Öffnet man die Video-App TikTok und scrollt durch den Feed, dann entsteht schnell der Eindruck, man befände sich in einer Dauershow zwischen Tanzeinlagen, Blödelei und seichter Teenager-Erotik. Tatsächlich gibt es auf TikTok unzählige Kurzvideos, die in diese Richtung gehen. Doch findet man als User inzwischen auch reichlich Inhalte zu Themen mit politischem und gesellschaftskritischem Bezug.
Unternehmen können das Potenzial von TikTok nur ausschöpfen, wenn sie ein Verständnis für eine überwiegend jüngere Zielgruppe mitbringen. Mit dem Slogan „Real People. Real Videos“ tritt TikTok an, um vor allem die Generation Z Smartphone-gerecht anzusprechen. Was aber ist der Unterschied von TikTok zu Facebook und Instagram? Was macht die „Real People“ der TikTok-Community aus?
Entscheidend ist die demokratische Verbreitung der Inhalte. Auf anderen Social-Media-Plattformen baut ein Creator – so nennt TikTok die Content-Produzenten – Bekanntheit und Reichweite durch hartnäckiges Dauerposten und eine mühselige Pflege der Community auf. Der Algorithmus von TikTok dagegen bewertet jeden Beitrag neu, unabhängig von der bisherigen Performance des Kanals. So ist es möglich, dass bereits mit dem ersten TikTok-Beitrag eine gewaltige Zahl an Zuschauern erreicht werden kann. Dieser Zugang macht TikTok besonders: Ich muss kein Star sein, um ein Star zu werden. Es ist also praktisch aus dem Stand möglich, auf TikTok in den Zenit der Community aufzusteigen.
Die Zielgruppe gibt die Inhalte vor
„Macht euch frei von allem, was ihr auf anderen Plattformen in Sachen Social-Media-Marketing gelernt habt“, sagt Sahra Al-Dujaili. Sie ist inzwischen für den Bereich Client Solutions bei TikTok zuständig. Den erwähnten Satz sagte sie über TikTok, als sie noch Social-Media-Teamleiterin bei Otto war und dort die Kampagne #MachDichZumOTTO ins Leben gerufen hat. Die Spots haben mehr als 147 Millionen Views erreicht. Ottos Auftrag an die Community lautete: Macht euch in verschiedenen Situationen zum Otto und stellt die daraus resultierenden Peinlichkeiten online. So eine Challenge lieben die TikTok-User. Parallel fand eine Auseinandersetzung mit der Marke statt und am Ende wurden über 59.000 Videos zum Hashtag #MachDichZumOTTO kreiert. Das ist indirektes Marketing, zeigt aber perfekt, wie Unternehmenskommunikation auf TikTok erfolgreich sein kann.
#MachDichZumOTTO war eine erfolgreiche Challenge für Otto. (c) TikTok/Otto
Wer klassische Unternehmensbotschaften samt Logopräsenz und Call-to-Action produzieren möchte, der ist auf TikTok falsch. Die Community entwickelt fortlaufend humorvolle „Challenges“, die ein Unternehmen aufgreifen und mit größtmöglicher Originalität interpretieren sollte. Die Kunst liegt darin, sich als Marke oder die eigene Produkteigenschaft möglichst humorvoll bis selbstironisch in der Interpretation der Challenge unterzubringen. Umso weniger werblich das gelingt, desto größer ist die Chance auf einen Posting-Erfolg.
Ein Beispiel: Am 11. März 2020, als Corona weltweit an Fahrt aufnimmt, entwirft die 19-jährige Keara Wilson aus einem Vorort in Ohio eine 15 Sekunden lange Tanzabfolge zur Musik des Titels „Savage“ der Starrapperin Megan Thee Stallion. Die „Savagechallenge“ war damit geboren: Kearas Tanz geht viral. Tausende haben Kearas Challenge bereits nachgetanzt, als am 6. April 2020 die große Überraschung passiert: Megan Thee Stallion höchstpersönlich nimmt die #savegechallenge an. Sie interpretiert in einem Posting ihren eigenen Hit mit den Tanzschritten der 19-jährigen Amerikanerin. Der amerikanische Fernsehsender „Fox 46“ aus Charlotte hat sich ebenfalls der Savagechallenge gewidmet. „Fox-46“-Meterologe Nick Kosir stimmte seine eigenen „Wetter-Lyrics“ auf die Musik ab und tanzte die Savechallenge vor der Wetterkarte des TV-Senders. Das Ergebnis zeigt, was möglich ist, wenn man Mut zur Selbstironie mitbringt. 5,3 Millionen Views gab es für diesen Post. Nick Kosir und sein Team wurden damit zu sympathischen Testimonials für ihren Arbeitgeber.
Eine Bühne für das Recruiting
TikTok eignet sich hervorragend für Personalthemen. Durch das Aufgreifen von Challenges und Hashtags lässt sich ein authentischer Einblick in die Welt eines Unternehmens erzeugen. Insbesondere dann, wenn die Ideen für einen Remix von den Mitarbeitern selbst kommen. Die Voraussetzung dafür ist neben dem Mut, sich auf ein verändertes Unternehmensbild einzulassen, vor allem das Vertrauen in die Kreativität der Mitarbeiter.
Ein gutes Beispiel hierfür liefert das Klinikum Dortmund. Das Kommunikationsteam unter der Leitung von Marc Raschke ist bekannt für kreative Kommunikationsideen. Mitarbeitende des Klinikums tanzten auf TikTok ihren Job und leisteten mit diesen Videos einen Beitrag, um das Klinikum Dortmund als attraktiven Arbeitgeber zu positionieren. Zu Hashtags wie #chooseyourcharacter, #bestekollegen oder #spaßbeiderarbeit lernen Zuschauerinnen und Zuschauer das Kollegium der Klinik kennen. Ausbildungsangebote der Klinik werden humorvoll beworben.
Das Klinikum Dortmund ließ die Angestellten ihren Job tanzen. (c) Tiktok/Klinikum Dortmund
Raschke und sein Team gewannen mit der Aktion mehrere HR- und PR-Preise, darunter den Deutschen Preis für Onlinekommunikation. Wichtig für das Klinikum dürfte aber gewesen sein, dass die Bewerberzahlen sich positiv entwickelten. Auch die Medienberichterstattung war enorm.
Das internationale TikTok-Publikum ist vielfältiger als erwartet, wie TikTok in einer gemeinsam mit dem Marktforschungsinstitut Kantar durchgeführten Studie herausfand. 67 Prozent der TikTok-Nutzerinnen und -Nutzer weltweit sind älter als 25 Jahre. 32 Prozent sind zwischen 25 und 34 Jahre alt. Ein wesentlicher Teil der aktiven User ist zwischen 13 und 25 Jahre alt. Um in dieser Zielgruppe zu punkten, sollte man nicht Rap-Videos produzieren, sondern Content erstellen, der aus der direkten Lebenswelt der Zielgruppe stammt.
Lebenswelt der Zielgruppe kennen
Wer diese Kunst mit Bravour beherrscht, ist Tim Hendrik Walter, Fachanwalt für Familienrecht aus Unna. Unter dem TikTok-Pseudonym „Herr Anwalt“ erreicht Tim Hendrik Walter etwa 2,7 Millionen Follower. Er gibt sich als tapferer Verteidiger der TikTok-Community gegen zu strenge Eltern und unfaire Lehrer. Unter dem Hashtag #1minutejura diskutiert „Herr Anwalt“ vor allem Themen, die ihm die Community über die Kommentare direkt zuspielen: Dürfen meine Eltern mir mein Handy wegnehmen? Darf der Lehrer Schüler mit Kreide abwerfen? Alleine dieses Thema ist über 9.000 Mal kommentiert worden und trifft damit wohl die Lebensrealität der Zielgruppe.
Walter, selbst Jahrgang 1984, ist seit rund einem Jahr auf TikTok. Zum einjährigen Jubiläum bedankte er sich unlängst bei seinen Followern mit einem sehr emotionalen Video für die Treue und bezeichnete dabei andere TikTokler, die im Durchschnitt zehn Jahre jünger sind als er selbst, als „Legenden“ und seine „Idole“. Aus seinem Posting spricht Anerkennung, Respekt und Verständnis für die Lebensfragen der User. Doch auch sonst handelt Walter im Sinne der Community: Kein Kommentar der Fans, der unbeantwortet bleibt, und kein dringendes Thema, das „Herr Anwalt“ in den täglich gesendeten Videopostings nicht aufgreift. Seine Danksagung schließt Walter mit einem Satz ab, der treffend zusammenfasst, was TikTok am Ende ausmacht: „Alles Schöne entsteht hier zusammen. Mit Euch!“
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe DAS CORONA-JAHR. Das Heft können Sie hier bestellen.