Frau Gondorf, mehr als 6.000 Menschen arbeiten bei Otto in Deutschland. Sind das alles „Gender-Fans“?
Linda Gondorf: Bestimmt nicht und das wäre auch kontraproduktiv, denn solche Themen leben vom Diskurs. Natürlich haben wir auch Kritiker*innen, die wir aber immer gerne zum Austausch einladen. Aber im Großen und Ganzen stoßen wir auf positive Resonanz. Wir sehen, dass unsere Sessions zu dem Thema alle zwei Wochen ausgebucht sind, wir schon fast 1.000 Kolleg*innen zu dem Thema im direkten Gespräch aufgeschlaut haben. Auch im Intranet schreiben immer mehr Kolleg*innen gendergerecht, unsere Vorstände versuchen in ihren Vorträgen sogar schon so zu sprechen. Das ist einfach schön zu sehen. Aufklärung, Übungen und Hilfestellungen bringen uns hier weiter, damit immer mehr „Gender-Fans“ werden können.
Welche Klagen oder Kritik Ihrer Kolleg*innen können Sie nicht mehr hören?
Gondorf: Die häufigste ist sicherlich die: „Das ist unleserlich und verschandelt das Sprachbild.“ Dazu antworten wir aus der Projektgruppe oft: „Stimmt!“ Denn wenn Gendersprache falsch angewendet wird, in einem Satz gleich drei Gendersternchen zu sehen sind, dann beeinflusst es den Lesefluss. Zu viele Sternchen können optisch gewöhnungsbedürftig sein, deshalb versuchen wir, mit neutralen Worten zu arbeiten, stellen Sätze um, suchen nach Alternativen oder Synonymen. Wir empfehlen immer, sich Gedanken über einen Satz zu machen, sobald da mehr als ein Genderstern vorhanden ist.
Wie erreichen Sie Kritiker*innen? Was tun Sie, um sie vom Gebrauch gendersensibler Sprache zu überzeugen?
Gondorf: Wir haben eine komplette Seite im Intranet eingerichtet, wo sich Kolleg*innen einlesen können, mit Links, Podcasts, Übungen und Tabellen mit oft gebrauchten Worten bei Otto. Diese ist gut besucht. Aber unser wichtigstes „Tool“ sind unsere Gendersessions. Hier laden wir seit September 2020 alle zwei Wochen jeweils bis zu 20 Menschen ein. In der Session geben wir eine Einordnung, warum Gendersprache wichtig ist, wir machen Übungen, geben Empfehlungen und haben ein ausführliches FAQ am Ende. Meist hören wir nach der Session: „Jetzt fühle ich mich sicherer und verstehe auch die Beweggründe.“
Wer nicht mitmacht, fliegt – wahrscheinlich ist das kein realistisches Szenario bei Otto. Aber gibt es Formen von Sanktionierung, wenn Mitarbeiter*innen nicht gendern? Vielleicht auch implizite, geprägt durch die Unternehmenskultur?
Gondorf: Wir gendern alles, was wir als Unternehmen offiziell kommunizieren: Pressemitteilungen, Markenkommunikation, genauso übrigens wie unsere eigenen Intranetartikel und die vom Management. Ob und wie unsere Kolleg*innen selbst gendern, geben wir nicht vor und sanktionieren selbstverständlich auch nicht, wenn es jemand nicht tut. Wir empfehlen gendergerechte Sprache und damit auch das Gendersternchen, aber überlassen es jedem*jeder selbst. Wir wollen dafür sensibilisieren, unterstützen, aber schaffen keine Pflicht.
Der Autohersteller Audi hat vor Kurzem einen „Gender-Leitfaden“ publiziert und dafür eine Klage kassiert. Warum, meinen Sie, ist das bei Otto nicht passiert? Wären Sie gut auf eine Empörungswelle vorbereitet gewesen?
Gondorf: Wir nutzen das Gendersternchen seit 2019 in unserer internen und externen Kommunikation, im Marketing, im HR-Bereich und heute auch schon teilweise in unserer Kund*innenkommunikation. Zu Anfang haben wir nicht groß die Hintergründe kommuniziert, sondern einfach gemacht. Wir wollten kein großes Echo auslösen, sondern es eher als etwas Normales, Selbstverständliches etablieren. Wir sehen die gendergerechte Sprache als einen Lernprozess und wir sind sicherlich nicht überall perfekt. Das kommunizieren wir auch so.
Im Februar 2020 haben wir in unserem Corporate Podcast „O-TON“ zu dem Thema gesprochen – und dafür einen kleinen Shitstorm geerntet. Das war nicht schön. Aber wie sagt mein Kollege Ingo immer so schön: „Haltung zeigen heißt auch aushalten“. Und deshalb haben wir genauso weitergemacht. Eventuell hatten wir das „Glück“, dass 2019 das Thema noch nicht so medial aufgeladen war wie 2021. Wir wollen alle Menschen ansprechen: Männer, Frauen und non-binäre Menschen, die sich keinem der beiden Geschlechter zuordnen können oder wollen.
Welche Ratschläge würden Sie anderen Unternehmen geben, die gern eine gendersensible Sprache einführen wollen, jetzt aber verunsichert sind?
Gondorf: Bereitet euch gut drauf vor, holt erst intern eure Mitarbeitenden ab, etabliert eine abteilungsübergreifende Projektgruppe, holt die Vorstände ins Boot, seid vorbereitet auf Kritik und habt ein umfangreiches FAQ.
Was steht aktuell auf Ihrer Agenda? Und was würden Sie sich für die Zukunft wünschen?
Gondorf: Zurzeit arbeiten wir stark an der Kund*innenkommunikation und holen unsere Kolleg*innen in unseren Service-Centern dazu ab. Wie verfasse ich E-Mails gendergerecht, was antworte ich auf Nachfragen – das sind Themen, wo wir aktiv unter die Arme greifen müssen. Das nimmt momentan die meiste Zeit ein. Für die Zukunft wünsche ich mir noch mehr Unternehmen, die gendergerechte Sprache etablieren und mit uns in den Austausch gehen. Denn nur miteinander können wir viel lernen und auch viel bewegen. Eigentlich ist es sehr einfach: Wenn wir alle Menschen, also eben auch Minderheiten, diskriminierungsfrei ansprechen wollen, dann führt kein Weg an gendersensibler Sprache vorbei.
Über Herausforderungen bei der Etablierung einer gendersensiblen Sprache im Unternehmen und sprachliche Grenzen spricht Linda Gondorf auch in ihrem Vortrag auf dem Kommunikationskongress am 2. September in Berlin. Weitere Informationen zum Programm und zur Anmeldung finden Sie hier.