Presseteam so überfordert wie die Ministerin

Anne Spiegel

Wer den gestrigen Auftritt von Anne Spiegel gesehen hat, kann nur zu dem Schluss kommen, dass sie als Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zügig zurücktreten muss. Spiegel ist offenkundig überfordert mit der Situation und dem Amt, das sie bekleidet. Hinzu kommt, dass sie die Unwahrheit gesagt hat. Die Grünen-Politikerin ließ der „Bild am Sonntag“ mitteilen, dass sie während ihres Urlaubs digital an den Kabinettssitzungen teilgenommen habe. Gestern Abend sagte sie, dass das nicht der Fall war. Über allem steht sowieso das desaströse Management während der Flutkatastrophe im Ahrtal und der Verdacht, sich als Landesministerin mehr um das eigene Image und Gendern als um die Menschen in der schwer getroffenen Region gekümmert zu haben.

Das gestrige Statement war vor allem verstörend und weckte Mitleid, auch wenn die von Spiegel geschilderte schwierige Situation der Familie einige Vorwürfe in ein anderes Licht rückt und die Familie nun Empathie verdient. Selbst gestern gab es allerdings einen Moment, der nahelegt, dass es Spiegel wieder wichtig war, welche Wirkung ihr emotionales Statement entfacht. Sie wendet sich kurz vor Schluss an jemandem im Raum – vermutlich einen Sprecher – mit der Aussage, „jetzt muss ich das noch irgendwie abbinden“ gefolgt von einer Entschuldigung. Offenbar hatte Spiegel vergessen, dass das Statement live war und man nichts schneiden kann. Die Schublade „professionell“ sollte man nach dem gestrigen Auftritt sowieso besser geschlossen halten.

Schnell gab es Kritik an der Rolle der Pressestelle des Ministeriums. „Spiegel“-Journalist Markus Feldenkirchen twitterte: „Ich weiß nicht, ob ihr Ministerium gerade über eine Pressestelle verfügt, aber ich hätte Anne Spiegel von Herzen eine bessere Beratung für diesen Auftritt gewünscht.“. Ähnlich äußerte sich Ann-Kathrin Büüsker vom „Deutschlandfunk“: „Als Pressestelle kannst du deine Ministerin so nicht vor laufende Kameras schicken. Authentizität hin oder her, nein.“ Der Ministeriumswebsite zufolge besteht die Pressestelle aus drei Personen: aus zwei Pressereferentinnen und einem Referenten. In der Sitzordnung der Bundespressekonferenz sind hingegen fünf Personen aufgeführt inklusive der drei von der Website. Eine Chefsprecherin oder einen Chefsprecher scheint Anne Spiegel auch nach vier Monaten im Amt nicht zu haben.

Die Kritik an der Pressestelle ist berechtigt, wenn man ihre Aufgabe dahingehend bewertet, die Reputation der Ministerin zu schützen und Transparenz in ihre politische Arbeit herzustellen.

Es beginnt bereits mit der Tatsache, dass die gestern verantwortliche Person aus dem Presseteam Spiegels Auftritt hätte verhindern müssen, wenn klar war, dass die Ministerin emotional zu sehr angefasst ist, um in die Kameras zu sprechen. Spiegel wirkte von der Sekunde an sehr mitgenommen. Sie war den Tränen nahe. Das Bild, mit dem Amt komplett überfordert zu sein, verstärkte sich auf diese Weise noch. Wieso musste das Statement eigentlich an einem Sonntagabend um 21 Uhr stattfinden? Am Tag der Frankreichwahl? Die Kritik an Spiegel hatte sich am Wochenende zwar zugespitzt, aber diese Uhrzeit musste zwangsläufig wirken, als ob etwas Dramatisches anstehen würde. Ein Rücktritt stand angesichts der Eile im Raum. Oder wollte Spiegel mit ihrem Statement noch ins „Heute Journal“ und in die „Tagesthemen“?

Wenn sich eine Ministerin schon zu einem solchen Statement entschließt, dann sollte dieses wenigstens das Potenzial haben, ihre Lage zu verbessern.

Ein solches Potenzial ist überhaupt nicht gegeben. Spiegel sprach davon, dass ihr Mann einen Schlaganfall gehabt habe. Ihre vier kleinen Kinder seien nicht gut durch die Pandemiezeit gekommen. Sie selbst habe sich zu viel zugemutet, als sie während ihrer Zeit als Landesministerin noch die Verantwortung für ein zweites Ministerium übernahm. Ihren vierwöchigen Frankreichurlaub hätte die Familie dringend gebraucht.

Das ist menschlich verständlich. Nur warum hat Spiegel auf ihre familiäre Ausnahmesituation nicht direkt nach der Flutkatastrophe hingewiesen und Verantwortung temporär an einen Staatssekretär oder Kabinettskollegen abgegeben? Jetzt ist sie Bundesministerin, ein noch fordernderer Job mit mehr Druck. Wie will sie ihr Amt ausfüllen, wenn sie bereits auf Landesebene mit dem Zusammenspiel aus familiärer und beruflicher Extremsituation derart überfordert war, dass sie sich in einer Katastrophensituation ausklinken musste? Stärke zeigen bedeutet auch zu erkennen, dass man Verantwortung abgeben muss und Hilfe benötigt.

Es ergeben sich erhebliche Zweifel am Urteilsvermögen Spiegels, die noch einmal verstärkt werden, weil sie die Situation im Ahrtal nicht so einschätzte, sich in dieser Zeit voll und ganz dem Schicksal der Menschen in der Region widmen zu müssen. Als Ministerin mit gutem Gehalt hätte sie die Möglichkeit gehabt, für ihre Familie zumindest kurzfristig Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Karriere vor Familie

Von einer Bundesfamilienministerin dürften die meisten Menschen erwarten, dass sie sich für eine bessere Vereinbarung von Beruf und Familie einsetzt. Spiegel kreiert ein anderes Bild: Sie stellt ihre eigene Karriere über das Wohl ihrer Familie, obwohl sie merkt, wie es um sie bestellt ist. Sowohl ihrem Mann als auch ihren Kindern geht es ihrer eigenen Aussage zufolge nicht gut. Heißt Gleichberechtigung neuerdings Karriere um jeden Preis? Ist das im Jahr 2022 vorbildlich? Unweigerlich entsteht das Bild einer überaus egoistischen und kaltherzigen Person, die über die Mitleidsschiene versucht, ihre Karriere zu retten. Auf diese mögliche Interpretation hätte die Pressestelle Spiegel hinweisen müssen.

Völlig unklar ist, welche Erwartungen Spiegel und ihr Pressestab an das haben, was jetzt kommen wird.

Nach dem sonntäglichen Statement wird der mediale Druck erheblich zunehmen. Die Rücktrittsforderungen dürften noch einmal schärfer werden. Da die Ministerin ihre familiäre Situation mit ihrer beruflichen verknüpfte, werden journalistische Recherchen in ihrem Privatleben starten, die dann sogar rechtlich zulässig sind, weil Spiegel ihre familiäre Situation für sich politisch zu nutzen versucht.

Freunde und Bekannte dürften befragt werden. Wie geht es den Kindern? Wer ist überhaupt ihr Mann? Will sie das sich, ihrer Familie und ihrem Umfeld zumuten, in einer Zeit, in der es der Familie sowieso schon schlecht geht? Spiegel sprach nach ihrer Covid-Erkrankung davon, unter Post-Covid-Symptomen zu leiden. Ist sie wieder voll belastbar? Wie geht es ihrer Familie jetzt?

Zusätzlich werden Journalisten – „Bild“ vorneweg – intensiv recherchieren, ob Spiegel in anderen Zusammenhängen die Wahrheit gesagt hat. Die Untersuchungen zum Ahrtal laufen weiter. Zu ihrer eigenen Rolle und über Fehler, die sie als Landesministerin in Bezug auf die Flutkatastrophe gemacht hat, sagte Spiegel im Übrigen gestern nichts. Hier hätten sich viele Betroffene Empathie gewünscht. Es starben 134 Menschen.

„Liebe dein Leben und nicht deinen Job“ heißt ein Buch von Frank Behrendt. Selten passte der Titel besser als zur Situation von Anne Spiegel.

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