Zu Gast in der Mut-Fabrik in Leipzig

Selbstbehauptung lernen

Mutige Menschen haben es in vielen Lebenslagen leichter, ob privat oder im Job. Aber was, wenn man nicht zum illustren Kreis der Mutigen gehört, wenn es immer wieder schwer fällt, sich zu behaupten, sich durchzusetzen? Eine Möglichkeit wäre, der Mut-Fabrik in Leipzig einen Besuch abzustatten. In Workshops und Seminaren kann man auf Basis der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) üben, wie man über den eigenen Schatten springt. Denn Mut kann man lernen, meint Jens Neumann, Gründer der Mut-Fabrik.

Herr Neumann, was bedeutet Mut für Sie?

Jens Neumann: Für mich ist Mut eng mit Authentizität verknüpft. Deswegen haben wir auch das Motto: „Habe Mut, Du selbst zu sein.“ Und dafür muss ich vor allem Klarheit haben: Was will ich überhaupt? Was sind meine Bedürfnisse, wer bin ich wirklich? Um mich authentisch ausrichten zu können, brauche ich viel Bewusstsein für meine eigene Person.

Warum ist Mut haben wichtig?

Jeder Mensch hat Bedürfnisse, die befriedigt werden wollen. Um herausfinden zu können, wie diese Bedürfnisse konkret aussehen, braucht man Mut. Denn ich muss mir selbst gegenüber ehrlich sein. Und natürlich braucht man auch Mut für die Umsetzung. Wenn ich mich dagegen nicht kenne, dann kommt alles von außen. Dann funktioniere ich nach dem Motto „Richtig-Falsch“, ich übernehme gesellschaftlich festgelegte Verhaltensnormen, ohne sie zu hinterfragen und passe mich daran an. Die Wertschätzung kann in der Folge nur von außen kommen. Und damit begebe ich mich in eine Abhängigkeit. Natürlich ist die Verbindung zu anderen immer auch wichtig, aber zuerst muss ich mich selbst wertschätzen können und dafür Sorge tragen, dass meine Bedürfnisse erfüllt werden. Deswegen ist Mut wichtig.

Ist Mut etwas Angeborenes oder kann man ihn lernen?

Das ist sicherlich auch mit einer genetischen Präposition verbunden, aber der wesentlich größere Anteil ist erlerntes Verhalten. Wir imitieren wichtige Bezugspersonen – zunächst natürlich unsere Eltern. Wenn ich als Elternteil mutig und ehrlich mit meinen Gefühlen und schwierigen Situationen umgehe, diese nicht verstecke oder tabuisiere, dann können auch meine Kinder ehrlich damit umgehen. Treu nach dem Motto: „Du brauchst Deine Kinder nicht zu erziehen, sie machen dir sowieso alles nach.“ Mutig sein heißt nicht, dass ich keine Ängste haben darf, sondern, dass ich ehrlich zu mir und meinen Gefühlen stehe. Und das kann man lernen.

Warum fällt es vielen Menschen so schwer, zu sich zu stehen?

Wir bekommen es schon früh abtrainiert. Von den ersten Kindheitstagen an bringt man uns bei, gut und brav, adrett und sauber zu sein. So sind wir für andere leichter zu handlen. Jedem Einzelnen gerecht zu werden, ist dagegen viel aufwändiger. Sich um jedes Individuum zu kümmern, ist mehr Arbeit. Deswegen wird so ein Rahmen ja überhaupt erst geschaffen. Das ist sehr bedauerlich. Denn jeder Mensch hat herausragende Fähigkeiten, wenn er sich nur entwickeln darf. Wenn ich mich nicht austesten darf, wenn ich nur funktionieren soll, dann verkümmert das „menschlich Natürliche“ zugunsten des „vernünftig Richtigen“. Denn wenn ich immer vorgesetzt bekomme, was ich tun soll, was von mir erwartet wird, dann höre ich auf, Dinge selbst zu entwickeln und zu erforschen. Das verhindert Mut. Und ich behaupte sogar, dass wir gerade dadurch oft Kreativität, die wir in Zukunft wieder viel mehr brauchen werden, im Keim ersticken. Wir verschwenden durch dieses Verhalten massiv Fachkräfte und Potentiale von Menschen.

Sie bieten Seminare zu den Themen Selbstvertrauen und -behauptung an: Welche Rolle spielen diese Fähigkeiten im Joballtag?

Man sollte sich einmal fragen: Was bedeutet denn Selbstvertrauen überhaupt? Es bedeutet für mich ganz einfach: Ich vertraue mir selbst. Ich vertraue darauf, dass ich jederzeit fühlen kann, ob mir eine Situation gut tut oder nicht, ich kann es erfüllten und unerfüllten Bedürfnissen zuordnen und dadurch eigenverantwortlich Strategien finden und diese kommunizieren. Dadurch werde ich verlässlicher für andere, weil ich offener und transparenter werde. Die Klarheit über meine Bedürfnisse macht meine Motivation aus, das ist mein natürlicher Antrieb, nicht der Ehrgeiz, das Richtige tun zu müssen. Ich kann besser sortieren, was ich tun möchte, was ich gut kann und was nicht. Und wenn ich auf etwas Lust habe, dann fällt es mir automatisch leichter, dann zieht es mich da von selbst aus hin. Mit so einer bewussten Orientierung kommt auch der Erfolg. Meine Hoffnung ist, dass man zu einer Unternehmenskultur findet, die sich viel mehr mit ihren Individuen beschäftigt und Rahmenbedingungen dafür schafft, dass sich jeder wohlfühlen kann.

Aber wie geht das, wenn man unter Druck steht und Leistung bringen muss: Wie kann man dieses Konzept in eine Firma übertragen?

Ich sehe es als Erfolgsfaktor, wenn man sich mit den Mitarbeitern beschäftigt. Dass dies zu zeit- oder geld-intensiv sei, halte ich für eine Ausflucht und kurzfristig gedacht. Wenn ich mich für meine Mitarbeiter interessiere, dann interessieren sie sich auch für mich und die Firma. Ich kenne beispielsweise ein Unternehmen, das seinen Mitarbeitern die Räume zur freien Gestaltung zur Verfügung stellt. Ihre erste Aufgabe ist es, das Büro selbst einzurichten. Das fand ich großartig und führte zu sehr kreativen Büros. Und es war auch sehr clever, denn damit hat man zwei Dinge geschafft: Zum einen eine Identifikation des Mitarbeiters mit seinem Arbeitsumfeld und zum anderen hat man dazu beigetragen, dass sich das Wohlbefinden des Angestellten steigert, da er seine Umgebung selbst gestaltet hat. Und das wiederum steigert die Leistungsfähigkeit und zahlt sich am Ende aus. Genau diese Richtung als Teil einer neuen Unternehmenskultur wird meines Erachtens nach viele, momentan ungenutzte Potenziale freisetzen. Auch als Unternehmen kann man sich mutig verhalten, indem man neue Wege einschlägt.

An wen richten sich Ihre Seminare?

Im Wesentlichen an Einzelpersonen mit konkreten Anliegen, wie Wut, Ärger, Aggression oder Trauer. Sie alle wollen einen mutigeren Umgang mit ihren Gefühlen erlernen. Diese Personen begleiten wir entweder einzeln oder sie kommen in Seminare. Zusätzlich arbeiten wir auch mit Gruppen und Kollektiven, wenn es dort Anspannungen gibt. Wir sind deutschlandweit unterwegs und haben ein großes Netzwerk an befreundeten Trainern für Gewaltfreie Kommunikation (GFK), das Projekte übernehmen kann. Ich unterstütze hauptsächlich dabei, Transparenz und Klarheit herzustellen. Alle Teilnehmer werden eingeladen, sich zu zeigen und im Falle von Konfliktmediationen kommen alle Seiten gleichberechtigt zum Ausdruck. Jede Eskalation ist willkommen und manchmal knallt es eben auch. Gestern war beispielsweise ein Paar bei mir. Die beiden haben sich plötzlich angeschrien, waren vorher aber immer sehr vorsichtig miteinander, aus Angst sich gegenseitig zu verletzen. Danach waren sie dankbar, dass sie endlich erfahren haben, was in dem Anderen vorgeht. Und dass zu zeigen, seine Gefühle zu kommunizieren, das begleiten wir. Ich verstehe mich als eine Art Übersetzer, der beim Kommunizieren der eigenen Bedürfnisse unterstützend wirkt und zur Ehrlichkeit einlädt.

Wie kann man etwas trainieren, das man nicht oder nur sehr wenig hat?

Methodisches Üben ist bei unserer Arbeit sehr wichtig. Das kann jeder lernen, weil wir alle fühlen können. Es funktioniert nämlich nicht über das reine Verstehen, sondern über das Nachspüren. Wir versetzen uns in Situationen und fühlen uns in diese ein: Wie geht es mir dabei? Wenn ich merke, dass ich mich unwohl fühle, dann fördern wir nach und nach den guten Grund zutage, die dahinterstehenden Bedürfnisse. Allein das Sprechen darüber ist eine Übung, mutiger zu werden. Denn Offenheit erfordert viel Mut. Oft ist es sogar so, dass wir erst einen Wortschatz entwickeln müssen. Denn wenn ich keinen Wortschatz für meine Gefühle und Bedürfnisse habe, dann kann ich mich auch sehr viel schwerer ausdrücken und verständlich machen. Ein anderer Ansatz ist, Arten gewaltvoller Kommunikation bewusst zu erfahren: Die Teilnehmer setzen sich zum Beispiel in Zweiergruppen gegenüber und probieren verschiedene Situationen aus. Etwa: Gib mal pausenlos Ratschläge. Nach einer halben Minute merkt der andere, dass er keine Lust mehr hat, etwas zu erzählen. Denn Ratschläge bedeuten: „Ich weiß, was du brauchst“, statt „Ich höre dir zu und unterstütze dich dabei herauszufinden, was du wirklich brauchst“. So schaffen wir ein Bewusstsein für ein empathisches Miteinander, vermitteln ganz anschaulich, wie man gut zuhört, aufeinander eingeht und mutig zu sich und den eigenen Bedürfnissen steht.

Offenes Zurschaustellen von Gefühlen kann auch mal hinderlich sein. Ist Gefühle zeigen trotzdem immer ratsam, auch im Job?

Ich lade dazu ein, auch im beruflichen Kontext authentisch zu sein und seine Gefühle zu kommunizieren. Ich habe zwar Politik studiert, aber ich verabscheue nichts mehr als Politik zwischen Menschen. Für mich ist es nie hinderlich, meine Gefühle zu zeigen. Wenn jemand damit nicht umgehen kann, dann ist das für mich ein Zeichen dafür, dass es dem Anderen nicht leicht fällt darüber in Verbindung zu kommen und dieser selbst ein Thema damit hat. Entspannte Menschen reagieren entspannt. Natürlich können dann auch mal Sätze kommen, wie: „Ach, lass mich mit deiner Gefühlsduselei in Ruhe.“ Gleichzeitig ist es mir wichtig, dass ich Menschen immer als Menschen anspreche. Im Beruf haben sie zwar eine Rolle, etwa die des Kollegen oder des Chefs, als Mensch erreiche ich sie aber nur auf einer anderen Sprachebene, nämlich der Gefühls- und Bedürfnisebene. Der Chef sieht in mir nur solange den Angestellten, der seine Funktion erfüllen muss, bis ich mich ihm als Mensch zeige. Und wenn ich mich dann zeige, ist es wichtig, den Chef nicht als Chef anzusprechen, sondern als Mensch. Dann emanzipieren wir uns von unseren Rollen.

Das kann im Extremfall auch mal den Job kosten – wie sehen Sie das?

Meine persönliche Erfahrung ist eine andere. Ich erlebe viel Dankbarkeit in den Firmen, die ich coache. Die Ehrlichkeit wird geschätzt- denn auf einmal hat man wieder Menschen vor sich, die auf eine andere, direkte Art verlässlich sind. Und das ist für mich Mut und Selbstbewusstsein: Ich bin mir meiner Selbst bewusst und stehe dazu. Ich sorge dafür, dass meine Bedürfnisse nicht untergehen.

Was raten Sie schüchternen Menschen, wie man mutiger wird? Gibt es Tricks, etwa beim Small-Talk?

Wenn ich denke, ich kann etwas nicht, dann wird das zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung, dann werde ich es auch nicht tun. Das muss ich mir zuallererst bewusst machen. Ein guter Weg wäre, authentisch damit umzugehen und es schlicht und ergreifend zu kommunizieren. Etwa dem Glaubenssatz „Smalltalk halten kann ich nicht“ entgegenzutreten, indem man sagt: „Ich würde gerne in Verbindung mit euch kommen, habe aber Angst davor, weil ich unsicher bin und nicht weiß, wie ich mich ins Gespräch einbringen kann. Ich möchte auch nicht über das Wetter reden.“ So bin ich authentisch und ehrlich, und das schafft die Basis für echte Verbindung. Diesen Herausforderungen sollte man sich immer wieder stellen, das kann man trainieren.

Welche Rolle spielt das körperliche Training bei Ihrer Arbeit?

Wir alle haben Gefühle und die können wir spüren. Oft schaltet sich aber der Kopf dazwischen. Allein der Körper kann mir recht verlässlich signalisieren, wie es mir geht, an ihm kann ich viel ablesen. Durch Yoga kann man beispielsweise gut lernen, mehr auf die Signale des Körpers zu hören und sich damit auch besser kennenlernen. Wenn ich das erst einmal geschafft habe, dann kann ich meine Bedürfnisse auch leichter nach außen kommunizieren und den Herausforderungen des Alltags mutiger gegenüber treten.

Wie wichtig ist es, nein sagen zu können?

Das fällt für mich unter den Bereich Selbstbehauptung. Ich kann beispielsweise immer fühlen, wann ich Ruhe brauche. Um das kommunizieren zu können, brauche ich Mut. Ich sage „Ja“ zu meinem Bedürfnis. Es ist hilfreich dieses Gefühl für mein Gegenüber dann zu übersetzen: Ich sage nicht zu jemandem anderen „Nein“ ich möchte heute nichts mit dir unternehmen, sondern ich sage zu mir „Ja. Ich brauche heute Ruhe“ und kommuniziere dies. Das ist ein Unterschied. Wenn ich mit einem Freund ins Kino gehen wollte und sage dann doch ab, dann möchte ich betonen, dass das nicht bedeutet, dass ich nichts mit ihm machen möchte, sondern, dass ich Zeit für mich brauche. Damit entsteht Verständnis und Verbindung und die Wahrscheinlichkeit, dass mein Gegenüber Ablehnung, Schuld und dergleichen hört, sinkt.

Wie hängen Misserfolge, Mut und Selbstbewusstsein zusammen und wie wichtig ist es, Fehler machen zu „dürfen“?

Sich fehler-freundlich zu verhalten, ist enorm wichtig. Alles andere ist ohnehin Illusion. Wir denken in der Gewaltfreien Kommunikation deshalb immer prozess- und nicht zielorientiert. Für mich gibt es generell keine Misserfolge. Wir sind und bleiben Lernende. Wenn man etwas Neues ausprobiert, dann kann man natürlich immer auch mal anecken. Dieses Risiko nehme ich in Kauf, es ist Teil meiner Haltung und weder erschreckt es mich, wenn es passiert, noch macht es mir Angst. Es gehört zur Natur des Lernens: Ein Kind, das Laufen lernt, steht unentwegt wieder auf und forscht – solange ich es forschen und auch „fallen lasse“. Jeder Mensch ist kompetent in der eigenen Sache. Es sei denn, er hat oft gehört: „Du kannst das nicht.“ Die Mut-Fabrik lädt ein, Mut zu sich und anderen Menschen wieder zu erlangen, sich und seine Bedürfnisse selbstbewusst zu behaupten und neue Strategien für ein selbstbestimmtes Leben zu finden. Wir sind im Vertrauen, dass so viele Potenziale für ein anderes, achtsameres und zugleich wirtschaftlich produktiveres Miteinander möglich sind. Und die gilt es auszugraben.

Dies ist ein Beitrag aus unserem 100. Heft. Hier können Sie einen Blick hinter die Kulissen der redaktionellen Arbeit werfen.

Unsere erste Multimediareportage.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Mut – Von couragierten Kommunikatoren und cleveren Kampagnen. Das Heft können Sie hier bestellen.

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