Im Frühjahrsmonitor 2023 hat der Gesamtverband Kommunikationsagenturen (GWA) den Fachkräftemangel als größte Wachstumsbremse für die Branche identifiziert. Für mehr als 80 Prozent der Befragten aus Agenturen bleibt die Personalsituation die zentrale Herausforderung. Teilweise fehlen Angestellte für Pitches und damit für das Neugeschäft. Den Workload der Beschäftigten immer mehr zu erhöhen und sie damit gegebenenfalls zu frustrieren, ist keine Option. Stattdessen müssen Agenturen in Personal investieren, um es zu halten und um neue Mitarbeitende zu gewinnen. Die Möglichkeit, im Homeoffice zu arbeiten, eine Vier-Tage-Woche, die freie Einteilung der Arbeitszeit sowie abwechslungsreiche Projekte gehören zu den wichtigsten Wünschen der Beschäftigten, zeigt die Umfrage. Das Einstiegsgehalt und die Zahl der Urlaubstage sind wiederum harte Faktoren, die die Arbeitgeberwahl beeinflussen.
Lifestyle-Faktoren alleine überzeugen nicht mehr
Agenturen haben die Notwendigkeit von professionellen Human Resources sowie den Faktor Mitarbeiterbindung lange unterschätzt. Die Einstiegsgehälter waren niedrig. Eine hohe Fluktuation zu verkraften, war deshalb möglich, weil sich zügig neue Kolleginnen und Kollegen finden ließen. Das hat sich geändert. Die aktuelle Entwicklung mit New Work und flexiblen Arbeitsmodellen als Standard kommt Agenturen prinzipiell sogar entgegen. Schon vor der Coronapandemie hatten viele Homeoffice-Modelle. Doch lässt sich mit solchen Selbstverständlichkeiten punkten? Selbst Traditionskonzerne, Behörden und konservative Verbände bieten bei Bürojobs heute eine hohe Arbeitsflexibilität.
Für Björn-Christian Hasse, der gemeinsam mit Susan Hölling als Co-CEO die Netzwerkagentur BCW leitet, sind weder ein ÖPNV- oder Kita-Zuschuss, der obligatorische Obstkorb noch 100 Prozent Homeoffice alleinige Gründe, weshalb sich Kommunikator*innen für eine Agentur entscheiden. Warum auch? Derartige Zusatzleistungen sind kein Alleinstellungsmerkmal. Hasse bezeichnet sie als „Hygienefaktoren“, die moderne Arbeitgeber bieten müssen.
Für ihn befinden sich Agenturen, die strategisch arbeiten und eine hohe Beratungsqualität liefern, in Konkurrenz zu „normalen“ Unternehmen. „Wo gibt es eine Struktur? Wie bekomme ich eine Stelle, die mit meinem Leben übereinstimmt und zu mir passt?“ Unter dieser Prämisse würden Kandidat*innen ihre Arbeitgeber auswählen, meint der Agenturgeschäftsführer. „Wir wollen, dass sich Leute aktiv für uns entscheiden.“
BCW: Flexible Arbeitsprozesse
BCW beschäftigt in Deutschland an sechs Standorten rund 150 Angestellte. Die Agentur hat für sich das Leitbild „Agentur für Erwachsene“ entwickelt und kommuniziert es offensiv nach außen. Dahinter verbirgt sich der Gedanke, am Arbeitsmarkt als professionelles Unternehmen mit etablierten HR-Prozessen und der Chance, sich individuell weiterentwickeln zu können, aufzutreten. Es ist die Abkehr vom gerne vermittelten Branchenbild, dass Agenturen lediglich cool und hip sein müssen. Dass Spaß Defizite kompensiert und Angestellte sich damit zufriedengeben, wenn der Chef spätabends im Büro eine Pizza spendiert. Weniger mit einem Tischkicker, dafür mit mehr „Werten, Mindset und moderner Führung“ will Hasse überzeugen. Der Agenturlifestyle sei überholt. Erfahrenes Personal lasse sich damit sowieso nicht gewinnen.
Björn-Christian Hasse © BCW
Insbesondere für die Kommunikationsagenturen, die für sich eine hohe Krisenkommunikations-, Change- und Strategie-Kompetenz reklamieren, stellt sich die Frage, wie sie sich positionieren wollen. Die führenden integrierten Agenturen sind meist auch im Kampagnengeschäft tätig. Dafür benötigen sie Kreativität und Out-of-the-Box-Denken, was wiederum in einem Spannungsverhältnis zu hochseriöser Beratung steht. Wie sieht die richtige Unternehmenskultur aus?
Fest steht: Das Wettrennen um den lockersten Arbeitgeber können Kommunikationsberatungen kaum gewinnen. Werbeagenturen, Influencer- oder Digital-Dienstleister, Eventveranstalter und vor allem Start-ups sind deutlich authentischer, wenn es darum geht, den Coolness-Faktor auszuleben. Im Vergleich dazu wirken PR-Agenturen schnell spießig und langweilig – zu wenig Party und „Hoch die Tassen!“
Was also tun? BCW setzt auf flexible Arbeitsprozesse. Alle Mitarbeitenden sollen die Möglichkeit besitzen, eigenverantwortlich zu arbeiten. Mikromanagement durch Führungskräfte sei ein No-Go. Es gebe keine Hoheitsgebiete, die krampfhaft verteidigt werden, dafür schnelle Reaktionszeiten und kollaboratives Arbeiten. Dazu ein wertschätzendes Arbeitsklima. Hasse: „Wir können uns manches Verhalten, wie es früher in Agenturen üblich war, einfach nicht mehr leisten.“
Ballhaus West: Vier Tage arbeiten bei vollem Gehalt
Die Kampagnenagentur Ballhaus West, die unter anderem den Wahlkampf der SPD in Berlin 2021 begleitet hat, führte zum 1. Juli die Vier-Tage-Woche ein. Außer für die Geschäftsführung ist sie verbindlich für alle rund 30 Angestellten. Die Arbeitsverträge wurden mit anwaltlicher Hilfe entsprechend geändert. Drei Tage am Stück sollen die Mitarbeiter*innen künftig frei haben – entweder montags oder freitags plus das Wochenende. Das Gehalt bleibt identisch zu fünf Tagen. Die Agentur ist für Kunden weiterhin jeden Tag erreichbar. Die Belegschaft wird dafür in zwei Teams aufgeteilt. Eines arbeitet von Montag bis Donnerstag, das andere von Dienstag bis Freitag.
Mit diesem Schritt verfolgt die Agentur mehrere Ziele, erklärt Geschäftsführerin Alice Gittermann. Zum einen soll für das Personal ein zusätzlicher Anreiz entstehen, längerfristig in der Agentur zu bleiben. Zum anderen will die Agentur gegenüber Bewerber*innen interessanter werden. Dazu kommt der PR-Effekt. Kommunikationsfachmedien berichteten umfangreich über die Agenturentscheidung. Vor allem erhofft sich die Agentur, dass die Mitarbeitenden „wertschöpfender und kreativer arbeiten“, wie Gittermann sagt. Es soll wieder möglich sein, Arbeits- und Privatleben klar zu trennen. Die Angestellten sollen abschalten können und dann mit freiem Kopf wieder zur Arbeit kommen. „Uns geht es um das Mindset“, betont Gittermann. Dass besonders arbeitsreiche Phasen Flexibilität erfordern, ist auch klar.
Alice Gittermann © Ballhaus West
Der Agentur ist es wichtig, dass keine zusätzliche Arbeitsbelastung entsteht. Dafür will Ballhaus West mehr Personal einstellen oder Freelancer einsetzen, wenn Bedarf besteht. Dahinter steckt auch eine wirtschaftliche Kalkulation. Die neu eingestellten Beschäftigten arbeiten ebenfalls wertschöpfend. Im Idealfall erhöht sich dadurch der Honorarumsatz. Außerdem verspricht sich die Geschäftsführung eine verbesserte Arbeitsorganisation. Die Agentur hat neue Räumlichkeiten an der Potsdamer Straße in Berlin bezogen. Gittermann hofft, dass die Präsenz im Büro an den vier festen Arbeitstagen steigt.
Die Vier-Tage-Woche ist auch eine Reaktion auf die veränderten Erwartungen der Bewerber*innen. „Wir werden regelmäßig in Vorstellungsgesprächen gefragt, ob die Möglichkeit besteht, nur vier Tage in der Woche zu arbeiten“, sagt Gittermann. Der Unterschied zu einer Teilzeitregelung mit 80 Prozent: Es gibt vollen Lohnausgleich.
PR-Com: Unbegrenzter Urlaub
Die vor allem auf Technologiekunden spezialisierte Münchner PR- und Content-Agentur PR-Com hat im Januar dieses Jahres einen anderen Ansatz gewählt: unbegrenzten Jahresurlaub für die etwa 45 Beschäftigten. Eine Obergrenze gibt es nicht. Für die Geschäftsführung ist das der nächste Schritt nach der Einführung des bedingungslosen Homeoffice und der komplett flexiblen Arbeitszeit. All das setzt in hohem Maß Vertrauen voraus: dass die Angestellten sich selbst organisieren können und motiviert sind, gute Arbeit zu verrichten. Und dass sie die neue Freiheit nicht ausnutzen.
Wenn es für etwas klare Regeln gibt, entfällt der Grund für ein schlechtes Gewissen. Die Lebenserfahrung zeigt, dass Homeoffice auch dafür genutzt wird, während der Bürozeiten private Dinge zu erledigen und dafür berufliche Aufgaben in die frühen Morgenstunden oder in die Abendstunden zu verlegen. Diese Entgrenzung bereitet vielen Schwierigkeiten, weil Arbeit und Freizeit ineinander übergehen. Irgendwie ist man doch ständig im Einsatz. Selbst auf dem Stepper im Fitnessstudio können viele ihr Handy nicht weglegen. Man muss schließlich erreichbar sein, da es sich um Arbeitszeit handelt. So ist es gelernt.
Martina Jahrbacher, Geschäftsführerin PR-Com, nennt den unbegrenzten Urlaub „Vertrauensurlaub“. Wie viele Tage Urlaub die Angestellten nehmen, könne sie bisher noch nicht sagen. Offenbar gibt es zumindest keine Anzeichen dafür, dass sich die Mitarbeitenden nun reihenweise auf mehrmonatige Weltreisen begeben. Die Prioritäten seien andere: „An erster Stelle steht die spontane Verlängerung eines Urlaubs oder Wochenendes auf der Agenda. Beliebt sind auch längere Urlaube und Besuche bei Freunden oder Familie, für die normalerweise kein freier Tag genommen wird“, sagt Jahrbacher.
Martina Jahrbacher © PR-Com
PR-Com nutzt diese Regelung auch, um sich von anderen Arbeitgebern abzugrenzen. „Erstens wird es als konkreter Vertrauensbeweis gesehen und zweitens als eine Besonderheit, die so nur wenige Firmen anbieten“, erklärt Jahrbacher. Bedenken habe es bezüglich der praktischen Umsetzung gegeben, weil sich der Abstimmungsbedarf im Team erhöhe. Das hat auch Vorteile: Teammitglieder dürften künftig genauer wissen, was die Kolleg*innen tun und was auf deren Schreibtisch liegt.
Heißt: Erlebt jemand gerade einen romantischen Sonntagabend am Ostseestrand und entscheidet sich spontan, einen Tag länger zu bleiben, können andere Teammitglieder einen Teil der Aufgaben am Montag übernehmen. Es muss sich nur ausgleichen. Und: Man muss sich absprechen.
Auch für PR-Com ist es eine Herausforderung, Personal zu finden. Hier ergebe sich ein gemischtes Bild: „Den personellen Umfang unserer internen Redaktion haben wir durch exzellente und erfahrene Redakteure aus diversen IT-Verlagen mehr als verdoppeln können. Auf der Beraterseite war es dagegen richtig schwierig, gute Leute zu finden. Das hat sich in diesem Jahr zwar etwas entzerrt, aber die Recruitment-Herausforderung in diesem Segment bleibt.“ Der Schritt, unbegrenzten Urlaub einzuführen, hat zu Medienberichterstattung geführt. Jahrbacher freut sich über mehr Initiativbewerbungen: „Damit haben wir so nicht gerechnet, das war mehr als nur ein schöner Nebeneffekt.“
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe #Medien. Das Heft können Sie hier bestellen.