Man kennt sich im kleinen Café in der Potsdamer Straße im Berliner Stadtteil Schöneberg. Malte Bedürftig holt hier täglich seinen Kaffee, den er dann im fünften Stock des Altbaus nebenan zu sich nimmt. Dort befindet sich der „Migration Hub“, ein Coworking Space, in dem mehrere Arbeitsplätze für Start-ups zur Verfügung stehen, die sich in der Flüchtlingshilfe engagieren. Bevor es zum Interviewtermin in die spärlich eingerichteten Büroräume geht, stehen wir also in der Kaffeeschlange. Zwei junge Männer winken Bedürftig von einem Tisch in der Ecke des Cafés aus zu, sitzen dort an ihren Laptops. Auch sie sind in der Flüchtlingshilfe aktiv, haben ihren Start-up-Alltag ganz der Community verschrieben.
Bedürftig ist 33 Jahre alt und ehemaliger McKinsey-Berater. Als im vergangenen Jahr die Zahl der Geflüchteten immer rasanter stieg, die Versorgung stockte und die Not immer größer wurde, gründete er die Koordinationsplattform Govolunteer. „Viele meiner Bekannten wollten sich engagieren, wussten aber nicht, an wen sie sich wenden sollten. Manche wurden von den Einrichtungen wieder weggeschickt, da der Überblick fehlte, was gerade gebraucht wurde.“ Um solche frustrierenden Erfahrungen zu vermeiden und dafür zu sorgen, dass ehrenamtliche Hilfe genau dort ankommt, wo sie gerade am dringendsten benötigt wird, startete er die Webseite. Aufgebaut ist Govolunteer wie ein soziales Netzwerk. Jeder kann sich ein Profil mit Foto und persönlichen Daten anlegen, Freunde anwerben und sich mit anderen Helfern vernetzen. Deutschlandweit mehr als 500 Projekte und Events von großen und kleinen Organisationen werden kurz vorgestellt. Ob es darum geht, geflüchteten Frauen in Berlin Fahrradfahren beizubringen oder ein Bewerbungstraining in Buxtehude zu veranstalten – für jeden Interessierten ist ein passendes Projekt dabei, für das er sich anmelden kann. „Der Grundgedanke war, dass man die vorhandene Euphorie nutzen muss“, sagt Bedürftig. „Wir bieten jedem einen möglichst einfachen Zugang und machen transparent, wie er seine Fähigkeiten einsetzen kann.“
Gemeinschaft als Motivationsfaktor
Zahlreiche innovative Start-ups sind im vergangenen Jahr aus dem Nichts entstanden. „Not macht in der Tat erfinderisch“, sagt Theo Wehner, Organisationspsychologe an der ETH Zürich. Diese Art der Mittlerfunktion sei aber ein noch junges Phänomen. Das Verhalten dieser neuen Helfergeneration unterscheide sich von dem traditionellen Engagement, beispielsweise in der Freiwilligen Feuerwehr oder beim Deutschen Roten Kreuz (DRK). Es gebe ein größeres Bedürfnis nach Weiterbildung, danach, sich untereinander zu vernetzen, besondere Kompetenzen durch gemeinsame Projekte hinzuzugewinnen.
Wehner hat gemeinsam mit Stefan Güntert im vergangenen Jahr ein Buch veröffentlicht, „Psychologie der Freiwilligenarbeit“. Dafür sammelten sie in mehr als 12.000 Fragebögen Informationen über freiwillige Helfer und führten mehrere hundert Interviews. „In unserer Gesellschaft steigt der Grad der individuellen Freiheit, zum Beispiel was die Partnerwahl oder den Job betrifft“, so Wehner. „Umso mehr suchen viele Menschen auch nach gemeinsamen Wertehaltungen und einer Community.“
Aber wer engagiert sich überhaupt freiwillig – und warum? Wehner zufolge handelt es sich mehrheitlich um Menschen mittleren Alters, die mitten im Berufs- und Familienleben stehen. Menschen, die sich in einer Phase der Generativität befinden, bei denen der Wunsch aufkommt, der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Zudem sei freiwilliges Engagement auch Ausdruck der Persönlichkeit und der eigenen politischen Haltung, bietet die Möglichkeit einer Identifikation.
Intrinsische Motivation
Die Mitarbeiter von Govolunteer arbeiten teils drei Tage in der Woche ehrenamtlich für das Non-Profit-Start-up. Es sei erfüllend, sagt Bedürftig, Teil dieses Entdeckungswettbewerbs neuer Ideen und Impulse zu sein.
Von einer im Verlauf des Jahres geminderten Hilfsbereitschaft gegenüber Flüchtlingen will er nichts wissen. Aber die Euphorie sei etwas abgeflaut. Viele Menschen, die sich vor einigen Monaten mit aller Kraft engagiert haben, können das nicht mehr aufrechterhalten. Malte Bedürftig hält das für eine gesunde Tendenz. „Die Menschen sollen nicht das Gefühl haben, sie müssten im Alleingang die Welt retten. Die Aufgaben lassen sich auf vielen Schultern verteilen.“
Der Einzelne solle lieber regelmäßig helfen, statt sich situativ zu verausgaben. Das findet auch Theo Wehner, der generell ein zunehmendes „Projekt- und Event-Hopping“ beobachtet. Statt sich einer Organisation wie beispielsweise Greenpeace für lange Zeit anzuschließen, gebe es größere Flexibilitätsansprüche, mit denen die Organisationen sich arrangieren müssen. „Freiwilligenarbeit ist natürlich immer prekär – wenn die Leute morgen keine Lust mehr haben, bleiben sie weg.“ Da es keine Verbindlichkeiten gibt, sollte es dem Psychologen zufolge auch keine übertriebenen Verpflichtungen, sondern stattdessen viel Gestaltungsspielraum geben.
Im vergangenen Jahr sind zahlreiche Start-ups zu Koordinationszwecken entstanden, die Funktionsweisen einiger neuer Seiten überschneiden sich. Schon jetzt gibt es Kooperationen, die User weist man auf die jeweils anderen Angebote hin. Mit der Gründung einer Helferallianz wollen drei Plattformen nun noch einen Schritt weiter gehen und sich auch technisch vernetzen, um die Sichtbarkeit zu erhöhen. Auf dem im Frühjahr vom Innenministerium organisierten digitalen Flüchtlingsgipfel beschlossen die Gründer von Govolunteer und den beiden Start-ups ichhelfe.jetzt, bei dem Helfer Organisationen Hilfsangebote unterbreiten, und help.to, einer Art digitalem Schwarzen Brett mit Kleinanzeigen, ihre Kräfte zu bündeln.
Mitstreiter statt Konkurrenten
„Wir sind keine Konkurrenten, sondern Mitstreiter“, sagt auch Mandy Pearson vom Dresdener Start-up ichhelfe.jetzt. Gegründet wurde die Plattform von den Medizinern Johannes und Anja Bittner. Im Sommer 2015 wollte sich das Ehepaar in der Flüchtlingshilfe einbringen und stieß auf Chaos. Um Hilfsangebote von Bürgern zu bündeln, wurde eine provisorische Webseite ins Leben gerufen. Im Verlauf der Monate wurde das Backend verfeinert, der geografische Radius erweitert und immer mehr Features, wie eine Umkreissuche und eine Mobile-Version, kamen hinzu. 170 Hilfsorganisationen vom DRK bis zur Nachbarschaftsinitiative kooperieren mit der Seite.
Das Team besteht aus fünf Personen, die teils ehrenamtlich tätig sind. „Am wichtigsten sind IT und Kommunikation“, sagt Pearson. Sie selbst ist sowohl Projektmanagerin als auch Pressesprecherin und Social-Media Managerin. Gerne würde man Aufgaben und Positionen stärker differenzieren, doch mit so begrenzten Kapazitäten ist das kaum möglich. Finanziert wird die Plattform über Privat- und Unternehmensspenden. Projektträger ist der gemeinnützige Verein Dresden – Place to be. Er liefert die Kontakte zu den Organisationen. Zudem spenden Unternehmen dem Start-up ihre Arbeit, helfen bei der Gestaltung eines Erklärvideos oder drucken Flyer mit den wichtigsten Informationen zu der Webseite.
Auch die Bedarfslage hat sich verändert. Wurden vor einem Jahr noch einfache Dinge wie Kleidung und Spielzeug dringend benötigt, geht es mit dem Auszug vieler Flüchtlingsfamilien aus Erstaufnahme-Einrichtungen nun mehr um Möbel und Haushaltsgeräte. Seit Kurzem gibt es ein neues Feature: Organisationen können jetzt konkrete Suchaufträge einrichten. Wenn Freiwillige das Spendenformular öffnen, bekommen sie sofort angezeigt, welche Dinge gerade im Umkreis benötigt werden. „Vielleicht fällt dem einen oder anderen so der längst vergessene Staubsauger im Keller wieder ein.“
Die Hemmschwelle für Engagement senken
Durch eine Umfrage unter den Nutzern hat ichhelfe.jetzt herausgefunden, dass sich rund die Hälfte von ihnen zum ersten Mal im Leben freiwillig engagiert. „Das freut uns besonders“, sagt Pearson. „Wir geben Menschen einen kleinen Schubs, machen es ihnen so leicht wie möglich, sich zu beteiligen, indem wir auf aufwändige Registrierungen verzichten. Die Plattform funktioniert nach dem Prinzip: Ich biete meine Hilfe an, dann kann ich mich zurücklehnen und darauf warten, dass jemand auf mich zukommt.“
Diese Niederschwelligkeit hält auch Theo Wehner für einen wirksamen Anreiz. Dennoch ließen sich Freiwillige nicht immer wie Personal rekrutieren. „Zu viel sollte man den Menschen nicht vorkochen, damit die Autonomie erhalten bleibt. Es braucht Vermittler und Vordenker – aber es sollten so früh wie möglich auch Mitdenker dabei sein.“
In vielen Betrieben versucht man verzweifelt, ein solches Gefühl von Community und Commitment herzustellen. Das gelingt unvollkommen, findet Theo Wehner. „Der Arbeitnehmer steht im Singular, wir haben alle einen individuellen Vertrag“, sagt er. Die Incentive-Kultur richte sich ebenfalls an den Einzelnen und selten an Teams. Was können sich Unternehmen und die Helfer-Community nun voneinander abschauen? „Die Freiwilligenorganisation kann von der Erwerbsarbeit so gut wie nichts lernen“, so Wehner. „Sie verfügt über viel mehr Potenziale: Commitment und Involvement müssen im freiwilligen Engagement nämlich nicht erst mühsam hergestellt werden.“ Demgegenüber ist im Job auch das Gehalt Anreizgeber – eigentlich. In einem Interview gab eine langjährige Freiwillige bei Wehner zu Protokoll: „Wenn ich das, was ich hier mache, bezahlt bekäme, würde ich es nicht mehr tun.“ Der Psychologe findet diese Äußerung wenig verwunderlich. Bekäme sie ihr Engagement entlohnt, so stünde es unter Leistungsaspekten, würde zu einer Verpflichtung, es käme zum Verlust der Autonomie. Genau auf diese legten die Menschen aber besonders großen Wert, sie brauchten Handlungs- und Entscheidungsspielraum.
Sinn stiften und Autonomie schaffen
Unternehmen rät Wehner, sich auf die Suche nach Werten und Motiven zu machen, die die Freiwilligen unbezahlt zur Erfüllung bringen wollen. „Ich erkenne einen Sinn in meinem Tun“, hört Wehner oft, wenn er Menschen nach Gründen für ihre Ehrenämter fragt. An den Arbeitsplätzen könne man jedoch allenfalls zufrieden werden, Erfüllung fänden längst nicht alle. Deshalb sollten Unternehmen einerseits Raum für Sinn schaffen, indem sie Corporate Volunteering anbieten, den Mitarbeitern also im Gegenzug für ihr soziales Engagement bezahlte Arbeitszeit zur Verfügung stellen. Da Eigeninitiative in der Freiwilligenarbeit eine große Rolle spielt, ist es laut Wehner auch hier ratsam, die Projekte zumindest mitbestimmen zu lassen.
Doch auch im Job selbst können sich Arbeitgeber etwas von der Freiwilligen-Organisation abschauen, indem sie ebenfalls mehr auf Autonomie und Partizipation setzen. Wehner sieht hier noch große Defizite: „Ich habe es oft erlebt, dass Partizipation doppelbödig verwendet wird, nach dem Motto: ‚Ihr könnt euch die Farbe eures Schreibtischstuhls selbst aussuchen, aber sie sollte möglichst grau sein.‘ Generell wünscht sich der Psychologe einen ehrlicheren Umgang damit, wie viel Partizipation möglich ist. „Statt Teilhabe der Mitarbeiter vorzutäuschen, sollten Manager besser erklären, warum sie in bestimmten Bereichen nicht gewährt werden kann.“
Govolunteer arbeitet gerade daran, Angebote im Bereich Corporate Volunteering aufzubauen. Das Start-up möchte eine Plattform anbieten, die Unternehmen in ihr Social Intranet integrieren können. „Der CSR-Chef kann dann auf unser Netzwerk zurückgreifen und beispielsweise fünf bis zehn passende Projekte auswählen und tracken, wie viele Stunden die Arbeitnehmer insgesamt investieren. So ließe sich ein Social Footprint für die Mitarbeiter und das Unternehmen erstellen, der auch im CSR-Report aufgegriffen werden kann.“ Malte Bedürftig trinkt seinen Kaffee aus und grinst. „Bei aller Freiwilligkeit kann ein bisschen Wettbewerb für einen guten Zweck ja auch nicht schaden.“
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Communitys. Das Heft können Sie hier bestellen.