Die Hauptnachrichtensendungen von ARD und ZDF nehmen für sich in Anspruch, stets objektiv, politisch unabhängig und kritisch zu berichten. Das bedeutet für Unternehmen, dass es für sie schwierig ist, mit ihren PR-Aktionen und Kampagnen in „Tagesschau“, „Tagesthemen“ und den „heute“-Formaten positiv vorzukommen.
Der Discounter Penny hatte das Glück, dass am 31. Juli über seine Kampagnenwoche „Wahre Kosten“ in „Tagesschau“ und „Tagesthemen“ umfangreich berichtet wurde. Penny erhebt auf neun Produkte seiner Eigenmarken Preisaufschläge, um Umweltfolgekosten einzubeziehen. Ein Bio-Fruchtjoghurt kostet deshalb in dieser Woche statt 1,19 Euro aktuell 1,56 Euro.
In den „Tagesschau“- und „Tagesthemen“-Beiträgen des WDR-Korrespondenten Rupert Wiederwald kam jeweils eine jüngere Frau mit dem Namen „Hanna Mertens“ zu Wort. So stand es in der Bauchbinde. Mertens ist dabei zu sehen, wie sie in einem Kölner Laden ihren Einkauf erledigt. Zu den höheren Preisen äußerte sie sich in einem O-Ton positiv. Pennys PR-Nummer schien ihr zu gefallen.
Problem: Mertens arbeitet als Produktionsassistentin bei einem Radioformat des WDR. WDR-Journalist Wiederwald hatte für den Beitrag also eine Kollegin interviewt. Der Bericht wurde ohne Kenntlichmachung gesendet – ein schwerer journalistischer Fehler. Die Frau heißt im Übrigen nicht „Hanna“, sondern „Hannah“ – Hannah Mertens.
Allein die theoretische Möglichkeit, dass eine eigene Mitarbeiterin in einem Beitrag zu einer zentralen Protagonistin wird, hätte in der ARD- und WDR-Redaktion die höchste Alarmstufe ausrufen müssen. Den Zuschauern würden dann Fiktion und Scripted Reality und keine Nachrichten serviert. Einen solchen Verdacht zügig auszuräumen und den Ablauf transparent darzustellen, müsste im Interesse der gesamten Senderfamilie liegen.
Zufall oder Absicht?
Tatsächlich muss man dem öffentlich-rechtlichen Sender bei dem Beitrag nicht einmal böse Absicht unterstellen. Der WDR beschäftigt nach eigenen Angaben rund 4.200 Mitarbeiter. Dass eine WDR-Angestellte in einem Penny in Köln einkauft und zufällig interviewt wird, ist denkbar. Wenn die Frau dann nicht sagt, dass sie für den Sender arbeitet, ist der problematische Beitrag im Kasten – und wird gesendet.
Niemand kann bei tagesaktuellen Berichten vorab die Identität aller Personen überprüfen. Wirklich angreifbar wird ein solcher Beitrag erst, wenn dieser bewusst mit einer WDR-Kollegin gedreht und dann noch der Name von „Hannah“ zu „Hanna“ geändert worden wäre, um das zu vertuschen. Man kann das wahlweise als Verschwörungstheorie abtun oder als kritische Haltung gegenüber Leitmedien sehen. Zuschauer, die lieber einmal zu viel nachfragen als zu wenig, sollten eigentlich ganz im Sinne von kritischen Nachrichtenformaten sein.
Auf Twitter war es der Account „Argo Nerd“, der das Thema mithilfe von Screenshots auf die Agenda brachte. Der User hat sich darauf spezialisiert, auf Widersprüche in Medienberichterstattung hinzuweisen.
O-Ton entfernt
Im Laufe des auf die Ausstrahlung folgenden Tages muss sich bei ARD, WDR und NDR als der für die „Tagesschau“ verantwortlichen Sendeanstalt der Eindruck verfestigt haben, dass hier ein Problem vorliegt. In der Mediathek wurde der O-Ton der WDR-Mitarbeiterin aus dem Beitrag entfernt. Auf Youtube und auf der „Tagesschau“-Website gibt es dazu einen Hinweis. In der ARD-Mediathek sucht man diesen vergeblich. Auf der Korrektur-Seite der „Tagesschau“ finden sich folgende Sätze: „Der Beitrag ‚Wahre Kosten‘ wurde nachträglich bearbeitet. In der ursprünglichen Version gab es eine O-Ton-Geberin, die für den WDR arbeitet. Die mit ihr gezeigte Sequenz hätte so nicht gesendet werden dürfen. Kolleginnen oder Kollegen zu interviewen entspricht nicht unseren journalistischen Standards.“
Weitere Angaben darüber, warum der Fehler passiert war, gibt es nicht. Anfragen von Medien wie „Bild“ und dem „Nordkurier“ wurden anfangs mit einem inhaltsleeren PR-Statement beantwortet. Einen Hinweis, dass die WDR-Mitarbeiterin zufällig in dem Supermarkt einkaufte, hatte die ARD wieder gelöscht. Warum? Keine Erklärung.
Am späten Abend meldete sich dann Stefan Brandenburg mit einer Einordnung auf Twitter zu Wort. Brandenburg ist Chefredakteur Aktuelles beim WDR. Der optimale Absender für ein solches Statement ist er trotzdem nicht. Die Beiträge liefen in „Tagesschau“ und „Tagesthemen“ – bekannte ARD-Sendungen. Ein ARD-Verantwortlicher wäre deshalb die bessere Wahl gewesen.
Brandenburg versucht es in seinem Statement mit der Arroganz- und Majestätsbeleidigungsschiene. Er bezieht sich auf einen „Bild“-Artikel. Er sprach allen, die den Beitrag hinterfragten, gleich mal ihre Medienkompetenz ab. „Zu dieser #BILD-Story: Glaubt ernsthaft jemand, gestern hätte kein Penny-Kunde die ‚Wahre Preise‘ Aktion gut gefunden, so dass wir eine Mitarbeiterin als Schauspielerin hätten einsetzen müssen?“
Dass viele Menschen in Deutschland Medien und insbesondere ARD und ZDF misstrauen, blendet Brandenburg offenbar aus. In den vergangenen Jahren tauchten zudem immer mal wieder Fahrradaktivisten, grüne Bundestagsabgeordnete oder sonstige Personen mit politischen Interessen in öffentlich-rechtlichen Beiträgen auf, ohne dass das transparent gemacht wurde.
Lebensfremde Erklärung
Brandenburg schreibt weiter, dass die WDR-Mitarbeiterin zufällig in dem Penny-Markt einkaufen gewesen sei. Sie hätte dem WDR-Reporter dann gesagt, dass sie gerade „vom WDR-Radio“ gekommen sei. Aufgrund der vielen Nebengeräusche hätte der Reporter das als „ich habe es im WDR Radio mitgekriegt“ verstanden. Dass in einem Supermarkt eine zu hohe Geräuschkulisse für Gespräche herrscht, dürften die meisten aus ihrer Lebensrealität so nicht kennen. Warum sich zwischen einer WDR-Mitarbeiterin und einem WDR-Team nicht ein kurzer Smalltalk darüber entwickelte, wie cool es beispielsweise sei, dass man in demselben Sender arbeitet, ist ebenfalls überraschend. Auf den falsch geschriebenen Namen „Hanna“, der zusätzlich Argwohn weckte, geht Brandenburg gar nicht erst ein.
Reicht es aus, sich bei einem derartigen Fehler in Hauptnachrichtensendungen allein auf die Einordnung eines Aktuelles-Chefredakteurs auf Twitter zu beschränken? Schließlich haben Millionen Menschen die Beiträge in „Tagesschau“ und „Tagesthemen“ gesehen und sich darauf verlassen, dass die Informationen korrekt sind und alle Protagonisten nach journalistischen Kriterien ausgewählt wurden. Von den sowieso schon unzureichenden Online-Korrekturen dürften sie nichts mitbekommen. Ein Hinweis in den TV-Sendungen wäre deshalb angebracht. Das wäre echte Transparenz.
„Fehler passieren, zumal unter Zeitdruck in der aktuellen Berichterstattung“, schreibt Brandenburg auf Twitter. Als Medium sollte man derartige Fehler dann bei Kritik aber auch ausführlich an der richtigen Stelle erklären – dort, wo sie passiert sind und für Zuschauer zu sehen waren.