Herr Junge, zu Ihren Forschungsschwerpunkten gehört „ludologisches Management für Unternehmen und Institutionen“. Was kann man sich darunter vorstellen?
In der Ludologie befassen wir uns mit grundlegenden Spielkonzepten und Spielmechaniken. Mit dem ludologischen Blickwinkel, dass auch Unternehmen nichts anderes als ein Spiel sind, übertragen wir die Erkenntnisse. Nehmen Sie allein das Konstrukt der „Juristischen Person“, die GmbH oder AG. Die gibt es ja real nicht, sie ist eine erfundene Ordnung. Sie entsteht durch die teure Stempelfarbe des Notars, der diese regulative Idee wie eine natürliche Person erscheinen lässt. Spielelemente begegnen uns in Wirtschaftssystemen überall und bringen Explorationsspiele, Fantasiespiele, Rollenspiele, Konstruktions-, Regel-, Wettbewerbs-, Gesellschafts- und Machtspiele mit sich. Beide Welten – die der Unternehmen und die der Spiele – können voneinander lernen.
Inwiefern hilft die Spielwissenschaft dabei, Organisationen zu analysieren und zu verbessern?
Wir beraten sowohl junge Unternehmen als auch Konzerne und beobachten dabei unterschiedliche Phänomene. Viele Start-ups sind kreativ und innovativ. Was ihnen oft noch fehlt, sind eingespielte Prozesse und Standardisierungen. Darüber hinaus müssen Start-ups nicht nur Regeln kennen oder neu schaffen, um überlebensfähig zu werden. So wie am Pokertisch braucht es mehr. Man kann alle Spielregeln beherrschen und alles richtig machen und trotzdem verlieren. Richtiges Verhalten benötigt passendes Wissen und ein unterstützendes Kulturverständnis.
Anne Hünninghaus und Jens Junge im Gespräch. (c) Quadriga Media Berlin GmbH/ Jana Legler
Was braucht es noch?
Um zu gewinnen, bedarf es weiterer Komponenten, allen voran Empathie. Ich muss meine Mitspieler am Tisch und deren Risikobereitschaft einschätzen, ich brauche eine feine Beobachtungsgabe, ich muss sensibel die Gesamtsituation wahrnehmen. Für Unternehmer sind Spielkompetenzen ein Erfolgsfaktor.
Und was spielen Sie mit den Chefs großer Konzerne?
In etablierten Unternehmen sind eher Bürokratismus und zu starre Strukturen das Problem. Dafür wieder Innovationen einzubringen, eignen sich explorative Spiele. Sie entsprechen unserem ursprünglichen Drang: Als Kinder haben wir alle angefangen, die Welt explorativ zu ergründen, wollten die Dinge wortwörtlich begreifen. Mit dem Erlernen der Sprache sind wir dann fähig, Fantasiespiele und Rollenspiele wie „Mutter, Vater, Kind“ zu entwickeln. Wir brauchen diese Kompetenzen, um miteinander umgehen zu können, uns in andere hineinversetzen. Das sind die wichtigen Vorstufen, bis wir zum Konstruktionsspiel kommen, dem Verbinden und Zerstören von Gebilden, zum Beispiel aus Bauklötzen. Kunden- und Marktorientierung braucht diese Neugier, diese Experimentierfreude.
„Jetzt hast du die schöne Sandburg kaputt getreten“, so etwas hört man ja gerne mal von konsternierten Eltern auf dem Spielplatz. Aber Zerstörung gehört dazu?
Ja, Spielen kann herrlich destruktiv sein! Es geht auch darum, Bestehendes zu demontieren, es birgt die Ambivalenz, Regeln einzuhalten und gleichzeitig disruptiv zu sein. Beide Fähigkeiten lerne ich im Spiel, ich teste aus, wie weit ich gehen kann und wie schön Neues sein kann.
Teambuilding-Maßnahmen, bei denen Schnitzeljagden oder Ähnliches veranstaltet werden, liegen im Trend. Beobachten Sie eine Hinwendung zum Spielerischen?
Ja, auf jeden Fall. Das sehen wir auch im Bereich Weiterbildungen. Wir bekommen viele Anfragen von Konzernen, wie sie ihren Mitarbeitern Change-Prozesse erklären können, sie für den Wandel begeistern. Das gelingt nicht mit vier Stunden Powerpoint-Präsentation. Mit Emotionen lernt man intensiver und nachhaltiger. Wir entwickeln daher Spielkonzepte rund um das jeweilige Weiterbildungsthema, gestalten beispielsweise einen „Escape Room“, ein Spiel, in dem Teams zusammenarbeiten, um Aufgaben und Rätsel zu lösen. Die Spiel-Story integriert Unternehmensthemen, sodass es einerseits um Teambuilding geht, andererseits aber auch darum, konkrete Lerninhalte emotional und eher indirekt zu vermitteln.
Was sind die Charakteristika eines jeden Spiels, außer dass es gewisse Regeln gibt?
Moment! Regeln gibt es nicht in jedem Spiel. Eine Gemeinsamkeit ist, dass wir uns im Spiel den Freiraum nehmen, aus unserer Realität heraustreten und versuchen, andere Erfahrungen, Gedanken, Gefühle in uns auszulösen. Neben der Nicht-Alltäglichkeit ist ein weiteres Spielmerkmal das Bewusstsein, dass ich es freiwillig tue.
Aber wenn der Chef zum Sprung ins Teambuilding-Bällebad auffordert, ist es mit der Freiwilligkeit nicht weit her.
Ja, und darum haben viele darauf auch überhaupt keine Lust. Nur das Wollen bringt den gewünschten Effekt. Wenn wir „Pflichtspiele“ durchführen müssen, fangen wir schnell an zu schummeln, weil wir sie hinter uns bringen möchten.
Was sind weitere Spielmerkmale?
Zumindest in Regelspielen gibt es – wie im Unternehmen – immer ein Ziel. Ändert man spontan die Regeln, sorgt das für Emotionalitäten. Wenn Papa beim Mensch-Ärgere-Dich-Nicht in der letzten Runde einfällt: Jetzt gilt auch Rückwärts-Schlagen, dann sorgt das für Aufregung. Genau diese Flexibilität braucht man aber manchmal – auch im Unternehmen. In diesen Momenten muss man mutig genug sein, alternative Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Austesten kann man sie in der Simulation, die ja besonders im Digitalen immer weiter vorangetrieben wird. Hier habe ich die Möglichkeit, unter Rückgriff auf Daten Situationen risikoarm durchzuspielen. Die Technologie begünstigt also den spielerischen Charakter.
Dann bedeutet die Digitalisierung auch für das Spiel eine Revolution?
Ja. Spielen ist ein Urtrieb, der wahnsinnigen Einfluss auf unsere Kulturentwicklung hat. Vor etwa 5.000 Jahren ging es los mit den ersten Brettspielen, das erste Spielzeug für Fantasiespiele wurde vor etwa 35.000 Jahren hergestellt. Im Digitalen verfüge ich nun plötzlich über ganz andere Fähigkeiten und Fertigkeiten, die veränderbar sind. Mixed-Reality-Formate eröffnen uns neue Möglichkeiten, die Welt wahrzunehmen.
Unternehmen nutzen spielerische Ansätze auch in der PR. Ist das ein kluger Ansatz?
Auf jeden Fall! Seit PR und Content Marketing den Megatrend Storytelling für sich entdeckt haben, geht die Branche spielerischer mit Marken um. Menschen lieben eine emotionalere Ansprache, um eine Kaufentscheidung zu treffen. Die Rationalität wird ausgeschaltet. Daher ist es absolut notwendig, Produkte mit Erlebniswelten aufzuladen, Markenidentitäten aufzubauen, zur Identifikation einzuladen. Für die Produkte werden dann wiederum Preise aufgerufen, die aus Sicht des Homo oeconomicus irrational hoch sind. Als Marketingmensch würde ich entgegenhalten, dass entscheidend aber der Homo ludens ist. Der spielt gerne mit, wenn er sich mit etwas identifiziert.
Werden aus Kindern, die besonders intensiv und fantasievoll gespielt haben, eher beruflich erfolgreiche Erwachsene?
Es lässt sich ganz eindeutig, auch am Intelligenzquotienten, feststellen, ob Eltern ein Kind spielerisch gefördert haben. Hier geht es ja nicht nur darum, ob sie ihm ein Spiel wie Schach beibringen, sondern beispielsweise auch um das Spielen mit der Sprache. So entwickeln sich Kreativität und Fantasie, ohne die die meisten von uns im Berufsleben aufgeschmissen sind. Je komplexer eine Kultur ist, desto entscheidender ist es, dass jemand Spielkompetenzen mitbringt, weil er dadurch seine Abstraktions- und Variationsfähigkeit im Verhalten trainiert. Wenn jemand nicht flexibel ist, hat er geringere Überlebenschancen. Wir sind eher veränderungsbereit, wenn wir viel gespielt haben.
Macht es einen Unterschied, welche Art des Spiels ich als Kind bevorzugt habe?
Ja, das macht es. Da Spiele aber so vielfältig sind, entscheidet der Mensch sehr schnell, was ihm liegt. Wichtig ist, dass er überhaupt Spielangebote bekommt. Für die Erwachsenen ist es dann immer auch ein etwas schmerzlicher Moment, wenn sie die Kinder irgendwann nicht mehr gewinnen lassen müssen, sondern ihnen zwangsläufig unterliegen (lacht).
Absichtlich zu verlieren ist akzeptabel für Sie als Spieleprofi?
Natürlich! Ich kann das Spiel einsetzen, um Freude zu verschenken, und meinen Kindern die Erfolgsbestätigung gönnen. Für Erwachsene birgt diese Art der Bestätigung aber immer auch eine Gefahr: So mancher flüchtet sich in die Erfolgserlebnisse der Spielewelt, wenn er sie in der Realität nicht bekommt …
Jens Junge. (c) Quadriga Media Berlin GmbH/ Jana Legler
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe SPIELEN. Das Heft können Sie hier bestellen.