Haltung bewahren fängt am Schreibtisch an!

Sitting is the new smoking

Herr Waraghai, warum fällt es vielen Menschen so schwer, am Schreibtisch richtig zu sitzen?

Ramin Waraghai: Ich denke das liegt zum einen daran, dass viele Leute überhaupt nicht wissen, was richtiges Sitzen bedeutet. Oft wird es mit überstrecktem Sitzen (wie ich es nenne) verwechselt. Viele denken nämlich, es sei richtig, wenn sie das Becken so weit kippen und den Brustkorb so weit nach vorne schieben, dass ein Hohlkreuz im unteren Rücken entsteht. Das ist aber auch schädlich für den Rücken, führt zu einer Dauerspannung und damit zu Verspannungen in den Rückenstreckern. Zum anderen verleiten der viele Stress, der Zeit- und Leistungsdruck viele Menschen dazu, in eine sogenannte „Lümmelposition“ zu fallen, in der sie ihren Rücken rund machen, um sich zumindest körperlich zu entspannen.

Was kann man dagegen tun?

Im Prinzip gibt es zwei Möglichkeiten, die empfehlenswert sind: Die neue Rückenschule spricht von „bewegtem Sitzen“. Das bedeutet, dass man die Sitzpositionen einfach häufig durchwechselt, damit einseitige Belastungen erst gar nicht entstehen können. Ich tendiere aber eher dazu, dass man üben sollte, so lange wie möglich „richtig“ zu sitzen. Dafür kann man sich auch ruhig die Lehne des Stuhls zu Nutze machen. Beim richtigen Sitzen sollte weder die Bauch- noch die Rückenmuskulatur vermehrt angespannt sein, sondern die Balance zwischen diesen Muskeln für Stabilität sorgen. (Siehe Fotostrecke)

Warum ist falsches Sitzen eigentlich so schädlich, beziehungsweise warum ist eine gute Haltung wichtig?

In der Wissenschaft lernen wir immer mehr über die Zusammenhänge der verschiedenen Systeme in unserem Körper. Nicht zuletzt zeigen die unglaublichen Erkenntnisse der vergangenen Jahre über die Funktionen der Faszien (des Bindegewebes), dass eine schlechte Haltung nicht nur Verspannungen und Schmerzen in unserem Gewebe bewirkt, sondern auch Auswirkungen auf Organfunktionen, unser ganzes Skelettsystem und sogar auf unsere Psyche hat.

Außerdem führt jahrelanges falsches Sitzen dazu, dass die Krümmungen unserer Wirbelsäule extremer werden und damit den Verschleißprozess unserer Bandscheiben dramatisch beschleunigen. In den USA ist momentan der Spruch „Sitting is the new smoking“ in aller Munde, da Studien gezeigt haben, dass jahrelanges falsches Sitzen noch schlimmere Auswirkungen auf unsere Gesundheit hat, als das Rauchen. Zwar dient dieser hoch gepushte Trend auch dem Verkauf von neuen Hilfsmitteln – wie zum Beispiel einem Schreibtisch mit Laufband statt Bürostuhl –, die Kernaussage stimmt allerdings.

Kann ich am Schreibtisch überhaupt wirklich effziente Übungen machen, braucht es dazu nicht mehr Platz?

Übungen am Arbeitsplatz sind, wie es auch beim Yoga oder Pilates der Fall ist, letztlich einfach welche mit dem eigenen Körpergewicht. Dafür braucht man nicht viel Platz. Es geht darum, die durchs Sitzen verkürzten Muskeln zu stretchen und die eingeschlafenen wieder aufzuwecken, sowie die Atmung zu verbessern. Dabei sollte es auch egal sein, wenn die eine oder andere Übung etwas gewöhnungsbedürftig aussieht.

Was halten Sie von Gymnastikbällen und rückenfreundlichen Stühlen, bringt das wirklich etwas?

Ich habe immer wieder Klienten, die mir bestätigen, dass viele dieser Hilfsmittel ihnen sogar eher geschadet haben. Haltungsprobleme im Rücken können nämlich vielerlei Ursachen haben, oft wird aber nur eine Ursache in den Fokus gerückt, wie zum Beispiel der Rundrücken. Hierfür werden dann Hilfsmittel entwickelt, die als Allheilmittel verkauft werden. Es gibt aber genauso viele Leute, deren Haltungsprobleme andere Gründe haben, wie zum Beispiel das Hohlkreuz, und für die sind die Hilfen dann eher kontraproduktiv. So sind Kissen im unteren Rücken für Menschen, die eh schon die meiste Zeit in einer Hohlkreuzposition sitzen, nicht unbedingt geeignet, weil sie diese Haltung noch weiter fördern und noch mehr zu Kompressionen in den Wirbelgelenken führen. Man muss sich deshalb immer den Einzelfall ansehen, denn „einen rückenfreundlichen Stuhl für alle“ gibt es nicht, das ist eine individuelle Angelegenheit. Genauso kommt es bei Gymnastikbällen übrigens oft zu Überbeanspruchungen der Rückenmuskulatur, da entspanntes aufrechtes Sitzen hierauf unmöglich ist.

Ist Stehen eine Alternative im Büro? Welche Vorteile hätte das?

Sich zwischendurch mal hinzustellen, ist zweifellos eine gute Idee. Man sollte es aber auch hier nicht übertreiben. Denn stundenlanges Stehen hat ebenfalls negative Auswirkungen auf unsere Wirbelsäule, insbesondere wenn gewohnheitsmäßig auch hier immer wieder Lieblingspositionen eingenommen werden. Darüber hinaus sollte man das Sitzen auch nicht völlig verpönen, sondern auch die Vorteile des Sitzens schätzen. Denn Studien zufolge ist zum Beispiel die Konzentrationsfähigkeit im Sitzen höher als etwa im Stehen. Ein Wechsel zwischen Stehen und Sitzen mit jeweiliger Beachtung der richtigen Haltung wäre demnach die optimale Lösung.

Welche Tipps und Tricks gibt es, um nicht wieder in die alte, schlechte Haltung zurück zu fallen?

Wir fallen meist dann in alte Muster zurück, wenn wir entweder physisch oder psychisch zu stark gestresst sind. Sich einmal in der Stunde eine kleine Auszeit zu nehmen, um aufzustehen, ein paar Haltungsübungen zu machen oder kurz an die frische Luft zu gehen, lockert nicht nur die Muskeln, sondern fördert auch unsere Konzentrationsfähigkeit und reduziert unseren Stresslevel. Um sich daran zu erinnern, kann man sich einfach einen Wecker stellen oder spezielle Apps benutzen, wie zum Beispiel den Posture Reminder.

Wie hängen Haltung und Stress zusammen?

Stress – oder genauer: „Distress“, also im Gegensatz zum positiven „Eustress“ ein negativer Stress – entsteht auf physischer sowie auf psychischer Ebene dann, wenn wir mit den äußeren Umständen nicht mehr umgehen können und unsere Anpassungsfähigkeit an die veränderte Situation zu gering ist. Während auf psychischer Ebene vermehrter Druck, zum Beispiel vom Chef, an unserer gesamten Widerstandsfähigkeit nagt, sind es auf physischer Ebene haltungsbedingt ständig angespannte Muskeln oder schlecht mit Flüssigkeit versorgte Faszien. Und dann gibt es auch Wechselwirkungen: Die neue Faszienforschung bestätigt den Zusammenhang von Emotionen mit dem Spannungszustand der Muskulatur und damit auch mit unserer Körperhaltung. Eine gute Haltung nimmt daher eine bedeutende Schlüsselposition für unsere Leistungsfähigkeit im Job ein.

Wie lösen Verspannungen im Nacken Kopfschmerzen aus und was kann ich dagegen tun?

Die Verspannungen der Muskulatur im Hals-Nacken-Bereich und die verminderte Flüssigkeitsversorgung unserer Faszien führen zu einer Störung des Blutflusses und das kann Kopfschmerzen bewirken. Während Massagen oder Dehnungen temporär helfen können, ist langfristig das Arbeiten an einer richtigen Haltung, und insbesondere richtigen Kopfhaltung, die beste Methode gegen die Verspannungen.

Wie schaffe ich es, mehr Sport zu treiben, wenn ich sehr viel arbeite?

Jeder Mensch handelt nach seinen eigenen individuellen Prioritäten. Wenn einem die Wichtigkeit eines Trainings für das eigene Leben bewusst ist und man sich Ziele setzt, die man unbedingt erreichen will, dann nimmt man sich die Zeit dafür, komme was wolle. Außerdem haben allein zehn, fünfzehn Minuten am Morgen schon positive Auswirkungen. Dafür nimmt man dann eben mal in Kauf, dass man dafür etwas weniger Zeit im Bett verbringen kann. Viele meiner Klienten sagen mir zudem, dass sie, wenn sie den Termin mit mir nicht gehabt hätten, wahrscheinlich nicht zum Sport gekommen wären. Sich irgendwie eine Verbindlichkeit zu schaffen, indem man sich zum Beispiel mit einem Partner verabredet, lässt einen auch dann zum Training erscheinen, wenn man eigentlich zu müde ist.

Oft löst auch falsches Atmen Verspannungen und Müdigkeit aus. Was sollte ich hier beachten?

Die Atmung hat einen enormen, oftmals unterschätzten Einfluss auf unsere Leistungsfähigkeit, sowohl im Arbeitsleben als auch im Training. Da fehlerhaftes Atmen und die Flachatmung in unserer Gesellschaft allgegenwertig sind, sollte die richtige Atmung so oft wie möglich geübt werden. Tiefes Einatmen durch die Nase, sodass sich der Bauch und Brustkorb in alle Richtungen ausdehnt und unser Zwerchfell optimal arbeitet, sowie aktives komplettes Ausatmen bis eine Spannung in der Bauchmuskulatur zu spüren ist, sind hierbei die Schlüsselpunkte.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Haltung – Das Gute kommunizieren. Das Heft können Sie hier bestellen.

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