Unsere „kollektive Aufmerksamkeit" sinkt

Studie

Der technische Fortschritt der Informationsübertra­gung geht auf einen Zeitraum von etwa 200 Jahren zurück und die Übertragungskapazität wächst wei­terhin exponentiell. Menschen senden und empfan­gen immer mehr Daten – vom Telefon über das Fern­sehen bis hin zum Internet wird das Potenzial dieser Infrastruktur ständig erweitert.

Die Auswirkungen der ständigen Nachrichten-und Informationsflut auf unsere Aufmerksamkeit wur­den in den letzten Jahren immer wieder diskutiert. Soziologen, Psychologen und Lehrer warnen, dass Eilmeldungen, Push-Benachrichtigungen sowie die Angst, etwas zu verpassen, zu einer „sozialen Beschleu­nigung“ führten. Bisher fehlten empirische Daten, um diese These zu untermauern. Ein Grund ist, dass lang­fristige Auswirkungen der Technologie auf die Gesell­schaft erst jetzt, etwa 20 Jahre nach Entstehung des interaktiven Webs und dem Beginn der Datenerfas­sung auf Bevölkerungsebene, messbar sind.

Um besser zu verstehen, was die Welt bewegt, ist die Dynamik der sogenannten kollektiven Aufmerk­samkeit, also des öffentlichen Interesses, eine inte­ressante Beobachtungsgröße. Doch wie misst man kollektive Aufmerksamkeit?

In einem Team von Physikern, Mathematikern und Informatikern untersuchten wir in unserer Studie verschiedene Medien. Wir schauten uns an, wie lange ein Thema, ein Hashtag oder auch ein Film besonders beliebt waren. Die Daten dazu stammen aus Bestsel­lern der letzten 100 Jahre, aus Kinokartenverkäufen der letzten 40 Jahre, aus wissenschaftlichen Publika­tionen der letzten 25 Jahre sowie von Twitter, Google Trends, Reddit und Wikipedia aus verschiedenen Zeitspannen der 2010er-Jahre.

Spanne der kollektiven Aufmerksamkeit schrumpft

Besonders eindeutig lässt sich die Verkürzung der Aufmerksamkeitsspanne anhand von Twitter able­sen. Aus einem Datensatz, der aus etwa 43 Milliar­den Tweets besteht, gepostet zwischen 2013 und 2016, lesen wir ab, was die meisten schon spüren: Die Wel­len der öffentlichen Aufmerksamkeit beschleunigen sich. Während ein Hashtag im Jahr 2013 im Durch­schnitt noch für knapp 18 Stunden besonders beliebt ist, sind es drei Jahre später nur noch zwölf Stunden.

Twitter ist kein Einzelphänomen. Auch wenn man sich das Volumen einzelner Google-Suchbegriffe zu sogenannten populären Themen wie Sportmann­schaften oder Politikern über die Jahre anschaut, wird klar: Die Zeitspanne, in der ein Begriff beson­ders oft gesucht oder ein Post auf Reddit stark disku­tiert wird, wird immer kürzer.

Dieser Trend beschränkt sich nicht nur auf die Online-Welt. Anhand von Kinokasseneinnahmen analysierten wir, wie lange Kinofilme beliebt waren, und evaluierten mithilfe des digitalisierten Google-Books-Datensatzes, wie Themen von Buchautoren aufgegriffen und wieder fallen gelassen werden. So lagen in den Achtzigerjahren zwischen zwei Block­bustern in den Kinos durchschnittlich vier Monate, 2018 waren es gerade zwei Wochen. Bei zwei Büchern, die sich mit Trendthemen beschäftigten, lag im spä­ten 19. Jahrhundert eine Zeitspanne von sechs Mona­ten, im 21. Jahrhundert war es gerade ein Monat.

In all diesen Datensätzen können wir ablesen, dass populäre Themen immer schneller auf Inter­esse stoßen und dieses zunimmt, zugleich aber auch schneller wieder abstürzt. Die dadurch kürzere Auf­merksamkeitsspanne hinterlässt jedoch keine Lücke, sondern wird sofort mit einer neuen Welle an Interesse für das nächste Thema gefüllt – die Zahl der Tweets zu populären Themen pro Woche hat sich zwischen den Jahren 2013 und 2016 von zwei auf vier Millionen ver­doppelt. Das führt dazu, dass Mediennutzer mehr The­men in der gleichen Zeit aufnehmen und weniger Zeit für jedes einzelne Thema bleibt. Was heißt das nun für Kommunikatoren und Rezipienten?  

Information frisst Aufmerksamkeit

„Information frisst Aufmerksamkeit“, sagte der Sozialwissenschaftler Herbert Simons bereits in den Siebzigerjahren: „Informationsreichtum schafft eine Armut der Aufmerksamkeit und die Notwendigkeit, diese Aufmerksamkeit effizient unter dem Überfluss an Informationen zu verteilen.“ Fast 50 Jahre später ist die menschliche Aufmerksamkeit in der vernetz­ten Welt zu einer knappen und wertvollen Ressource geworden. Simon‘s vereinfachtes Bild des Menschen als serielle Informationsverarbeitungseinheit macht diesen Zusammenhang klar:

Solange wir uns mit einem Inhalt beschäftigen, können wir uns keinem anderen widmen. Da Zeit für jeden Einzelnen nur endlich verfügbar ist, aber immer mehr Content produziert wird, entsteht ein Konkurrenzkampf. Produzenten und Konsumenten stehen gleichermaßen unter Druck – während bei­spielsweise Journalisten versuchen, die immer kürze­ren Aufmerksamkeitsspannen der Konsumenten für ihre Themen zu gewinnen, wird es für den Einzelnen immer schwieriger zu entscheiden, welchen Informa­tionen er folgen oder vertrauen kann.

Themen verpuffen schneller

Wohin mit dem Überfluss an Informationen? Schauen wir uns Twitter an: Hier führt das Mehr an Tweets nicht dazu, dass zum jeweiligen Thema ver­tieft getwittert wird. Eher führt es dazu, dass mehr Themen hintereinander aufploppen. Wir erklä­ren diese Beobachtung damit, dass Content nicht nur schneller produziert wird, sondern durch glo­bale Vernetzung auch früher beim Rezipienten ankommt. Dadurch verpufft Aufmerksamkeit für ein Thema schneller. Der Drang nach etwas Neuem treibt uns dann direkt zum nächsten Thema. Es entsteht ein Teufelskreislauf: Je schneller die Auf­merksamkeit aufgebraucht ist, desto aktueller müs­sen Kommunikatoren, Journalisten und Influencer neue Inhalte produzieren, was wieder zum schnel­leren Saturieren führt.

Jeder Klick in der Aufmerksamkeitsökonomie ist bares Geld wert, weswegen Online-Anbieter die Nut­zer auf ihre Plattform holen und sie dort halten wol­len. Die Sortieralgorithmen von Newsfeeds haben oft starke Aktualitäts-Kriterien für die Reihenfolge der gezeigten Inhalte, um ihre Nutzer nicht zu lang­weilen. Das verstärkt den Druck noch zusätzlich und Inhalte müssen immer schneller und, im schlechtes­ten Fall, auch oberflächlicher recherchiert werden, um mithalten zu können.

Qualität vor Quantität

Die Geschwindigkeit der Datenübertragung wird weiterwachsen und die Methoden, unsere Aufmerk­samkeit zu erzeugen, werden mit zunehmenden Informationen über unsere Vorlieben immer verlockender werden.

Es ist wichtiger denn je, mit neuen Formaten des Online-Publizierens zu experimentieren, die Gestaltung von News-Plattformen zu überdenken und Sortieralgorithmen zu überarbeiten. Einfache Kennzeichnungen von gut recherchiertem Content und leicht zugängliche Quellen über auffällige Links können helfen, andere Qualitäten als pure Aktuali­tät und provokante Clickbaits im Online-Ökosystem zu belohnen. Wikipedia ist ein Beispiel dafür, wie aus der kollektiven Aufmerksamkeit kollektive Intelli­genz werden kann. Die Gestaltung der Seite lädt ein, sich zu informieren, anstatt durchzueilen. Hier steht Wissen vor Neuigkeiten.

Im heutigen Informationszeitalter, in dem finan­zielle und politische Macht zunehmend mit der Kon­trolle über Aufmerksamkeitsströme verknüpft ist, sollten wir uns fragen: Wie können wir die Informa­tionsflut besser nutzbar machen? Nur wer versteht, welche Gesetze unsere Gesellschaft in der Informati­onswelt befolgt, kann ihr Bildungs- und Vernetzungs­potenzial voll ausschöpfen.

 

 

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe ZEIT. Das Heft können Sie hier bestellen.

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