Mit Schlecky Silberstein und dem Internet verhält es sich wie mit der Ehe. „Wenn man nah dran ist, weiß man irgendwann jeden Scheiß voneinander“, sagt er in einem Interview. Der Kult-Blogger und Comedy-Autor rechnet ab mit einem Medium, dem er vieles zu verdanken hat. Sein Blog „Schlecky Silberstein – Die Jogginghose für den Kopf“ hat ihn berühmt gemacht, monatlich lesen ihn 600.000 User. Er produziert das „Bohemian Browser Ballett“ für Funk, ein Online-Medienangebot von ARD und ZDF, und ist längst zu einem einflussreichen Kultakteur der Netzgemeinde avanciert. Zu seinem neuen Buch „Das Internet muss weg“ fragen ihn im Interview nahezu alle Medien: „Wo ist der Gag?“
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Und die meisten denken: „Wie soll das gehen?“ Und ja – das geht natürlich nicht. Das weiß auch Schlecky Silberstein. Er will lediglich Licht ins Dunkel bringen, diesen diffusen Abgrund ausleuchten, in den alle blicken, wenn sie nervös noch einmal umkehren, weil sie das Smartphone zu Hause vergessen haben; die sich dabei erwischen, dass sie alle paar Sekunden aufs Display schauen; die das Gefühl kennen, wenn das verheißungsvolle Summen innerlich hartnäckig alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, obwohl man gerade mit Bedeutenderem beschäftigt ist. Jede Nachricht könnte wichtig sein; immerzu kontrollieren wir Likes, Shares und Chatnachrichten – ganz gleich, ob beruflich oder privat; eine für 30 Minuten unbeantwortete Chatnachricht gilt als persönlicher Affront.
Der 36-Jährige verbrachte das gesamte Jahr 2017 damit, diesem Phänomen auf den Grund zu gehen, das sich langsam, aber bedrohlich vor ihm aufbaute – spätestens wohl, als seine Mutter plötzlich zu einer Pegida-Demo ging, weil die Facebook-Filterblase ihre Gesinnung verändert hatte. Warum hat das Internet auf beinahe jeden Lebensbereich unserer vernetzten Gesellschaft einen derart ätzenden Einfluss?
Wir sind Like-Vieh
Schlecky Silberstein ist nach seiner Recherche frustriert: Die aktuelle Version des Internets sei die größte Verarschungsmaschine aller Zeiten. „Nutzer sind nichts anderes als Like-Vieh“, sagt er in einem Interview. Die allgegenwärtige Möglichkeit einer Reaktion auf unsere Posts in dieser virtuellen Kultur nennt Schlecky Silberstein ein gigantisches Glücksrad, das sich ewig dreht und die Erwartung permanent aufrechterhält. Das ist größter Stress für unseren Körper. Wir alle kennen den Griff zum Smartphone, wenn einmal nichts passiert. Wir haben vielleicht schon längst den spirituellen Zustand der Langeweile verlernt.
Der einzige Weg für Silberstein: den Menschen begreiflich machen, wie im Internet Geld verdient wird, sie aufklären, mündig machen. Wir hören das Wort Datenkapitalismus, lesen über Facebook-Skandale und Wahl-Manipulationen, klicken auf „Akzeptieren“, wenn Websites uns sagen, dass sie Cookies benutzen. Wir stehen dieser Maschinerie irgendwie seltsam emotionslos gegenüber, machen weiter – es ist nun einmal bequem.
Das Internet muss weg. Eine Abrechnung.
Schlecky Silberstein, 272 Seiten, Knaus, 16 Euro
Ohne das Netz können wir nicht mehr leben. Es hat mittlerweile die Seele einer ganzen Generation geprägt: Ein Experiment an einer Schule ergab, dass Jugendliche deutlich weniger Augenkontakt aushalten als früher und ihr Empathievermögen dramatisch gesunken ist. Alles durch den Tech-Terrorismus, schreibt Silberstein. Ein echtes Gespräch empfinden die meisten Jugendlichen heute als Extremsituation. Sie schreiben, chatten, fotografieren, liken – die verheißungsvolle Generation Y, auf die sich Unternehmen gefreut hatten, entpuppt sich dann doch nur als eine Ansammlung verunsicherter Typen, die beim Jobeinstieg via Mail auf sich aufmerksam machen.
Alles, was der Kult-Blogger schreibt, ist wichtig. Man möchte seine Anekdoten und Thesen gleich den engsten Freunden erzählen, die Familie aufklären, Kollegen bekehren, die Welt verändern. Schlecky Silbersteins Buch zu lesen, das ist wie mit einem guten Freund in einer Bar zu sitzen und über Wohl und Weh der Gesellschaft zu debattieren. Seine Sprache ist direkt, vereinnahmend, pointiert – und brutal ehrlich. Er erzählt von seiner eigenen Internet-Abhängigkeit als Blogger, davon, welche Seiten er an sich entdeckte, als er als Experiment eine rechtsradikale Website erstellte, die binnen kürzester Zeit eine treue, kranke Gefolgschaft an sich band. Er erzählt, wie er verzweifelte Stunden beim Lesen des Facebook-Profils seiner Mutter zubrachte, um herauszufinden, wie es zu ihrer politischen Kehrtwende kam.
Science-Fiction-Technologie
Schlecky Silberstein streut Beispiele in sein leidenschaftliches Plädoyer für mehr Medienkompetenz, die einem Gänsehaut bescheren: wie die gruselige Science-Fiction-Technologie „VoCo“, die es Adobe möglich macht, Stimmen und Gesichtsbewegungen nachträglich in Videos einzubauen. Er berichtet von Silicon-Valley-Auswanderern, die die digitale Welt nicht mehr ertragen und ihre eigenen Erfindungen verfluchen. Ein Mitentwickler des Facebook-Like-Buttons hat eine Assistentin, die seine Nutzung der Social-Media-Kanäle reglementiert. Er selbst ist zu abhängig, um das zu tun.
Silberstein beweist überzeugend, wie der diabolische Sog des Mechanismus, den Spielautomaten auf Spieler ausüben, auf das Netz übertragen wurde. Wir lernen Computerspielabhängige kennen, die durch ihre Sucht ihr komplettes Leben verwirkt oder sogar verloren haben. Wir blicken in die grausamen Tiefen des Imageboards „4chan“ und den radikaleren Klon „8chan“ – das „Arschloch des Internets“. „4chan“ ist eine der meistbesuchten Seiten des Internets. Dort sind die Nutzer anonym, kommentieren johlend Nacktbilder, zetteln Protestaktionen an. Ein Mörder zeigte auf der Plattform sogar sein Opfer. Die Nutzer: junge Männer ohne Jobs, ohne Perspektiven, ohne Freundin.
Zur Erholung gibt es verhältnismäßig milde Passagen über den Mythos des Multitasking oder die Clickbait-Sucht von Journalisten. Wir lernen, wie extreme Headlines funktionieren, wie unser Belohnungszentrum bei der Internetnutzung von einem Kick zum nächsten jagt.
Am Schluss ist man geschafft, geplättet, alarmiert und aufgeregt. Man will irgendetwas tun. Hauptsache, es hat nichts mit dem Internet zu tun.
Fazit:
(Sollte man gelesen haben)
Alles, was Schlecky Silberstein in diesem Buch schreibt, ist wichtig. Man möchte seine Anekdoten und Thesen gleich den engsten Freunden erzählen, die Familie aufklären, Kollegen bekehren, die Welt verändern.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe ALLES AUF ANFANG. Das Heft können Sie hier bestellen.