Angela Merkels Erfolg auf Allgemeinplatz eins

Rhetorik

Beginnen wir beim Anfang der Geschichte. Frau Doktor Angela Merkel ist 35 Jahre alt und bewirbt sich als Pressesprecherin. 1989 ist das, in der Noch-DDR, beim Demokratischen Aufbruch. Vorher hat sie bei der SPD angeklopft –  doch die wollte nicht! Der Demokratische Aufbruch geht wenig später in der CDU auf. Merkel wird stellvertretende Regierungssprecherin des letzten Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière. Jung, klug und neugierig begleitet sie die Veränderung vom alten Gesellschaftssystem ins neue. Diese Eigenschaft wird zu ihrem Wesenszug: Moderatorin der Veränderung zu sein.

Fast 30 Jahre später ist Angela Merkel zum vierten Mal zur Bundeskanzlerin gewählt geworden. Sie hat mit ihren Reden viel verändert in diesem Land. 2005 Rot-Grün abgelöst mit „Deutschlands Chancen nutzen“. 2009 die Finanzkrise bekämpft mit „Gemeinsam für unser Land“. 2013 auf Kontinuität gesetzt mit „Gemeinsam erfolgreich für Deutschland“. Und 2017 mit „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“ auch einige Kritik geerntet. Dennoch erscheint sie offenbar der Mehrheit vertrauenswürdig, bescheiden und berechenbar in einer ­unberechenbaren Welt.

Eine schwierige Frage in ein Tor verwandeln

Seit der Antike gilt: Gute Redner sind offen, mutig, sie benennen das, was die Menschen bewegt, sind dabei aber maßvoll und wirken für die ­Zuhörer integrativ.

Wie war das noch im TV-Wahl-Duell mit Martin Schulz? Gleich zu Beginn hinterfragte ZDF-Moderatorin Maybrit Illner genau die Berechenbarkeit: „Frau Merkel, am Ende Ihres letzten Duells sagten Sie: ‚Sie kennen mich!‘ Können sich die Bürger dieses Landes da eigentlich noch sicher sein? Gibt es nicht bei vielen Themen wenigstens zwei Angela Merkels? Die Klima- und die Autokanzlerin? Die Willkommenskanzlerin und die der Abschottung?“

Merkel freute sich auf ihre Antwort: „Ich glaube, jeder Mensch verändert sich im Laufe seines Lebens.“ Rhetorisch clever, ein Allgemeinplatz, der die Zuhörer eint und versammelt. Merkel hatte den Ball souverän angenommen: „Und die Herausforderungen sind auch immer wieder neue.“

Noch ein Allgemeinplatz. Doch der dient eher zur Richtungsfindung für den Fernschuss aufs gegnerische Tor: „Ich bin Vorsitzende einer Partei, die für Maß und Mitte steht. Und deshalb sind für mich diese Alternativen Auto oder Klima überhaupt keine Alternativen – auch nicht Willkommen oder Abschottung –, sondern es geht bei der Frage der Flüchtlinge um Menschen und es geht bei der Frage von Klima und Mobilität um nachhaltige Lösungen, und daran arbeite ich.“ Zack, der Ball war drin, Illners Frage nicht nur abgewehrt, sondern in ein Tor verwandelt.

Wie lässt sich eine knifflige Frage also vorbildhaft beantworten? Folgende Ratschläge:

1. Offen und mutig. Den gegnerischen Angriff durch eine Ich-Botschaft annehmen. Diesem dann durch einen unstrittigen Allgemeinplatz die Spitze nehmen. Dann eigene Richtung wählen und die Energie aus dem Angriff für die eigene Argumentation übers Grundsätzliche nutzen.

2. Maßvoll und integrativ. Streit schlichten durch Sowohl-als-auch! Das Leben ist Veränderung. Wer den Herausforderungen gerecht werden will, denkt in „Sowohl-als-auch“ statt „Entweder-oder“. Dieses Vorgehen wird in der politischen Rhetorik Konsensargument genannt. Merkel stellt sich in die Mitte der Gesellschaft und trifft dort auf den Common Sense, den Alltagsverstand der Bürger.

3. Sagen, was die Menschen bewegt. „Es geht bei der Frage der Flüchtlinge um Menschen und es geht bei der Frage von Klima und Mobilität um nachhaltige Lösungen.“ Merkel nennt die Dinge beim Namen und drückt Überzeugungen aus, ohne konkret zu werden.
Wir merken: Allgemeinplätze entschärfen den Konflikt und schaffen eine gemeinsame Perspektive. Konsens schafft Verbindung. Zuhörer können die Konsens-Worte für sich selbst interpretieren. Das Allgemeine wird durch die Vorstellungskraft der Zuhörer erst konkret und dadurch fast immer gut und richtig. Der Wermutstropfen: Das Offene, die Fähigkeit zur Empathie, die rednerischen Leidenschaften eines Emmanuel Macron, Bill Clinton oder Willy Brandt ­fehlen der merkelschen Erfolgsrhetorik.

Neugierige ­Moderatorin der Veränderung

Diese Erfolgsformel wurde auch bei Merkels Schlusswort im TV-Wahl-Duell deutlich. Hier beschreibt sie, worauf es ihr ankommt: „Wir müssen jetzt die Weichen für die Zukunft stellen. Durch den digitalen Fortschritt wird sich vieles ändern … und Arbeitsplätze, die heute sicher erscheinen, müssen weiter sicher gemacht werden. Die Bildung muss umgestellt werden. Wir müssen die Bürgerinnen und Bürger mit Blick auf den Staat mit neuen digitalen Möglichkeiten zu ihrem Staat ausrüsten … ich glaube, dass wir das gemeinsam schaffen können.“

Merkels Lieblingswort hier ist „müssen“. Das zeigt Alternativlosigkeit im Denken der Kanzlerin. Merkel beschwört globale Herausforderungen. Und stellt sich auch heute – fast 30 Jahre nach dem Fall der Mauer – dem Unerwarteten. Mit ihrer Erfahrung und Neugier als Moderatorin der Veränderung, die den Konsens sucht und das Gemeinsame vertritt. Das muttiviert!

Fazit: Angela Merkel ist sich selbst treu geblieben und verwandelt mit ihren Worten das Ungewisse der Veränderung gleichsam in eine politisch harte Währung. Ihre Worte erreichen uns, weil wir die Veränderungen nicht so sehr lieben wie das Beständige. In ihrer zuweilen schüchternen, dann wieder charmanten und auch harten Seite ist sie wie wir.
 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe VORBILDER. Das Heft können Sie hier bestellen.

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