Provokanter als Mitbewerber sein

„Stern“

Herr Schmitz, vor rund anderthalb Jahren sind Sie „Stern“-Chefredakteur geworden. Mit welchem der bisher von Ihnen verantworteten Cover sind Sie besonders zufrieden?

Es gibt ein paar Titelbilder, die für das stehen, wo wir mit dem „Stern“ gerne hinmöchten. Nämlich dass wir etwas provokanter und frecher sind als manche Mitbewerber. Dass Menschen sagen: Die trauen sich was! Wir haben gemerkt, dass große Gespräche gut funktionieren, in denen sich Menschen öffnen. Hängen geblieben ist beispielsweise das Gespräch mit Gerhard Schröder im vorigen Jahr. Und vor kurzem das Interview zweier Kollegen mit Alice Weidel, das zwar sehr umstritten war, aber breite Diskussionen ausgelöst hat. Es gab auch Geschichten, bei denen wir merken, dass wir einfach einen Nerv in der Gesellschaft treffen: etwa das Cover „Friedrich, der Falsche“ über den umstrittenen Umgang von CDU-Chef Friedrich Merz mit der AfD. Aber auch die Frage, ob wir uns die Reichen noch leisten können, die wir auf eine T-Shirt-Collage mit Finanzminister Christian Lindner gedruckt hatten. Das sind „Stern“-Geschichten, weil sie die großen Fragen tangieren: In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?

Sie haben immer wieder auch bunte und nutzwertige Themen dabei wie „Fit für den Sommer“ oder „Essen Sie sich gesund“. Welche Rolle spielen solche Themen?

In der Tat haben mich am Anfang Kollegen oft gefragt: Wie soll das heute noch funktionieren, diese „Wundertüte“, für die der „Stern“ früher bekannt war? Dadurch sei doch der Markenkern unklar. Ich teile diese Sicht nicht, weil ich glaube, dass der „Stern“ mit ganz vielen Themen punkten kann. Niemand wird am Kiosk seltsam gucken, wenn auf dem „Stern“ eine harte politische oder investigative Geschichte ist, Henry Kissinger etwa seine Strategie zur Beendigung des Ukraine-Krieges erläutert oder eine Reporterin nach monatelanger Recherche den gesuchten Antisemiten Attila Hildmann in der Türkei aufspürt. Umgekehrt wird aber auch niemand sagen: Oh, das passt aber gar nicht zum „Stern“, wenn wir uns zum Beispiel mal „fit für den Sommer“ machen. Dass der „Stern“ das pralle Leben abdeckt, ist immer so gewesen, und das wird auch so bleiben.

Wen sprechen Sie mit diesem breiten Spektrum an? Ist Ihre Zielgruppe auch viel breiter?

Der „Stern“ ist mehr als „Spiegel“ und „Zeit“ in der Mitte der Gesellschaft verankert. Damit meine ich nicht nur die politische Einteilung, sondern Menschen, die vielleicht nicht in allen Debatten immer in allen Details drin sind und sich eher die größeren Fragen stellen. Da muss man manchmal mehr erklären und einordnen. Und vor allem kommt der „Stern“ immer sehr stark über den Menschen. Wenn zum Beispiel Olaf Scholz ein Jahr im Amt ist, kann man die große Analyse seiner bisherigen Amtszeit schreiben. Man kann ihn aber auch selbst Bilder aus seiner Amtszeit aussuchen und kommentieren lassen, um ein bisschen mehr über diesen schwer zu entziffernden Menschen zu erfahren. Das ist sicher etwas, was sehr „sternig“ ist, inklusive der Fotografie. Grandiose Optik ist etwas, was immer zum „Stern“ gehört hat.

Das „Stern“-Cover mit Alice Weidel sorgte für Diskussionen: Wie sollen Medien mit der AfD umgehen? © Stern/RTL Deutschland Das „Stern“-Cover mit Alice Weidel sorgte für Diskussionen: Wie sollen Medien mit der AfD umgehen? © Stern/RTL Deutschland

Sind die Beiträge also boulevardesker aufgemacht?

Was wir nicht machen, ist der klassische Promi-Boulevard oder die eher schlüpfrige Geschichte darüber, wer gerade mit wem ausgeht. Es kann zwar gut sein, dass der „Stern“ zum Beispiel eine große Reportage darüber macht, wer am Tegernsee oder auf Sylt gerade mit wem schäkert – aber das dann eher als Sittengemälde der deutschen Gesellschaft. Auch wenn es um #MeToo geht, hat der „Stern“ schon immer solche Geschichten gemacht. Es gab etwa eine berühmte Titelgeschichte der Autorin Ingrid Kolb aus dem Jahr 1977, die hieß „Deutsche Chefs – Ferkel im Betrieb“. In der ging es darum, wie sich Männer in Führungspositionen gegenüber Frauen verhalten. Das in einer sehr prallen, bunten Form aufzuschreiben, ist eine Herangehensweise, die „Zeit“ oder „FAZ“ nicht wählen würden. Das ist aber aus meiner Sicht kein Boulevardjournalismus, es ist einfach eine direktere und buntere Erzählweise.

Und bei politischen Themen steht auch mehr die Person im Vordergrund?

Wir versuchen, große Gespräche zu führen, die natürlich sehr politisch sind, aber immer auch etwas über die Person offenbaren. Das gelingt nicht immer. Ein „Stern“-Gespräch mit Olaf Scholz bleibt ein „Stern“-Gespräch mit Olaf Scholz, der eben sehr genau aufpasst, was er privat von sich preisgibt. Wir versuchen, eine Gesprächsatmosphäre zu schaffen, in der wir kritisch fragen, aber dem anderen am Ende noch die Hand schütteln können. Das ist ein Unterschied zu manchen konfrontativeren Befragungen. Und bei den Geschichten versuchen wir, die menschlichen Aspekte hinter politischen Prozessen herauszuarbeiten. Über die FDP kann man natürlich das 100. Lindner-Porträt schreiben und die 100. Frage, was Liberalismus heute noch bedeutet. Man kann aber auch, wie ein Kollege es gerade getan hat, tief in diese Partei eintauchen und versuchen, die Gruppe zu identifizieren, die „Ottos Erben“ sind. Die also die politischen Ideen des legendären FDP-Granden Otto Graf Lambsdorff wieder erwecken wollen. Das ist eine Herangehensweise, die wir spannender finden.

Wann sind denn Unternehmensthemen interessant für den „Stern“? Es fällt auf, dass Sie kein Wirtschaftsressort haben.

Wir haben sogar ein sehr großes Wirtschaftsressort. Erstens haben wir Wirtschaftskollegen in der Politikredaktion. Wir haben aber auch eine sehr enge Zusammenarbeit mit „Capital“. Die Kolleginnen und Kollegen sind in jeder Konferenz dabei.

„Capital“ ist sozusagen Ihr Wirtschaftsressort?

Ich bin auch für „Capital“ und „Geo“ zuständig und wir entwickeln zusammen „Stern plus“. Auch sonst arbeiten wir sehr eng zusammen. Neulich haben wir beispielsweise über einen großen Titel zur deutschen Autoindustrie gesprochen. Dann kooperieren Kollegen vom „Stern“, die sich gut auskennen, mit „Capital“-Kollegen, die seit Jahren diese Themen betreuen. Der „Stern“ hat eine lange Tradition in Wirtschaftsthemen, vor allem wenn es um den Arbeitsmarkt geht, um die Art und Weise, wie Unternehmen organisiert sind, und auch um Unternehmens- und Management-Skandale. Es muss aber in der Regel ein Unternehmen sein, das sehr viele Menschen kennen, gerade wenn es in Richtung Titel geht. Wir hatten vor kurzem einen Titel über die Deutsche Bahn. Wir hatten ein großes Gespräch mit dem Lufthansa- und mit dem RWE-Chef. Das gehen wir auch wieder persönlicher an. So ein Gespräch mit dem RWE-Chef kann auch damit anfangen, über dessen Stromrechnung zu reden.

Sie haben schon angesprochen, dass das Interview und das Cover mit Alice Weidel sehr umstritten waren. Welche Reaktionen gab es darauf?

Es gab die Kritik derer, die sagen: Man darf sie nicht aufs Cover heben, weil man sie damit normalisiert. Dann gab es eine allgemeine Diskussion über das Interview. Sprich: Ist es den beiden Kollegen gelungen, Alice Weidel ihre Grenzen aufzuzeigen und sie vielleicht sogar zu entlarven? Und dann gab es die Kritik aus dem anderen Lager, das sagte: Es ist eine Unverschämtheit, wie wir Alice Weidel darstellen, dass wir da so eine provokante Frage vorne drucken, die ja hieß: „Was können Sie eigentlich außer Hass?“ In den nächsten Wochen haben wir versucht, auch im Blatt abzubilden, dass man das natürlich unterschiedlich bewerten kann, dass es uns aber wirklich um die Frage ging, ob die bisherige Strategie mancher Medien – nämlich zu sagen, wir führen mit AfD-Vertreterinnen und -Vertretern keine Gespräche – so gut funktioniert hat. Wir sind zu dem Schluss gekommen, es wäre wichtiger, wenn man immer wieder versucht aufzuzeigen, dass diese Populisten keine Lösungen anbieten.

Haben Sie das Gefühl, dass Ihnen das gelungen ist?

Ich glaube, dass es nicht möglich gewesen wäre, ein Gespräch zu führen, an dessen Ende alle Menschen sagen: Das ist jetzt die Entzauberung von Alice Weidel. Es ist auch schwierig, ein Interview mit jemandem zu führen, der sehr freihändig mit Fakten argumentiert – beispielsweise mit ihrer Aussage, dass es keine Rechtsextremen in der AfD gäbe. Da kann man nur immer wieder Faktenchecks dagegensetzen und muss darauf hoffen, dass der Widerspruch dazu führt, dass den Menschen klar wird: Das stimmt nicht, was diese Person sagt, oder das ist zu wenig. Ich finde die Passagen entlarvend, in denen Frau Weidel Gelegenheit hätte, sich zu konkreten Problemen zu äußern, beispielsweise zum Heizungsgesetz und dem nötigen Klimaschutz. Da negiert Alice Weidel das Problem einfach. Natürlich hat man ein bisschen die Neigung, wenn man das jetzt liest, an jeder Stelle immer gleich Widerspruch und Korrektur mitzuliefern, aber so funktionieren Gespräche am Ende nicht. Ich finde, die beiden Kollegen haben das sehr gut gemacht. Wenn Leute das anders sehen, ist das jedoch völlig in Ordnung. Diskurs hilft.

Aufmerksamkeitsstarke Interviews sind ein Markenzeichen des „Stern“. Mitte 2022 interviewten Schmitz und Nikolaus Blome, Leiter des Ressorts Politik & Wirtschaft bei RTL und ntv, Ex-Kanzler Gerhard Schröder. © Jens Umbach

Aufmerksamkeitsstarke Interviews sind ein Markenzeichen des „Stern“. Mitte 2022 interviewten Gregor Peter Schmitz und Nikolaus Blome, Leiter des Ressorts Politik & Wirtschaft bei RTL und ntv, Ex-Kanzler Gerhard Schröder. © Jens Umbach

Wollen Sie generell mehr unterschiedliche Sichtweisen ins Blatt heben? Sie haben hinter dem Weidel-Interview ein Essay von Michel Friedman platziert, in der folgenden Ausgabe gab es ein Streitgespräch über das Weidel-Cover. Auch bei anderen Themen fällt das auf.

Wir wollen auf jeden Fall Diskurse zulassen und uns nicht in Filterblasen abschotten, in denen kein Widerspruch mehr möglich ist. Da bin ich sehr geprägt durch meine vielen Jahre in den USA. Es ist dort kaum noch möglich, einen vernünftigen Diskurs über bestimmte Themen zu führen. Und das liegt dort natürlich sehr stark an rechten Bewegungen, die Fakten ignorieren, die zu Gewalt und Rassismus aufrufen, das will ich überhaupt nicht kleinreden. Es gibt aber auch ein Problem mit der Debattenkultur im sehr linken Lager. Das führt dazu, dass beide Teile des Landes in ihren Lagern bleiben und Diskussionen über Politik nicht mehr möglich sind. Das müssen wir in Deutschland unbedingt vermeiden. Deswegen gehört es dazu, dass man unterschiedlichen Stimmen Gehör bietet. Mit Grenzen natürlich, wie unsere Titel-Gestaltung des Alice-Weidel-Interviews ja auch gezeigt hat. Das sagte aus: Natürlich kann man mit AfD-Menschen diskutieren, man muss aber jedes Mal mitdenken, dass es eben einen rechtsradikalen Teil dieser Partei gibt und dass der Hass, der auch auf dem Titelbild stand, Teil dieser Partei ist. Aber insgesamt brauchen wir eine breitere öffentliche Debatte. Mehr Menschen müssen miteinander reden und streiten.

Jetzt haben wir viel über Inhalte und Herangehensweisen gesprochen. Wie funktioniert das alles digital? Ihr Ziel ist es ja, das digitale Bezahlangebot „Stern plus“ auszubauen.

Wir wollen im kommenden Jahr ein ganz neues Digitalangebot präsentieren. Im ersten Halbjahr 2024 werden neue Webseiten, eine neue App, ganz neue Erfahrungen ausgerollt werden, die deutlich multimedialer sein werden als bestehende Plus-Angebote. Wir haben den Vorteil, dass wir mit RTL News Zugang zu höchst professionellem Bewegtbild und Audio haben. Wir kommen spät, aber ich glaube, wir werden richtig gut auf den Markt kommen.

In welche Richtung soll das gehen? Weniger kleine Meldungen, mehr Storytelling?

Auch im Digitalen werden wir in der Aktualität verankert bleiben, zum Beispiel dadurch, dass wir Newsticker von ntv integrieren. Aber es wird ein tägliches digitales Magazin sein mit einem sehr bunten Mix aus den großen Geschichten, die Reporter und Reporterinnen des „Stern“ erzählen, aus der Emotionalität und Glaubwürdigkeit von „Geo“ und aus der Beratungskompetenz von „Capital“. Storytelling und Optik werden sicher eine wesentliche Rolle spielen, weil das etwas ist, was die Leute an allen drei Magazinen schätzen, wir aber bislang nie richtig ins Digitale übertragen haben. Es wird kein Angebot sein für Menschen, die nur schnell checken wollen, ob die Welt steht, sondern die Zeit für und Lust auf eine digitale Magazin-Erlebniswelt haben.

Sie wollen auch verstärkt Journalistinnen und Journalisten als bekannte Gesichter für den „Stern“ aufbauen. Wie wichtig sind dabei Auftritte in Talkshows, in denen Sie öfter zu Gast sind?

Ich komme noch aus einer Zeit, in der es unter Printjournalisten ein bisschen verpönt war, so etwas zu machen. Aber die Zeiten haben sich komplett geändert. Das sagen wir auch den Kollegen: Ihr müsst für eure Geschichten trommeln, seid in den sozialen Netzwerken aktiv, versucht da mitzuspielen. Natürlich hilft es, wenn Kolleginnen und Kollegen im Fernsehen auftreten und die Leute sagen: Ach, guck mal, das ist eine Person vom „Stern“ oder von „Capital“ oder „Geo“. Vielleicht finde ich die sogar sympathisch oder kompetent. Am Ende müssen wir immer mit unseren Geschichten überzeugen. Die reine TV-Präsenz wird nicht reichen. Aber glücklicherweise ist es ja meistens so, dass wir für unsere Geschichten und unsere Expertise eingeladen werden.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe #Beratung. Das Heft können Sie hier bestellen.

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