Der erste schöne Frühlingstag im April führte mich in eine Seitenstraße des Ku`damms. Um es genauer zu sagen, in die 1889 erbaute Villa der Fasanenstraße 23, wo in der bewegten Berliner Geschichte bereits eine Volksküche, ein Reservelazarett sowie ein Bordell untergebracht waren. Heute ist es die Adresse des Berliner Literaturhauses, wo ich den Sänger und Entertainer Henry de Winter treffe, um mit ihm über seine neue TV-Show zu sprechen. Als der Sänger auf mich zukam, musste ich an den Zeitungsartikel, den ich im Vorfeld über ihn gelesen hatte, denken. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ beschrieb Henry de Winter als „ein spätes Medium der goldenen Zeiten des Varietés und Musikkabaretts“. Nun stand das lebendige Medium der 20er- und 30er-Jahre mit Hut, Monokel, Stehkragen, Chesterfield-Mantel vor mir. Mir wurde schnell klar, warum seine Fans ihn nur „Sir Henry“ nennen.
Sänger und Entertainer Henry de Winter (c) Niels Albrecht
Unser Plausch über seine künftige Rolle als Schlossherr in einer „Verkuppelungsshow mit Niveau“ endete abrupt: Auf der anderen Seite des Wintergartens nahm Max Raabe mit seinen Freunden Platz. Die Touristen nahmen die Spannung im Raum nicht wahr. Doch dem Berliner Publikum war klar, das Medium und der Chronist des deutschen Liedguts, wie die „Bild“ Max Raabe beschrieb, waren in einem Raum vereint und doch blieb eine Begrüßung aus. Beide hätten sich viel zu sagen und doch schwiegen sie.
Kooperation oder Konkurrenz?
Unsere Unterhaltung war nun beim Thema Wettbewerb oder Kooperation angekommen. Eine Wechselwirkung zwischen Kooperation und Wettbewerb, die unsere Gesellschaft prägt. Schon in unserer Verfassung von 1949 ist sie festgeschrieben. In Artikel 20 des Grundgesetzes heißt es: „Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ Anders übersetzt, steht die Demokratie für den Wettbewerb der Meinungen und Ideen. Dagegen steht der Sozialstaat mit seiner Solidarität zwischen allen gesellschaftlichen Milieus. Hier ist das kooperative Versprechen unserer sozialen Marktwirtschaft verankert. Die ist das Ordnungs- und Organisationsprinzip des Wettbewerbs, in dem zwei oder mehrere miteinander rivalisierende Wirtschaftssubjekte ein individuelles Interesse anstreben, um somit einen jeweils höheren Zielerreichungsgrad zu erlangen.
Kooperation und Wettbewerb sind die wichtigsten Aspekte interpersonalen Verhaltens und sozialer Interaktion. Die beiden Faktoren sind somit grundsätzlich Lösungsformen des Knappheitsproblems, des Grundphänomens des Lebens schlechthin.
Ressourcenmangel als Antreiber
Viele Menschen treibt dieses Spannungsfeld an: im Sport, in Politik und Wirtschaft sowie innerhalb der Kommunikation. Der weltweite Kampf um die immer knapper werdende Ressource der Aufmerksamkeit ist längst entbrannt. Der Wiener Professor für computergestützte Architektur, Georg Franck, beschrieb es in einem Schlüsselsatz: „Der Königsweg zum Erfolg führt über den Bekanntheitsgrad.“ Es ist zum Spiel des Lebens geworden.
Denken Sie nur an den Musiker Prince, dessen früher Tod wieder an den „King of Pop“ Michael Jackson und deren musikalische Wettstreit erinnerte. Letzterer war ein Weltstar. Mit seinem Album „Thriller“ brach er als Solokünstler alle Rekord, es ist bis heute das meistverkaufte der Welt. Prince antworte mit seinem Werk „Purple Rain“ und belegte 24 Wochen ununterbrochen Platz eins der US-Albumcharts. Was Michael Jackson mit seinem „Thriller“-Video erreichte, vollendete Prince mit seinem Musikfilm „Purple Rain“, für den er einen Oscar erhielt. „Konkurrenz belebt das Geschäft“, sagt der Volksmund. Ein Wettstreit um die Pop-Krone war entbrannt. Und Michael Jackson antwortete auf den Erfolg von Prince mit einer Kooperationsanfrage. Er wollte Prince für eine Beteiligung an „USA for Africa“ gewinnen. Doch Prince lehnt ab. Das Lied „We Are the World“ wurde mit Unterstützung von Lionel Richie binnen weniger Stunden geschrieben und mit vielen anderen Stars, wie Bruce Springsteen, Diana Ross und Stevie Wonder aufgenommen und zum Mega-Erfolg. Prince war der Verlierer.
Die Nische: Abgrenzung als Verkaufsargument
Das maßvolle Wechselspiel zwischen Wettbewerb und Kooperation muss man beherrschen; besonders in einer global vernetzten Mediengesellschaft. Henry de Winter schilderte mir seine Abgrenzung zu Max Raabe: „Er ist in der Öffentlichkeit. Ich bin in der Gesellschaft. – Er tritt öffentlich auf. Ich trete privat auf.“ Eine kluge Trennung: Der eine füllt Konzerthäuser, der andere Privatveranstaltungen.
Einem starken Wettbewerber kann man begegnen, indem man für sich selbst eine Nische besetzt und damit eine klar definierte Zielgruppe anspricht und passgenaue Angebote unterbreitet. Besonders interessierte mich, wie er mit dem großen Erfolg seines Konkurrenten umgeht. Gelassen gab der Sänger zu Protokoll: „Max Raabe ist immer zwei bis drei Schritte voraus. Doch je größer sein Erfolg ist, desto mehr öffnet er den Markt für mich.“ Im Wettbewerb zeigt sich der Charakter.
Wenn Konkurrenz gefährlich wird
Die eigene Leistung zu steigern ist das Eine. Das Andere sind die eigenen Werte und die Anerkennung der Leistung des Mitbewerbers. Der deutsche Zehnkämpfer Jürgen Hingsen ist der Innenbegriff des erfolgreichen Zweiten. Obwohl er einen neuen Weltrekord aufstellte, konnte er seinen britischen Dauerrivalen Daley Thompson bei keinem Wettkampf bezwingen. Thompson holte alle Goldmedaillen. Hingsen blieb immer zweiter Sieger. Seiner Beliebtheit schadete es nicht. Denn nur durch diesen Zweikampf im Zehnkampf erlang er die uneingeschränkte Aufmerksamkeit.
Ganz anders verlief der Wettstreit um die Eiskunst-Krone zwischen Nancy Kerrigan und Tonya Harding in den USA. Harding und ihr damaliger Ehemann beauftragten einen Attentäter, um der Konkurrentin Kerrigan mit einer Eisenstange das Knie zu verletzen. Sieben Wochen nach der Attacke gewann Kerrigan bei den Olympischen Spielen die Silbermedaille. Harding ging leer aus. Sie wurde der Mittäterschaft überführt und eingesperrt.
In vielen Fällen kann aus einem Wettbewerb ein krankhafter Kampf werden. Es bleibt immer eine Frage der Ethik und der eigenen Haltung. Von de Winter wollte ich wissen, ob schon einmal über eine Kooperation nachgedacht wurde. „Ja, es war mal eine Veranstaltung geplant, wo wir nacheinander auftreten sollten“, so der Sänger, „doch Max Raabe lehnte ab. Ich könnte mir einen gemeinsamen Liederabend gut vorstellen. Er hätte auf Deutsch und ich auf Englisch singen können.“ Ein kluger Schachzug, dachte ich, eine klare Abgrenzung ist ein wesentlicher Punkt in einer Kooperation. Denn die soll den Mehrwert für beide Seiten erhöhen. Ein Mehrgewinn entsteht erst dann, wenn eine Arbeitsteilung oder eine Spezialisierung für den Markt erfolgreich umgesetzt wird. Am Ende grüßten sich die beiden Künstler höflich aus der Entfernung.
Wie gehen Sie eigentlich mit dem täglichen Spannungsfeld zwischen Kooperation und Wettbewerb um?
Wann wird für Sie aus Kooperation Wettbewerb?
Und wann erkennen wir, dass unser Wettbewerb zum Kampf geworden ist?
Und vor allem: Wann müssen wir unsere eigene Perspektive verändern?