annalena Baerbock sprach bei uns über die geplanten 16 Cent Spritpreiserhöhung und Olaf Scholz gestand ein, dass er – aus Gründen der Sicherheit – nicht selber tankt und den Preis für einen Liter Benzin nicht kennt. Beide Zitate hätten es bei einer Autorisierung sicherlich nicht am Pressesprecher vorbeigeschafft.
Haben Sie überhaupt noch Lust auf Print-Interviews?
Nein, das macht mir keinen Spaß mehr. Das liegt aber nicht nur am Autorisierungsprozess, der bei Print-Interviews nun mal so ist, wie er ist. Man hat in der Live-TV-Situation weniger Zeit als für ein klassisches Interviewgespräch. Das diszipliniert, fokussierter und besser zu fragen. Wenn man das gut macht, transportiert man mehr als über ein langes, mehrseitiges Interview.
Sie sind Sonntagabend auf Sendung. Hat Anne Will mal angerufen und gefragt, was Sie ausgerechnet auf ihrem Sendeplatz suchen?
Nein, hat sie nicht. Warum der Sendeplatz? Weil es für „Bild“ wichtig ist, politisch in die Woche zu starten. Und wenn Sie jetzt den Sommer nehmen: Da sendet sonntagabends momentan ausschließlich „Die richtigen Fragen“, weil „Anne Will“ Sommerpause macht.
Sie bekommen viel Feedback und Kritik, aber auch persönliche Angriffe unterhalb der Gürtellinie ab. Wie gehen Sie damit um?
Ich arbeite für „Bild“ und bin seit 2011 bei Twitter. Ich habe also schon einige persönliche Angriffe erlebt. Häme und Spott kann ich gut ausblenden. Darin liegt aber auch eine Gefahr: Twitter insbesondere ist so voll von Spott und Häme, dass man schnell nicht mehr filtert, was davon vielleicht doch gerechtfertigte Kritik ist.
Im Interview mit SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz haben Sie sich einen Häuptlingsschmuck aufgesetzt. War die Kritik daran berechtigt?
Ich habe darüber länger nachgedacht, halte die Kritik aber für ungerechtfertigt, weil ich mich in keiner Weise über indigene Völker lustig machen würde, sondern eine Frage gestellt habe, die zuletzt zum Beispiel bei den Grünen diskutiert wurde.
War eine solche Reaktion nicht erwartbar?
Ja, möglicherweise schon. Es ging mir bei meiner Frage an Olaf Scholz um die Diskussion „Was darf man eigentlich noch sagen?“. Der Indianerhäuptling ist in diesem Kontext ein beliebtes Beispiel. Ich wollte das für unsere Zuschauer veranschaulichen und natürlich auch Scholz aus der Reserve locken. Das kann man jetzt gelungen finden oder auch nicht.
Die Frage kam auf nach einer Allensbach-Studie, nach der viele das Gefühl haben, nicht offen sprechen zu können. Was kann man in Berlin-Mitte nicht mehr sagen?
Ich glaube schon, alles sagen zu können. Man muss aber eben auch die Gegenmeinung akzeptieren. Andererseits gibt es eine Entfremdung zwischen der Hauptstadt-Blase und vielen Menschen auf dem Land. Wenn ich mit alten Freunden aus meiner Heimat in Ostfriesland spreche, merke ich immer wieder, wie sehr sie andere Themen bewegen als mich. Deswegen ist es uns wichtig, bei „Bild Live“ zum Beispiel die Spitzenpolitikerin mit dem Altenpfleger und dessen Lebensrealitäten zu konfrontieren. Und wenn in einer Sendung dann herauskommt, dass ausgerechnet unser Finanzminister nicht weiß, was derzeit ein Liter Benzin kostet, dann ist das aus meiner Sicht ein spannender Live-Moment mit viel Aussagekraft.
Was ist aus Ihrer Sicht denn eine ungerechtfertigte Kritik an „Bild“?
Mich nervt sehr, dass uns in Menschenrechtsfragen – aktuell rund um den LGBTQ-Komplex – vorgeworfen wird, dass wir uns nur starkmachen, weil es dem vermeintlichen Zeitgeist entspricht. Als „Bild“ kritisieren wir aber seit Jahren aufs Härteste Staaten wie Saudi-Arabien, Katar oder Russland sowie Organisationen wie UEFA und FIFA und deren Sponsoren. Menschenrechte zu verteidigen und Verstöße sichtbar zu machen, passiert fast täglich und häufig auf Seite 1 bei uns. Mein Eindruck ist, dass die, die uns kritisieren, uns gar nicht oder nur die Headlines lesen, die ihnen in den Twitter-Feed gespült werden.
Sie selbst haben zur Regenbogen-UEFA-Debatte getweetet. Die „Bild“-Positionierung dazu drang dagegen nicht wirklich durch.
Ich glaube, das wird schon wahrgenommen. Generell ist Applaus bei Twitter für uns kein Gradmesser. Das ist ein falscher Reflex, dem viele Journalisten gern unterliegen: nämlich zu glauben, dass viele Likes oder Shares automatisch bedeuten, dass man mit dem Thema oder der Positionierung richtigliegt. Wir wollen aus Überzeugung handeln, nicht aus Gefallsucht. Wir berichten eben nicht für die Twitter-Blase, sondern für die Breite der Bevölkerung. Unser Job muss es deshalb immer wieder sein, dass wir uns täglich von dieser politisch-medial aufgeladenen Blase entfernen und mit klaren Augen sehen, was die Menschen beschäftigt. Aber natürlich muss ich auch auf Twitter sein, weil Twitter als Recherchetool unerlässlich ist für mich als Reporter.
Die Berichterstattung aus den Ministerpräsidentenkonferenzen war für Sie und „Bild Live“ ein Gamechanger. Ihr Markenzeichen war auf einmal das immer griffbereite Handy. Wann haben Sie für sich beschlossen, das Handy mit in die Sendung zu nehmen?
Das war ein Reflex, der aber sofort gut funktioniert hat. Ich kann speziell über die MPK nur live berichten, wenn ich in Echtzeit mit meinen Informanten kommuniziere. Darüber hinaus lief auch viel über meine Kolleginnen und Kollegen im Politik-Ressort, die alle mitrecherchiert haben. Auf meinem Handy kamen diese Nachrichten dann zusammen. Von unseren Zuschauern wissen wir, dass sie es spannend finden, einem Journalisten live bei der Recherche zuzuschauen. Jetzt hat die Tatsache, dass wir dort mit dem Handy live im Studio stehen, fast ein bisschen Kultstatus bekommen.
Indem Sie live über Leaks berichten, wirken Sie direkt wieder auf das Geschehen ein. Sie sind somit Akteur und nicht mehr nur Berichterstatter. Ist das journalistisch nicht heikel?
Nein, und insbesondere nicht im Fall der MPK. Diese Sitzungen hätten nach meinem Demokratieverständnis so niemals stattfinden dürfen, sondern öffentlich ins Parlament gehört. Das Parlament war faktisch ausgeschaltet und bei der Tragweite der Entscheidungen fehlte mir die Transparenz. Ein Problem wäre es gewesen, wenn wir die jeweiligen Leaks nicht durch unterschiedliche Quellen gesichert hätten. Das war in der schnellen Live-Situation eine große Herausforderung, aber für uns Standard.
Was machen Sie, wenn in einer Post-Videocall-Zeit inklusive einer vielleicht frischen, neuen Regierungsbesetzung die exklusiven Infos per SMS versiegen?
Das müssen wir natürlich unter allen Umständen verhindern (lacht). Spaß beiseite. Zum einen erwarte ich, dass die kommenden Koalitionsgespräche eine ähnliche Dynamik wie die MPK entwickeln. Da geht es um viel. Da werden wir eng dranbleiben und mein Handy wird sicherlich zum Einsatz kommen.
Also geht es weiter wie bisher?
Wenn ich für mich spreche, sehe ich natürlich noch Luft nach oben. Ein Kritiker hat mal über mich geschrieben, dass ihn mein Auftritt ans „Dschungelcamp“ erinnere. Der dazugehörige 15-Sekunden-Zusammenschnitt war in der Tat wenig schmeichelhaft. Dabei war auch mein Lachanfall, nachdem ich die SMS zu Scholz’ schlumpfigem Grinsen gelesen hatte. Natürlich ist das nach zwölf Stunden Dauersendung irgendwie menschlich. Auf der anderen Seite war der Grund unserer Berichterstattung ein sehr ernster. In einem solchen Kontext war das unprofessionell und unangebracht von mir. Das geht besser.
Wer ist aus Ihrer Sicht im TV richtig gut?
Da ich als Krisenreporter gestartet bin, finde ich den US-Reporter Anderson Cooper wahnsinnig faszinierend. Als Jugendlicher hat mich im TV besonders Michel Friedman fasziniert. Er hat damals ähnlich wie beim „Hardtalk“ bei BBC sehr hart und gut nachgefragt. Besondere Empathie und das Knallharte bringt auch Sandra Maischberger immer wieder richtig gut zusammen. Ein Talk sollte auch immer eine Challenge sein. Nicht gehässig und auch nicht wie beim Staatsanwalt, aber hart in der Sache. Das habe ich mir zum Vorbild genommen. Manchmal klappt das gut, manchmal nicht.
Das klingt nicht nach Wohlfühlzone. Warum sollte sich ein Armin Laschet das antun?
Er war ja bereits mehrfach bei uns! Ich denke, wir schätzen Politiker da auch ein bisschen falsch ein: Mein Eindruck ist, dass die meisten durchaus auch Interesse und sogar Spaß an einem härteren Diskurs haben. Es ist Teil ihrer beruflichen DNA, für ihre Themen zu kämpfen und auch zu streiten. Bei „Bild Live“ entwickelt sich gerade alles. Dazu haben wir im Zusammenspiel mit der Berichterstattung im Print und auf der Website plus Social Media und Clip-outs jeden Tag Millionen Menschen, die wir erreichen. Das ist natürlich hoch attraktiv, auch für Politiker.
Und deshalb will ein Laschet nicht zu Tilo Jung und Rezo?
Das ist doch kein Entweder-oder. Auch den Vorwurf gegenüber Jung und Rezo, „Journalistendarsteller“ zu sein, sehe ich etwas differenzierter. Insbesondere Tilo Jung hatte in den letzten Jahren immer wieder auch sehr starke journalistische Momente. Das heißt nicht, dass ich alles unkritisch sehe, was er macht, ganz im Gegenteil. Rezo dagegen ist mir bisher noch nicht als Journalist aufgefallen, sondern als Aktivist, der insbesondere gegen die CDU wettert. Warum sollte Laschet dorthin gehen?
Andersrum ist der Vorwurf an Sie oder „Bild“ immer wieder, Sie seien der Home Turf der CDU.
Das ist absoluter Quatsch! Schauen Sie sich doch mal die Interviews an, die in den vergangenen Jahren mit Friedrich Merz zur Parteivorsitzenden-Debatte oder auch mit Jens Spahn während des Impf-Desasters geführt wurden bei „Bild Live“. Und Kanzlerin Angela Merkel haben wir immer wieder für ihre Corona-Politik kritisiert.
Wie sieht Ihr Traumjob in Zukunft aus?
Interviews und Analysen im Studio, Reportagen auf der Straße – das wäre für mich der ideale Mix. Ich möchte das Reportersein auf keinen Fall aufgeben. Wenn irgendwo in der Welt etwas Bedeutendes passiert, dann will ich möglichst da sein, um zu berichten. Unabhängig davon will ich weiter relevante politische Interviews führen. Dafür braucht es gute Vorbereitung, Kreativität und viele Diskussionen mit Menschen, die Dinge anders sehen als ich. Nur so kann man als Journalist weiter lernen und es noch besser machen.
Die Fragen stellten Torben Werner und Konrad Göke.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe #Berufsbild. Das Heft können Sie hier bestellen.