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Neuromarketing

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Ja, das ist Science Fiction. In diesem Ausmaß zumindest. Aber Neuromarketing ist auf dem Vormarsch – nicht erst seit Anfang des Jahres bekannt wurde, dass Trendsetter Apple das Start-up Emotient gekauft hat. Dieses ist darauf spe­zialisiert, Emotionen am Gesichtsausdruck zu erkennen. Künftig könnte, so wird gemunkelt, die Technologie in Apple-Software wie die Fitness-App Health oder den Sprach­assistenten Siri eingebaut werden – für einen noch transparenteren Nutzer.

Weit entfernt vom Silicon Valley, in einem Labor in Berlin-Adlershof, befindet sich das Start-up Emolyzr, das der Emotionspsychologe André Weinreich 2013 als Spin-off der Humboldt-Universität zu Berlin gründete. Unternehmen, die herausfinden möchten, welche Gefühle ihre Kommunikationsmittel auslösen, können das dort testen lassen. Emolyzr nutzt dafür die Kombination dreier Instrumente: Beim Eye-Tracking misst eine Hochleistungskamera, worauf der Blick gerichtet ist, um zu ergründen, wo Aufmerksamkeit besteht.

Als Indikator für Attraktivität, also Elemente, die der Kunde anziehend findet, fungiert die Elektromyografie (EMG). Elektroden und ein Biosig­nalverstärker machen unsichtbare emotionale Regungen sichtbar. Zudem erfassen Elektroden an den Fingern, wie sehr das Gehirn aktiviert ist (Elektrodermale Aktivität).

Ersetzt also künftig das Messgerät den Multiple-Choice-Bogen? „Nein, wir befragen die Menschen ebenfalls. Als Emotionsmesser gehen wir aber methodisch darüber hinaus, erlangen Einsichten in tieferliegende Bereiche“, sagt Weinreich.

Große Versprechen

Immer mehr Agenturen werben mit Expertise in diesem Bereich, viele von ihnen haben allerdings einen zweifelhaften Ruf. „Neuromarketing schreiben sich viele auf die Fahnen, Neurowissenschaft steckt aber nicht überall drin“, sagt Bernd Weber, Professor für Neuroökonomie an der Universität Bonn und Mitbegründer des Centers for Economics and Neuroscience. Oft könnten im wirtschaftlichen Kontext die wissenschaftlichen Ansprüche nicht eingehalten werden.

In Kombination mit ausgewählten klassischen Methoden könne man durch die Emotionsmessung den Kunden ganzheitlich verstehen und ansprechen, verspricht Emolyzr auf seiner Webseite. Weiter heißt es: „Diese Kombination erlaubt eine zuverlässige Vorhersage realer Marktzahlen bei überschaubaren Stichprobengrößen.“ Diese Aussage hält Weber für überzogen. „Es gibt Hinweise, dass diese Tools etwas Zusätzliches erklären, über Individuen und auch über den Markt. Aber wie viel sie erklären, ist noch völlig unbestimmt.“ Dazu seien wissenschaftliche Studien in einer kaum finanzierbaren Größenordnung notwendig.

Inzwischen gut erforscht sind Weber zufolge die entscheidungsrelevanten Strukturen im Gehirn, wie beispielsweise das Belohnungszentrum. „Wir können mit diesem Wissen relativ zuverlässige Aussagen darüber treffen, was von Menschen mehr oder weniger gemocht wird.“
So wurden 2006 in einer Studie der ­Emory-Universität in Georgia Probanden im funktionalen Kernspintomografen (fMRT) Musikstücke vorgespielt und deren emotionale Reaktion darauf analysiert. Einige Jahre später glichen die Wissenschaftler das Stimmungsbild der Probanden mit den Verkaufszahlen der entsprechenden Musikalben ab. Sie stellten einen Zusammenhang zwischen einer erhöhten Aktivität des Großhirns und dem Verkaufserfolg der Songs fest.

Eine ähnliche Studie gab es 2014: Die Pilotfolge der Serie „The Walking Dead“ wurde 16 Probanden gezeigt, während sie eine EEG-Kappe trugen, mit der die elektrische Aktivität des Gehirns gemessen wird. Anschließend wurde untersucht, wie die Reaktionen mit den Posts zu der Folge bei Twitter korrelierten. Mit dem Ergebnis, dass es in dem sozialen Netzwerk über die Szenen besonders regen Austausch gab, bei denen die Versuchspersonen im EEG ähnlich intensiv reagierten.

Die Methode der funktionalen Kernspintomografie ist Weber zufolge die, bei der die zusätzliche Vorhersagekraft bisher als am höchs­ten nachgewiesen werden konnte. Sie misst Durchblutungsänderungen von Hirnarealen und veranschaulicht sie durch Aufleuchten der sauerstoffreichen Re­gionen auf dem Monitor.

Urteile im Bruchteil einer Sekunde

Wie läuft sie nun konkret ab, die neurowissenschaftliche Beratung? Emolyzr setzt auf „Mutation und Selektion“. Am Anfang steht eine möglichst große Variabilität. Geht es beispielsweise um ein Plakat, soll der Kunde mehrere unterschiedliche Entwürfe mitbringen. Dann laden die Wissenschaftler 20 bis 25 Probanden ein, gegebenenfalls aus einer bestimmten Zielgruppe. Nacheinander werden sie verkabelt, bevor ihnen auf dem Monitor zunächst Bilder gezeigt werden, die im Allgemeinen positiv oder negativ aufgenommen werden. Das wird gemacht, um die emotionale Schwingungsfähigkeit der Person abschätzen zu können. Die anschließend erhobenen ­Daten werden anhand dieser Messung individuell „kalibriert“. Dem Probanden werden nun je zehn Sekunden lang die verschiedenen (Plakat-)Versionen gezeigt.

Dieser kurze Zeitraum ist ausreichend: Schon nach 200 bis 500 Millisekunden lässt sich feststellen, ob Claim und Bildwelt anziehen oder abstoßen und wie stark die Informationen das Gehirn aktivieren. Das bedeutet nicht, dass es danach nicht noch zu Veränderungen in der Wahrnehmung kommen kann. In der natürlichen Wirksituation haben Kommunikationsmittel aber nur einen winzigen Moment, um den geplanten Effekt zu erzielen.

Hans Hermann Langguth, Geschäftsführer Campaigning, PR & Political Affairs der Agentur Zum goldenen Hirschen Berlin:(c) privat

„Anything goes. Okay. Aber müssen wir auch alles machen, was machbar ist? Kommunikation lebt von Überraschung, totale Erfolgssteuerung und -kontrolle werden eine Illusion bleiben, in der digitalen Welt zumal. Ganz indianisch möchte man da rufen: Erst wenn das letzte Hirn durchleuchtet, der letzte Gedanke gelesen, die letzte Emotion eingefangen ist, werdet ihr merken, dass man Menschen gar nicht mehr fernsteuern kann.“

Am Ende der Untersuchung wird ein „Sieger“ unter den Entwürfen bestimmt, also die Variante, die positive Gefühle geweckt hat und bei der das Gehirn möglichst „wach“ war.
Einen kompletten Verriss von Entwürfen hat es bei Emolyzr noch nicht gegeben. „Wir maßen uns nicht an, zu sagen: Das ist schlecht und muss anders gestaltet werden. Wir messen nur die Emotionen, identifizieren Risiken und Erfolgsfaktoren und geben daraufhin Handlungsempfehlungen.“ So erzählt Weinreich von einem Mailing, das dem Empfänger ein Gratisangebot unterbreiten sollte. „Für Sie: Null Euro“, stand im Betreff. Die emotionalen Reaktionen der Probanden waren durchweg negativ. Weinreich und seine Kollegen fanden heraus, dass das initiale Verständnis der Zeile ist: „Für Sie gibt es nichts.“ Bis die tatsächliche Bedeutung „Wir schenken Ihnen etwas“ durchsickert, ist die E-Mail bereits gelöscht.

Potenzial für die Politik

Kunden aus dem politischen Umfeld lassen bei Emolyzr noch auf sich warten. Auch wenn Weinreich an einer solchen Klientel durchaus Interesse hätte. Könnte man mit­hilfe der Methoden statt Absatzzahlen auch Wahlergebnisse vorhersagen? Weinreich überlegt kurz. „Mit dem passenden Budget – warum nicht?“
Vor zwei Jahren bereitete das HU-Spin-off – ganz ohne Auftrag – einen Testballon auf, um sich dem Feld zu nähern. Im Kontext der Europawahl 2014 zeigte das Team einigen Probanden die Wahlplakate deutscher Parteien, darunter auch eines der Linken, auf dem zusammen mit dem Slogan „Rüstungsexporte verbieten!“ ein Panzer in einem roten Verbotsschild abgebildet war.

Wahlplakat der Linken (c) DiG | TRIALON 2014

Ähnlich wie ein Plakat der Grünen zum Thema Gentechnik, auf dem verseuchter Mais zu sehen war, schnitt es bei den Probanden schlecht ab. „Wenn man der Empirie glaubt, ist davon abzuraten, beispielsweise Empörung hervorzurufen. Das ist besonders bei einem kurzen Zeithorizont riskant: Schaue ich mir die Plakate in der Stadt nie bewusst an, bleiben nur die negative initiale Reaktion und ungünstige Assoziationen haften.“ Neuro­ökonom Weber stimmt zu, dass sich im Fall der genannten Plakate eine negative Erwartung auf die Partei übertragen könne.

Doch sowohl in der klassischen Werbung als auch in der politischen Kommunikation gebe es immer typologisierte Zielgruppen, die auf bestimmte Ansprachen reagieren, gibt er zu bedenken. Ob ein solches Plakat sinnvoll ist, hängt also von dem Ziel ab: Möchte ich über Attraktivität eine möglichst breite Masse erreichen oder mich auf eine Nische konzentrieren, die von den anderen vernachlässigt wird?

Neuromarketing hat immer ein Geschmäckle von Manipulation. Dabei greifen Neuroökonomen keineswegs in den freien Willen ein, da sind sich Weinreich und Weber einig. „Durch Forschung werden wir immer besser herausfinden können, wie potenzielle Kunden oder Wähler auf ein Plakat reagieren. Zu einer Einschränkung der Willensfreiheit wird das niemals führen. Das macht vielleicht die Kampagne effektiver – aber wenn das alle machen, hebt es sich wieder auf“, sagt Weber. Wird der Kampagnen-Check mit neurophysiologischen Methoden irgendwann zum Standard für Parteien? „Das kann ich mir gut vorstellen.“

Emolyzr verzeichnet laut André Weinreich eine wachsende Nachfrage. Die meisten Kunden kommen bislang aus der Automobil- und der Versicherungsbranche. Neben der Politik soll in Zukunft auch der Gesundheitsbereich eine größere Rolle spielen, wenn es nach dem Geschäftsführer geht. Allerdings lauert dort bereits eine recht große Konkurrenz.
Vor allem Wearables, also tragbaren Messgeräten wie Fitnessarmbändern und Smartwatches, wird eine große Zukunft beschieden. So misst beispielsweise das Armband „Feel“ des gleichnamigen Herstellers über Sensoren anhand von Hauttemperatur und Schweißdrüsenaktivität, wie der Träger sich fühlt. Verzeichnet es starke Emotionen (beispielsweise Wut), vibriert es und gibt über das Smartphone Hinweise, das Verhalten zu korrigieren („Lache mehr“).

Andreas Mengele, Geschäftsführender Gesellschafter von Heimat Berlin: (c) Laurin Schmid

„Politische Kommunikation ist ein schnelles Geschäft. Und der Resonanzraum, in dem sich Parteien, Medien und die Öffentlichkeit bewegen, erhöht die Geschwindigkeit. Kommunikation ist Emotion. Dafür gibt es noch keinen Algorithmus. Die Auseinandersetzung mit Menschen, ihren Gefühlen, ist von jeher unser Aufgabenbereich. In diesem Sinne: Welcome to the game, new players!“

Und der Apple-Kauf Emotient? Wird das Unternehmen künftig Einblick in unser Gefühlsleben erlangen, stets über den emotionalen Zustand seiner Nutzer auf dem Laufenden sein? Für ganz abwegig hält Bernd Weber das nicht. „Ich denke, dass es in Zukunft funktionieren wird, dass man emotionale Zustände darüber erkennen kann.“ Wichtig sei, dass der Verbraucher so aufgeklärt werde, dass er auch informiert entscheiden kann. „Wir haben es mit einem klassischen Nudge zu tun: Das Unternehmen bekommt alle Daten, es sei denn, man widerspricht 50-seitigen AGB. Hier könnte die Politik eingreifen.“

Emolyzr-Gründer André Weinreich (c) Laurin Schmid 

„Wir maßen uns nicht an, zu sagen: Das ist schlecht und muss anders gestaltet werden. Wir messen nur die Emotionen, identifizieren Risiken und Erfolgsfaktoren und geben daraufhin Handlungsempfehlungen.“

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