Am Rande der Menschheit

Interview mit Mathilde Auvillain von SOS Méditerranée

Frau Auvillain, wie beginnt Ihr Tag an Bord des Rettungsschiffs MS Aquarius?

Mathilde Auvillain: Wir bestehen aus drei Teams: dem Team von SOS Méditerranée, von MSF Ärzte ohne Grenzen und der Mannschaft von der Eignergesellschaft des Schiffs. Wir treffen uns jeden Morgen um neun Uhr, um die Wettervorhersage zu besprechen. Anhand der Wetterlage wissen wir schon, ob wir an dem Tag einen Rettungseinsatz haben werden oder nicht. Für eine Rettung muss das Meer glatt sein, und wenn es eine grünblaue Farbe hat, wissen wir mit fast hundertprozentiger Sicherheit, dass wieder Schiffe von der libyschen Küste abfahren werden. Es wird ein Wachplan für die Brücke organisiert, von wo aus wir Ausschau nach eventuellen Booten halten. Manchmal wird die Wache von einem Anruf vom Maritime Rescue Coordination Centre in Rom unterbrochen, der Seenotrettungsleitstelle, die uns sagt, zu welcher Position wir fahren sollen. Manchmal rufen die Migranten per Handy dort an, um zu melden, dass sie in Seenot sind, manchmal bekommen sie die Information von Flugzeugen über dem Gebiet, und manchmal entdecken wir das Boot mit dem Fernglas. Wir wissen vorher nie, was passiert.

SOS Méditerranée hat Büros in Italien, Frankreich und Deutschland: Was genau beinhaltet die Arbeit in diesem internationalen Netzwerk?

Die italienische Küstenwache koordiniert alle Rettungsoperationen, weil sie Erfahrung damit hat. Alle humanitären Search-and-Rescue-Missionen sind nach dem Ende von Mare Nostrum entstanden – der einjährigen italienischen Seenotrettungsoperation, die nach dem Schiffbruch vor Lampedusa im Oktober 2013 organisiert wurde. Damals waren 400 Menschen ums Leben gekommen. Jetzt sind im Sommer viele NGOs in der Region tätig. Die italienische Küstenwache koordiniert uns alle, damit wir möglichst viele Menschen retten können und nicht etwa drei Schiffe ein Boot retten. Zu kooperieren macht unsere Arbeit einfacher und effizienter. Wenn wir zusammenarbeiten, können wir mehr Menschenleben retten.

Was waren bisher die meisten Menschen, die Sie von einem Boot gerettet haben?

Einmal waren es 195 Migranten auf einem Schlauchboot – das war für uns Rekord. Wir hatten noch nie so viele Menschen auf einem Boot gesehen. Das heißt, acht bis zehn Personen auf einem Quadratmeter Plastik, der im Meer treibt. Die meisten Boote haben keinen Kompass, kein Licht, die Leute keine Schwimm­westen – sie werden einfach aufs Meer geschickt. Wir sehen ganz unterschiedliche Boote, aber meistens sind es Holzschiffe mit einer Kapazität von 200 bis 400 Personen. Im Oktober hatten wir allerdings ein Holzschiff mit 722 Menschen an Bord. Die waren auf dem Schiff auf verschiedenen Ebenen eingepfercht, Leute aus Eritrea und Somalia. So wie die Schlepper sie aufs Meer schicken, schaffen es diese Schiffe niemals nach Europa. Das ist einfach unmenschlich. Es besteht absolut keine Chance, dass sie in ­Europa ankommen.

Was sind die unterschiedlichen Motive der Menschen auf diesen Schiffen?

Eigentlich wissen wir nie, wer die Leute sind. Aus eigenem Erleben kann ich sagen, das sind alles verzweifelte Menschen. Es ist nicht an uns zu unterscheiden – das Meer unterscheidet auch nicht zwischen Schleppern, Migranten, Wirtschaftsmigranten oder Flüchtlingen – die Menschen werden ertrinken, sie werden sterben. Wir retten sie alle.

Geretteter Flüchtling (c) Laurin Schmid

Die Geretteten werden von ihren Gefühlen übermannt. Die Emotionen gehen von Trauer über Tote bis hin zu Freude über das vermeintliche Erreichen des Ziels. Abends feiern die Menschen, singen und tanzen, beten und hoffen. (c) Laurin Schmid

Als Rettungsschiff endet Ihre Verantwortung, wenn Sie die Leute an Land bringen. Haben Sie auch etwas damit zu tun, was danach kommt?

Wir arbeiten mit den Behörden zusammen, damit die Menschen, die Schutz brauchen, welchen bekommen. Die meisten Geretteten sind sehr verwundbar. Die Frauen sind oft Opfer von Menschenhandel und wurden vergewaltigt. Viele von denen, die wir retten, wurden schwer gefoltert. Sie sind völlig desorientiert, wissen nicht einmal, wo sie sind. Aber sobald die Migranten von Bord gehen, über die Gangway laufen und auf europäischem Boden ankommen, haben wir eigentlich keinen Einfluss mehr. Dann unterliegen sie der Verantwortung der italienischen und europäischen Behörden. Es ist immer ein sehr bewegender Augenblick, wenn wir wieder im Hafen einlaufen. Wenn wir die Leute gerettet haben, verbringen wir zwei oder drei Tage mit ihnen auf dem Schiff, und dann sieht man sie gehen und hofft das Beste für sie, aber natürlich weiß man, dass ihre Reise noch lange nicht zu Ende ist.

Hat sich ­eigentlich das ­politische ­Klima in ­Europa in ­Bezug auf Ihre Arbeit verändert?

Wir sind keine politische Organisation, aber wir sehen natürlich, dass europäische Bürger Geld sammeln und Schiffe chartern müssen, weil es die europäischen Staaten nicht tun. Im politischen Klima sehen wir wachsende Ausländerfeindlichkeit, eine Stimmung gegen Migranten und Flüchtlinge. Aber zugleich sehe ich auch viele junge Bürger, die uns unterstützen und sagen, dass wir gute Arbeit leisten. Sie verstehen die Situation. Aber es besteht eine große Diskrepanz zwischen der Realität und dem, was wir in den Medien sehen. Seit zehn Jahren arbeite ich in Italien als Journalistin für französische Medien, für Radio, Fernsehen und Presse. Seitdem berichte ich über die Flüchtlinge – über die ankommenden Boote in Italien, auf Lampedusa, in Sizilien; ich habe über Schiffbrüche berichtet, ich kenne die Bestimmungen, den Unterschied zwischen Flüchtlingen und Wirtschaftsmigranten – ich dachte, ich kannte die Realität. Aber als ich dann die erste Rettung mit eigenen Augen gesehen habe – ein Boot voller Leute ohne Schwimmwesten, die auf dem Meer völlig verloren waren –, da musste ich einsehen, dass ich keine Ahnung hatte, wie sie behandelt werden und was sie Schreckliches in Libyen durchgemacht haben. Mir war nicht klar, dass hinter all den Zahlen, die wir in den Zeitungen lesen – die Zeitungen berichten ja meistens über Zahlen –, Geschichten von Menschen stecken. Das war wirklich überwältigend.

Einige Kritiker meinen, dass die Rettungsschiffe für die Migranten als Zugfaktor fungieren, dass ihre Präsenz noch mehr Migranten ­ermutigen könnte, diese Fahrten auf sich zu nehmen. Wie reagieren Sie auf diese Kritik?

Wenn es keine Rettungsschiffe gäbe, würden die Leute trotzdem kommen. Früher wurden sie nicht gerettet, also haben wir die Realität nicht gesehen. Da war einfach niemand auf dem Meer, der die Flüchtlinge retten, die Situation dokumentieren, darüber berichten konnte. Unsere Mission ist es nicht, das Schmuggeln von Menschen zu bekämpfen, unsere Mission ist es, Menschen auf dem Meer zu retten. Im Winter sind wir das einzige Rettungsschiff auf dem Meer, und die Überquerungen gehen weiter. Bereits in den ersten zwei Monaten dieses Jahres sind 200 Menschen ums Leben gekommen; viele konnten gerettet ­werden. Sollen wir die Leute einfach im Meer sterben lassen? Dazu bin ich nicht bereit.

Gerettetes Flüchtlingsboot (c) Laurin Schmid

Rettungen am frühen Morgen: Zuerst werden Babys und Kinder gerettet, dann folgen Frauen, zum Schluss Männer. (c) Laurin Schmid

Welche Kommunikations­instrumente halten Sie bei einer Operation wie Aquarius für die wirkungsvollsten?

Die humanitären Rettungsschiffe bieten uns einen neuen Einblick in dieses Phänomen. Lange Zeit gab es keine Bilder, kein Videomaterial, keine Fotos, keine Reporter auf dem Meer, die darüber berichten konnten. Jetzt kommen immer wieder Fotografen an Bord, aber auch Filmemacher und Journalisten. Damit können wir die ­Realität dokumentieren. Diese ­Bilder bewirken sehr viel. Viele Search-and-­Rescue-NGOs sind nach dem Foto von Alan Kurdi entstanden, dem toten Kind am Strand. Die Diskussion um das Foto hat die Öffentlichkeit wachgerüttelt. Vielleicht zum ­ersten Mal haben wir ein Foto gesehen, das einfach völlig inakzeptabel war: ein Kind, das ertrunken war, weil seine Eltern sich nach einem besseren Leben sehnten und vor einem Krieg auf der Flucht waren. Die Macht der Bilder ist definitiv groß.

Werden Sie auf jeder Fahrt von Fernsehteams begleitet?

Wir haben meistens ein Fernsehteam an Bord, viele verschiedene Nationalitäten: aus Frankreich, Deutschland, Brasilien, den USA und von Al Jazeera. Wir freuen uns immer, wenn Journalisten an Bord kommen und berichten, was passiert. Früher gab es manchmal Videoaufnahmen von den Ankommenden auf Lampedusa, aber jetzt kommen Fernsehteams an Bord und berichten über jeden Schritt bei der Rettung, und es gibt die Möglichkeit, mit den Geretteten zu sprechen. Das verändert die Sache sehr, denn manchmal ist es so, wenn es keine Bilder oder Videos gibt, dann gibt es auch keine Nachrichten. Wir ­müssen die ­Situation mit Audio, Video und ­Fotos ­dokumentieren.

Sie haben zehn Jahre lang in Süditalien für französische Nachrichtenmedien gearbeitet. Was hat Sie dazu bewegt, die Stelle an Bord der Aquarius anzunehmen?

Immer wenn ich über Migranten berichtet habe, hatte ich das Gefühl, dass ich nur an der Oberfläche über das Problem berichte, und wollte gern tiefer gehen. Ich hatte es satt, zynisch zu sein. Ich habe für eine Presseagentur gearbeitet, und da wurde selten über die Tragödien oder die Ankunft der Migranten berichtet. Wenn insgesamt 1.500 Menschen ankamen, dann reichte das nicht, um darüber zu berichten; wir haben nur berichtet, wenn es Tote gab oder 1.000 Ankünfte an einem Tag. Die Verbindung zur Menschlichkeit war verloren. Nach einer Weile habe ich mich sehr unwohl dabei gefühlt. Ich wollte die Realität sehen. Zuerst wollte ich nur als Journalistin drei Wochen auf einem Schiff mitfahren, aber dann bat man mich, Communications Officer bei SOS Méditerranée zu werden. Am Anfang dachte ich, dass ich nicht sehr lange auf dem Schiff bleiben würde, aber die Verantwortung, diese Geschichten zu erzählen, sich Zeit zu nehmen, die Geretteten zu interviewen, die Geschichte aufzuschreiben und zu veröffentlichen, das hat mich vollkommen in Anspruch genommen. Jetzt empfinde ich es als meine Pflicht, weiter darüber zu berichten und eine sehr viel langfristigere Perspektive darzustellen.

Geretteter Flüchtling (c) Laurin Schmid

Europa ist am Horizont zu sehen, die Hoffnung ist groß. (c) Laurin Schmid

Es muss eine emotional sehr ­zehrende Arbeit sein. Haben Sie sich eine Frist gesetzt?

Je öfter ich auf das Schiff komme, ­desto mehr will ich bleiben, weil es professionell und persönlich eine tolle Erfahrung ist. Diese Menschen befinden sich am Rande der Menschheit. Sie werden unter schrecklichen Bedingungen aufs Meer geschickt, aber wenn sie zu uns an Bord kommen, stellen wir ihnen Fragen, interviewen sie, würdigen ihre Geschichten. Ihnen zuhören heißt ihnen ihre Würde zurückgeben. Das erfüllt einen mit viel positiver Energie und Hoffnung für die Zukunft. Aber das Phänomen wird morgen nicht vorbei sein. Vielleicht werde ich irgendwann von Bord gehen müssen und die Geschichte von Land erzählen. Aber das hier ist ein echter Wendepunkt für mich.

Aus dem Englischen übersetzt von Ina Pfitzner.

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Ein Appell an das Mitgefühl

Unser Fotograf Laurin Schmid im Gespräch mit Anne Hünninghaus.

Als Fotograf hast du drei ­Wochen lang auf der MS Aquarius ­gearbeitet. Welche Momentaufnahme hat sich bei dir besonders eingebrannt?

Laurin Schmid: Eine konkrete Situation kann ich da gar nicht benennen, es geht mehr um die allgemeine Atmosphäre. Die Rettungen beginnen meistens früh morgens vor Tagesanbruch. Mit Scheinwerfern wird das dunkle Meer abgesucht. Der erste Blickkontakt ist dann ein sehr eindrucksvoller Moment, man riecht die Angst und sieht den Schrecken in den Augen der Menschen, die wie Vieh in seeuntauglichen Booten eingepfercht sind und noch nicht wissen, ob sie gerettet oder nach Libyen zurückgebracht werden. Es geht um Leben und Tod. Diese Ungewissheit kann sich an Bord der Aquarius in Freude und Hoffnung auflösen: Die Leute singen und tanzen, hoffen und beten und zeigen der Crew ihre Dankbarkeit – da habe ich viel zurückbekommen.

Seit zwei Jahren ­werden wir ­beinahe täglich ­medial kon­frontiert mit Bildern flüchtender Menschen und untergehender Boote. Was kannst du tun gegen die emotionale Immunisierung, die mit der Zeit eintritt?

Ich verstehe es als meine Aufgabe, das Zeitgeschehen zu dokumentieren, und das tue ich in einer ehrlichen und direkten Art und Weise. Meine Bilder appellieren an das Mitgefühl für die Menschen, die sich ja nicht ohne Grund auf diese gefährliche Fahrt begeben. Ich möchte dabei das gesamte Spektrum der Gefühle abbilden, die an Bord herrschen. Von Verzweiflung und tiefer Trauer bis hin zu erstaunlich banalen Alltagsmomenten, in denen es fast zugeht wie an einer Bushaltestelle, wenn die Menschen aufgelesen werden. Es muss nicht immer ein fotografischer Tabubruch sein, um anderen diese Schicksale ­näherzubringen.

Laurin Schmid (c) Laurin Schmid/laurin-schmid.com

Laurin Schmid ist selbstständiger Fotograf und legt seinen Fokus neben humanitären Projekten auf soziale und ­politische Themen. Außerdem ist er Fotoredakteur bei Quadriga Media Berlin. Seine Arbeiten sind auf www.laurin-schmid.com zu sehen

Wie würdest du die Macht des Bilds im Kontext der ­Öffentlichkeitsarbeit von ­Hilfsorgani­sationen ­bewerten?

Bilder sind wichtig, um Emotionen auszulösen, den Betrachter damit für das Thema zu sensibilisieren und ihn neugierig zu machen. Sie bereiten in ihrer Unmittelbarkeit auf weitere Erklärungen vor und sie wirken international, ohne Übersetzung. Der Mensch funktioniert visuell.  Man kann ihm die Realität zuerst durch Bilder auf der Gefühlsebene näherbringen, dann durch Texte und Gespräche über einzelne Schicksale und die Gesamt­situation auf inhaltlicher Ebene.

Gab es Situationen, in denen du Skrupel hattest, sie mit der ­Kamera einzufangen, in denen du dich als Voyeur gefühlt hast?

Ja, während stundenlanger Rettungen gab es diese Momente. Dann habe ich meine ­Kamera beiseitegelegt und mitgeholfen. Aber die ­meiste Zeit habe ich dieses Gefühl ausblenden können, auch weil mir die geretteten Menschen viel Dankbarkeit entgegengebracht haben und sehr interessiert an meiner Arbeit waren. Viele haben gefragt, wofür die Bilder sind, und verstanden, dass die mediale Aufmerksamkeit ihnen zugutekommt. Ich habe mit der Zeit ein Gespür dafür entwickelt, in welchen Situationen es in Ordnung war, zu fotografieren, und wann dies ein Eindringen in die Intimsphäre bedeutet hätte.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe KREATIVITÄT. Das Heft können Sie hier bestellen.

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