Wenn ich Präsenz-Seminare gebe – egal, ob für Akademien und Seminarträger oder in Form von Inhouse-Seminaren –, kommen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am ersten Morgen nach und nach in den Raum, grüßen nett und fragen sogleich nach einem WLAN-Zugang. Ich weise dann manchmal darauf hin, dass wir für das Seminar gar kein Internet und damit auch kein WLAN benötigen (wohl wissend, dass dieser Hinweis ignoriert wird), dennoch startet direkt die Einwahl, oft begleitet von Flüchen über das langsame Netz, komplizierte Passwörter oder weil das zum Seminar mitgebrachte Hochsicherheits-Notebook aus der Firma die Einwahl in ein fremdes Netz gar nicht zulässt.
Im Grunde ist das auch alles völlig egal. Entscheidend ist, dass viele Teilnehmende, sobald sie online sind, auch noch das E-Mail-Programm öffnen und mit dem geöffneten Programm ins Seminar starten: zwar immer ein Ohr beim Referenten, ein Auge auf den Folien der Präsentation und durchaus aktiv mitwirkend, aber halt auch immer ein Auge auf dem Mail-Eingang und ein weiteres (ja, ich weiß, Otto Normalverbraucher hat nur zwei Augen) zwischendurch immer wieder auf dem Smartphone, damit nur ja keine Whatsapp-Nachricht, SMS, Signal-Meldung oder Sonstiges übersehen werde.
Mangelnde Aufmerksamkeit ausnutzen
Natürlich verträgt sich eine solche Form von scheinbarer digitaler Abhängigkeit auf Dauer nicht mit einem Seminarbesuch. Zumindest ist es anstrengend, wenn die eigene Aufmerksamkeit immer auf mehrere Kanäle verteilt wird und das Interesse an der Fortbildung mit der menschlichen Neugier in Konkurrenz steht. Andererseits ergibt sich hier gerade für Presse- und Textseminare eine ganz praktische Spielwiese. Denn wer Aufmerksamkeit für seine Texte erreichen und Interesse an der zu vermittelnden Botschaft wecken möchte, muss lernen, mit genau diesem Aufmerksamkeits-Defizit zu arbeiten.
Studien weisen seit Jahren immer wieder darauf hin, dass die menschliche Aufmerksamkeitsspanne respektive -fähigkeit kontinuierlich sinkt. Und zwar in erschreckendem Maße und längst nicht mehr nur bei Kindern und Jugendlichen, sondern durchaus auch bei Berufstätigen im Allgemeinen und Kommunikatoren im Besonderen. Im Umkehrschluss heißt das: Will ich in der internen Kommunikation Beschäftigte informieren oder in der Kunden-Kommunikation Produkte oder Leistungen vorstellen, muss das knapp und auf den Punkt geschehen. Die Ansprache und die Verbindung mit den Rezipienten muss gelingen. Ausufernde Mailings oder komplexe E-Mail-Newsletter werden zwar noch immer in großem Stile versendet, aber welche Botschaften daraus tatsächlich bei den Empfängern ankommen, ist mehr als ungewiss.
Aufmerksamkeit: Herausforderung für die Kommunikation
Viele (er)leben eine kommunikative Überforderung, die nach und nach zu einem kommunikativen Kompetenzverlust führt. Und es geht noch weiter. Die „Nomophobie“ – also die Angst, das eigene Mobiltelefon nicht mehr jederzeit griffbereit zu haben – plagt je nach Studie zwischen 40 und 80 Prozent der Menschen. Das ist vor allem unter Jugendlichen verbreitet, aber wie gesagt auch unter erwachsenen Seminarteilnehmern längst keine Seltenheit mehr.
Das ist nicht nur eine Herausforderung für die Kommunikationsprozesse – also Transfer von Botschaften von Sender zu Empfänger –, sondern es stellt auch eine Herausforderung für die eigene Kommunikationsfähigkeit dar. Eine Pressemitteilung, ein Mailing oder einen Fachbeitrag zu schreiben, braucht zumindest ansatzweise Konzentration und die Fähigkeit und Bereitschaft zu strukturiertem Arbeiten – wozu ein klares Briefing, eine saubere Recherche und Zeit für eine gute Textgliederung gehören. Das ist wiederum kaum möglich, wenn ich mich durch wahlloses Surfen oder dauerndes Mails-Abrufen ablenke oder aus der Herausforderung des Tuns ins Smartphone-Gedaddel flüchte.
Zwei positive Erkenntnisse
Das ist keineswegs als Vorwurf gemeint. Ich unterliege ja selbst dieser Gefahr. Aber zwei Erkenntnisse aus dieser Situation sind wichtig:
1. Jeder, jede von uns sollte ein eigenes Konzept entwickeln, wie der optimale Zustand für ablenkungsfreies Schreiben aussehen kann. Für mich selbst ist das manchmal der Druck, Texte liefern zu müssen (eine effektive, aber auf Dauer recht ungesunde Methode), manchmal auch eine lange Zugfahrt, auf der zum Beispiel dieser Beitrag hier entstanden ist. Das geht allerdings nur bei störungs- und stressfreien Fahrten ohne Zugausfälle, Verspätungen, Umleitungen oder Kommunikations-Chaos – was leider nur selten der Fall ist. Manchmal ist es auch einfach die Lust am Schreiben und an der Aufgabe, wirre Vorgaben in einen wunderbaren Text zu gießen. Darauf setze ich bei meinen Seminaren. Niemand muss dort für Pulitzer- oder andere Journalistenpreise geeignete Beiträge liefern. Es geht einfach um Spaß an Kommunikation und Spaß am Ausprobieren. Wenn es klappt, ist das eine prima Ablenkung von der Ablenkung.
2. Den Rezipienten, für die wir Botschaften in Sprache kleiden, geht es ja ähnlich. Darum ist es eine wundervolle Übung, immer wieder Texte zu entwerfen, zu verfassen, zu prüfen und zu überarbeiten – immer im Bewusstsein, dass Aufmerksamkeit und Aufmerksamkeitsfähigkeit ein sehr, sehr wertvolles Gut geworden und keinesfalls selbstverständlich sind. Wer das ohne Gram und Schuldgefühle bei sich selbst beobachtet, kann sich in die Situation der eigenen Leserinnen und Leser hineinfühlen und weiß dann: so geht das mit dem Text nicht. Der muss kürzer oder lebendiger sein oder schneller auf den Punkt kommen.
Das ist wie gesagt eine Herausforderung. Wer sie annimmt, hat eine spannende Aufgabe vor sich, die einen selbst begeistern und binden kann. Da brauchen wir keine Ablenkung und können das Smartphone, den E-Mail-Eingang und die Chats einfach mal ignorieren. Zumindest bis zur nächsten Seminarpause.