Herr Stollorz, auf der Website des Science Media Center steht: „Wenn etwas tagesaktuell Wichtiges passiert und Wissenschaft involviert ist, dann müssen Redaktionen und Medienschaffende in kürzester Zeit reagieren.“ Wie herausfordernd war das von Corona geprägte Jahr für Sie?
Volker Stollorz: Wir waren anfangs alle überfordert. Es gab eine Flut an schnellen Informationen und wissenschaftlichen Publikationen. Allein unter dem Stichwort „Covid-19“ erschienen in einem Jahr mehr als 120.000 wissenschaftliche Studien und fast 15.000 Preprints. Vieles davon mussten wir bearbeiten, damit die Journalistinnen und Journalisten das durchblicken. Das war ein Tsunami, der selbst Fachleute verunsicherte.
Wie zeigte sich diese Verunsicherung?
Keiner wusste, was dieses Weltereignis für uns alle bedeutet. Diese Unsicherheit, die ja innerhalb der Wissenschaften typisch ist, über die Pandemie wurde wie unter einem Brennglas für die breite Öffentlichkeit sichtbar: Ist Corona nur eine leichte Grippe oder schlimmer? Sind Kinder ansteckend oder nicht? Erkenntnisse, die zunächst galten, waren drei Wochen später obsolet. Das irritierte die Menschen, denen die Methoden der Wissenschaft nicht vertraut sind.
Inwiefern unterstützen Sie die Journalisten bei einer derartigen Informationsflut?
Wir haben uns auf die Sichtung der Publikationsflut konzentriert und für die Journalisten relevantes Material wie klinische Studiendaten oder Fachtexte vorsortiert. Wir fassten wissenschaftliche Publikationen zusammen und kommentierten die für die öffentlichen Diskussionen wichtigen Paper. Eigens für Corona-Publikationen haben wir ein Bewertungssystem mit ein bis drei Sternchen entwickelt.
Das Science Media Center agiert wie ein Dienstleister für Journalisten, die sich mit wissenschaftlichen Themen beschäftigen. Wie arbeiten Sie konkret?
Wir bedienen alle registrierten Journalisten zu Themen mit Wissenschaftsbezug – sei es Klima, Umwelt, IT, künstliche Intelligenz, Technologie, Energie, Medizin und Lebenswissenschaften. Wir liefern ihnen proaktiv und zeitnah Einschätzungen und Zitate aus der Wissenschaft. Die Themen bestimmen wir. Hierzu schicken wir ihnen drei- bis viermal pro Woche eine Info-Mail. Oder wir veranstalten sogenannte Press Briefings, die teils als Pressekonferenz oder in einer virtuellen Schalte stattfinden. Forschende stehen Journalisten dann exklusiv Rede und Antwort.
Dazu bieten wir Fact Sheets mit Hintergrundinformationen zu Themen wie Thrombosen durch Astra-Zeneca-Impfungen: „Was ist eigentlich eine Thrombose? Wie entsteht sie? Wer ist betroffen?“ Oder wir liefern ihnen hochrelevante, noch nicht veröffentlichte Fachtexte sowie einordnende Experten-Statements – natürlich unter Embargo. Bis zur Freigabe.
Science Media Center
Volker Stollorz leitet seit 2015 das deutsche Science Media Center (SMC), das Journalistinnen und Journalisten bei der Berichterstattung über Themen mit Wissenschaftsbezug unterstützt. Das Center erstellt Fact Sheets, veranstaltet Pressebriefings mit Wissenschaftler*innen und bietet Statements von Expert*innen zu Themen wie Medizin, Klima, Mobilität und Digitalisierung an. Gesellschafter sind die Klaus Tschira Stiftung (90 Prozent) und die Wissenschafts-Pressekonferenz (10 Prozent). Als Förderer engagieren sich unter anderem Fachgesellschaften, Forschungseinrichtungen und Unternehmen wie die Bertelsmann Stiftung, BASF, Covestro und das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt. Der studierte Biologe und Philosoph Stollorz arbeitete unter anderem für „Die Zeit“ und die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“.
Auf welcher Grundlage entscheiden Sie, wann ein wissenschaftliches Thema relevant ist?
Thematisch definieren wir zunächst Public Issues. Wir orientieren uns dabei an einem internen Kriterienkatalog, wo wir in öffentlichen Debatten einen echten Mehrwert liefern können. Wir äußern uns als Redaktion nur da, wo wir genaue Informationen haben und verlässliches Wissen mittels Experten liefern können. Wir sortieren eine Menge Themen aus. Bei uns sind wissenschaftliche Themen dann relevant, wenn sie für die Öffentlichkeit relevant sind. Oder bei der Klärung politischer Fragen, die einen Wissenschaftsbezug haben. Hier sehen wir einen erheblichen Orientierungsbedarf. Kurz gesagt: Wenn es knallt, helfen wir mit fundierter Expertise.
Wie kommunizieren Sie komplexe wissenschaftliche Themen möglichst einfach?
Ich halte es wie Einstein: „Man muss die Dinge so einfach wie möglich machen, aber nicht einfacher.“ Dafür sollte ich mir vorab die zentralen Säulen wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse bewusstmachen: Komplexität, Unsicherheit und organisierte Skepsis.
Es geht um das Einordnen in Zusammenhänge.
Genau. Auch eine neue Studie kann stets nur ein Mosaikstein der wissenschaftlichen Erkenntnis sein. Gute Wissenschaftsjournalisten sollten neben der Fähigkeit, die richtigen Experten finden zu können, immer auch diese Unsicherheit und Vorläufigkeit der Forschung mit einfangen. Erst dann sollten sie vereinfachen.
Welche Kriterien braucht es für eine anschauliche Wissenschaftskommunikation?
Erklärungen, Metaphern und Bilder sind immer attraktiv. Aber: Wir wissen nicht viel darüber, wie solche Bilder auf die Menschen wirken. Menschen können vereinfachte Bilder auch immer falsch verstehen. Dieser „Easiness Effect“ kann gefährlich werden. Beispiel: Wenn ich über Impfstoffe rede und Bilder produziere, mit denen ich den Menschen die Angst vor Nebenwirkungen nehme, kann das nach hinten losgehen. Warum? Es könnten doch unerwartete Nebenwirkungen auftreten.
Haben Sie Beispiele für gelungene Wissenschaftskommunikation?
Ich bleibe mal beim Journalismus. Im vergangenen Jahr zeigten einige überregionale Qualitätszeitungen wie „Süddeutsche Zeitung“ oder „Die Zeit“ erstaunliche Innovationen bei ihrer digitalen Präsenz. Da gab es Sternstunden des Wissenschaftsjournalismus mit visuell anregenden Daten, Grafiken und Erklärungen zu Daten. Die genannten Medien erzielten damit erhebliche Reichweiten.
Und wer kommuniziert wissenschaftliche Themen besonders gut?
Die Wissenschaftsjournalistin und Youtuberin Mai Thi Nguyen-Kim oder der Virologe Christian Drosten machen das sehr gut. Ob Mai Thi auf Youtube oder Christian Drosten in seinem Podcast – sie erklären anschaulich, nehmen sich die nötige Zeit für lange Strecken, um ihre Zuschauer oder Hörer mit in das Universum der Wissenschaften zu nehmen. Seien es zehn, 20 oder 30 Minuten.
Kurze Statements sollte man sich als Wissenschaftskommunikator also sparen?
Es ist ein Unterschied, ob ich in einer Talkshow sitze, ein Kurzinterview gebe oder einen Wissenschaftsartikel für die „FAZ“ schreibe. Komplexe Zusammenhänge aus der Forschung eignen sich eher nicht für 30-Sekunden-Statements – beispielsweise nicht bei der Frage, ob sich das Klima nun erwärmt oder nicht und woher man das weiß.
Trotzdem müssen Wissensexperten in kürzester Zeit Statements vor der Kamera abliefern. Was raten Sie denen?
Bei kurzen Interviews ist es erstens wichtig, sich vorab klarzumachen, was ich sagen will. Dann kann diese Botschaft auch als kurzes Statement funktionieren. Zweitens sollte ich erstmal erklären dürfen, in welchem wissenschaftlichen Kontext sich das Thema einordnet. Drittens gilt es, auf Fragen, mit deren Prämisse ich nicht einverstanden bin, klar zu reagieren: „Dem kann ich nicht zustimmen, weil …“ Dann kann ich sagen: „Ich bin der Meinung, dass …“ Viertens sollte ich zugeben, wenn ich als Forschender oder Journalist eine Frage nicht beantworten kann, und in so einem Fall auf einen anderen Experten verweisen.
Wie wichtig sind unterschiedliche Kommunikationskanäle und deren Zielgruppen?
Sehr wichtig. Wir arbeiten ja auch mit Influencern zusammen. Mai Thi zum Beispiel ist bei uns registriert und nutzt uns als zuverlässige Informationsquelle. Sie erreicht ein jüngeres Publikum. Wenn wir als Science Media Center der Meinung sind, dass jemand wissenschaftsbasiert arbeitet – egal auf welchen Kanälen und in welcher Form –, wird sie oder er von uns genauso beliefert wie ein etablierter Wissenschaftsjournalist.
Die Erzählebene dient oftmals dazu, um komplexe Themen zu veranschaulichen. Sehen Sie das auch so?
Es wird oft empfohlen, ein erklärendes Narrativ anzuwenden. Das soll emotional sein und interessieren. Alles schön. Aber es sollte klar sein, dass dahinter eine wissenschaftliche Basis steht und korrekt ist. Das ist die ethische Herausforderung, die Einstein beschrieben hat. Generell ist es falsch, dem Publikum im Umgang mit Wissenschaft ständig zu suggerieren: Du kannst alles verstehen.
Wenn Menschen Wissenschaft nicht verstehen, müssen sie also vertrauen.
Absolut. Wenn wir beispielsweise in ein Flugzeug steigen, vertrauen wir ja auch den Flugzeugingenieuren. Wenn ich zum Chirurgen gehe, hoffe ich, dass er mich fachgerecht operiert. Ich kann diese Komplexität nicht kontrollieren. Ich muss vertrauen, kann aber auch Vertrauen entziehen. Glaubwürdigkeit entsteht letztlich im Publikum. Sie basiert zum einen darauf, wie ich die Kompetenz des jeweiligen Forschenden einschätze. Zum anderen stelle ich mir die Frage: Ist der überhaupt integer oder verschweigt der Interessenkonflikte?
Welche Faktoren braucht es für dieses Vertrauen?
Kompetenz, Integrität und Gemeinwohlorientierung sind drei Indikatoren dafür, wie Vertrauen entsteht. Das Ziel der Wissenschaftskommunikation ist nicht blindes, sondern informiertes Vertrauen.
Wie vertragen sich Wissenschaft und Öffentlichkeitswirksamkeit?
Ein Laie hat keine Chance, einen guten von einem weniger guten Forschenden zu unterscheiden. Mächtige Konzerne können das missbrauchen, wie einst die Tabakindustrie. Die wusste, wie „Merchants of Doubt“ geht – angeblich unabhängige Experten oder Forschungsinstitute traten für sie in der Öffentlichkeit auf. Sie dienten aber faktisch nur einem Zweck: Zweifel zu sähen, um Entscheidungen auf politischer Ebene zu verzögern. Das sind Drehbücher, mit denen die Wissenschaft missbraucht wird, unter anderem von interessierten Akteuren – darunter Politikern, Ideologen, Unternehmen. Das ist brandgefährlich, weil die Glaubwürdigkeit dann weg ist.
Was raten Sie Unternehmenskommunikatoren, die ehrlich sein wollen?
Unternehmen tun gut daran, auf verlässliche Wissenschaft zu bauen und unabhängige Wissenschaftler als ehrliche Makler zu akzeptieren, die beispielsweise kompetent begründen können, warum Glyphosat nicht krebserregend ist. Stellt sich jedoch heraus, dass die Forschenden oder Studien vom Konzern beeinflusst wurden, um Zweifel zu sähen, schadet das nachhaltig der Vertrauensbeziehung.
Wie unterscheiden Sie im Science Media Center einen Experten von einem Schein-Experten?
Das ist eine große ethische Verantwortung. Wenn wir unsere Themen definiert haben, suchen unsere Redakteure nach Forschenden, die domainspezifische Expertise beisteuern können. Wir scannen die Publikations- und Expertendatenbanken und finden heraus, wer wo und wann zu welchem Thema in welcher Qualität publiziert hat und welche Reputation er oder sie sich erworben hat. Dann telefonieren wir mit denen. Die Reputation eines Forschers ist für unsere Auswahl sehr wichtig. Es gilt zu unterscheiden, ob ein Forscher innerhalb der Wissenschaften anerkannt ist oder lediglich eine öffentliche Reputation genießt – zum Beispiel weil ihn Fernsehzuschauer kennen.
Politik und Wissenschaft arbeiten derzeit eng mit Forschern zusammen. Wie bewerten Sie das?
Als Politiker auch auf die Wissenschaft zu hören, ist in einer modernen Wissensgesellschaft wichtig. Dennoch: Was für einen Politiker gut ist, kann für den Forschenden zum Reputationsrisiko werden. In seiner Rolle als „ehrlicher Makler“, der integer, kompetent und gemeinwohlorientiert agiert, sollte er wissenschaftlich unabhängig auch die Politik kritisieren – beispielsweise mögliche Lockerungsschritte bei zu vollen Intensivstationen. Äußert er das öffentlich und er berät gleichzeitig die Politik, läuft er Gefahr, instrumentalisiert zu werden.
Als beispielsweise „Bild“ das Foto von Christian Drosten neben Jens Spahn zeigte, entstand der Eindruck, dass er als Wissenschaftler ganz nah dran an der Politik sitzt. Geschadet hat es ihm nicht. Drosten hat sich in der Wissenschaft und auch in der breiten Öffentlichkeit eine große Reputation als ehrlicher Makler erworben. Er agiert reflektiert, kompetent und legt fachliche Unsicherheiten offen. Sein Fokus: die Argumente der Wissenschaft und nicht bloß die eigene Meinung.
Der „Spiegel“ bezeichnete in einem Interview die Virologen Hendrik Streeck und Jonas Schmidt-Chanasit als „schlimmer als Corona-Leugner“. Wie bewerten Sie das?
Experten sind für mich fraglich, die an ihrer Meinung trotz aller neu gewonnenen Erkenntnisse festhalten, nur um sie sich immer wieder bestätigen zu lassen. Der Kern eines Forschenden ist es aber, seine Meinung im Licht der neuen Erkenntnisse zu ändern. Hier ist diese Lagerbildung zwischen einzelnen Virologen entstanden. Es ähnelt Kindern, die sich im Sandkasten gegenseitig mit Sand bewerfen, anstelle Fragen und Argumenten nachzugehen, wie ansteckend Kinder nun wirklich sind oder wie gefährlich das Virus ist. Solche öffentlichen Meinungsstreitereien verwirren.
Wenn Corona nicht wäre, welches wissenschaftliche Thema wäre aktuell auf Ihrer Agenda?
Die Welt dreht sich ja weiter. Wir haben im SMC während Corona auch andere herausfordernde Themen beackert wie Klimakrise, Energiewende, Mobilität und Gentechnik. Generell müssen wir das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik sowie Wissenschaft und Journalismus besser erklären. Es braucht qualifizierte Gatekeeper im Journalismus zur Wissenschaft mit ausreichender finanzieller Ausstattung. Das ist wichtig für eine Demokratie. Sonst fahren wir alle bei den anstehenden Krisen an die Wand.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe KREATIVITÄT. Das Heft können Sie hier bestellen.