„Häusliche Gewalt ist kein Randgruppenproblem“

Initiative #DieNächste

Iris, du hast im vergangenen Jahr in der „Brigitte“ beschrieben, wie du Opfer von häuslicher Gewalt geworden bist. Jetzt hast du mit anderen Frauen die Initiative #DieNächste gegründet und sprichst auch über deine Geschichte. Wie ist die Reaktion, wenn du dieses Thema ansprichst?

Es herrscht maximaler Unglaube im Sinne von „Das kann ich mir nicht vorstellen“. Häufig weisen Gesprächspartner gleich das gesamte Thema von sich mit Worten wie „So etwas passiert in meinem Umfeld nicht“. Oft kommt es zu einer Täter-Opfer-Umkehr, dem sogenannten Victim Blaming. Es heißt dann beispielsweise, es würden immer zwei dazugehören, die Betroffene müsse etwas falsch gemacht haben oder sie habe selbst Schuld, weil sie zu viel habe durchgehen lassen. Die Betroffene wird so zur Mittäterin gemacht. Viele Frauen sprechen deshalb nicht über die Gewalt, die sie erlebt haben. Dieses Schweigen zieht sich durch die gesamte Gesellschaft – und das, obwohl in Deutschland jede dritte Frau schon einmal von Gewalt betroffen war. Wir alle kennen Betroffene. Wir alle kennen Täter.

Wie gehst du damit um, wenn du feststellst, dass dir nicht geglaubt wird? Was ist deine Strategie in solchen Situationen?

Viele können sich nicht vorstellen, dass mir häusliche Gewalt passiert ist. Es passt nicht in ihr Weltbild, in dem häusliche Gewalt vermeintlich nur in einer gesellschaftlichen Nische vorkommt. Ich entspreche nicht dem Klischee, wie sich die Gesellschaft ein Opfer häuslicher Gewalt vorstellt. Die ungläubige Reaktion lautet in solchen Fällen häufig, ich sei schließlich beruflich erfolgreich oder ich käme aus gutem Hause. Das passe doch alles nicht zusammen. Doch das tut es, ganz unabhängig von Faktoren wie Herkunft, Bildung oder beruflicher Position, denn häusliche Gewalt ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und eben nicht das Problem einer sozialen Randgruppe. Das Thema wird von einem Großteil der Menschen aus der eigenen Lebensrealität verdrängt. Es ist ein Tabu.

Ihr wollt mit #DieNächste auf häusliche Gewalt aufmerksam machen. Woher wusstet ihr Initiatorinnen, dass die anderen ebenfalls Erfahrungen mit häuslicher Gewalt gemacht haben?

Es war so, dass ich mit dem Artikel in der „Brigitte“ öffentlich gegangen bin. Anna Sophie Herken (Anmerkung: eine der Mitgründerinnen) hatte für sich beschlossen, ihre eigenen Erfahrungen zu nutzen, um sich gegen häusliche Gewalt zu engagieren. Sie hat sich in ihrem beruflichen Netzwerk umgesehen und ist mit mir in den Austausch getreten. Sarah (Anmerkung: Bora) wiederum kannten wir durch ihr großartiges Engagement im Einsatz gegen häusliche Gewalt. Wir kamen also über unser berufliches Netzwerk zusammen und fanden gemeinsam, wir müssten etwas tun, ohne anfangs zu wissen, was es konkret sein könnte. Uns ist klar, dass wir das Glück haben, gute Karrieren zu haben, und dass unsere berufliche Stellung es uns ermöglicht, Menschen zu vernetzen. Ich habe ein großes mediales Netzwerk. Anna hat Kontakte in Politik und Wirtschaft, Sarah in die Unterhaltungsbranche. Das hat sich gut ergänzt.

Wie wurde es dann konkreter?

Uns schwebte der bekannte „Stern“-Titel „Wir haben abgetrieben“ (Anmerkung: von 1971) vor. Hier ging es wie bei häuslicher Gewalt um ein Tabu. Dieses wollen wir brechen – und das geht nur, wenn man darüber spricht.

Welchen Hintergrund hat der Name #DieNächste?

Der Gedanke ist, dass jede oder jeder die oder der Nächste sein kann: Jeder kann die nächste Person sein, die von häuslicher Gewalt betroffen ist. Aber man kann #DieNächste auch positiv aufladen: Jeder kann die nächste Person sein, die sich gegen häusliche Gewalt stark macht – wie in Spanien zum Beispiel, wo Menschen bei Femiziden zu Tausenden auf die Straße gehen. In Deutschland passiert nichts. Jeder kann auch die nächste Person sein, die bei einem Nachbarschaftsstreit nach oben geht und zum Beispiel nach Zucker fragt, um zu zeigen, dass man den Streit sehr wohl mitbekommt. Oder die nächste Person, die der Betroffenen glaubt und ihr zur Seite steht. Wir wollen das Klischee aufbrechen, dass häusliche Gewalt nur eine gesellschaftliche Randgruppe betrifft. Wir kommen aus allen Bereichen.

Was genau ist euer Ziel?

Wir haben zwei Ziele: Wir wollen einen gesellschaftlichen Wandel anstoßen und das Schweigen und Stigma brechen. Und wir wollen politische Veränderungsprozesse bewirken. Wir haben eine Agenda mit konkreten Forderungen.

Das Magazin „Focus“ machte häusliche Gewalt im Juni 2023 zu einem Titelthema. 45 Frauen ließen sich hierfür abbilden. Einige berichten mit Klarnamen über ihre Erfahrungen. © Focus

Das Magazin „Focus“ machte häusliche Gewalt im Juni 2023 zu einem Titelthema. 45 Frauen ließen sich hierfür abbilden. Einige berichten mit Klarnamen über ihre Erfahrungen. © Focus

Der „Focus“ hat euch und das Thema auf den Titel geholt. Eure Initiative kam im „Heute Journal“ und bei „ttt“ in der ARD prominent vor. Die Aufmerksamkeit scheint enorm zu sein.

Unsere Initiative ist sehr positiv aufgenommen worden. Wir waren beispielsweise auch im WDR, im BR, bei Pro7 und im „RTL Nachtjournal“ – in fast allen wichtigen Nachrichtenformaten. Auch haben wir Anfragen für Filmformate. Und wir haben bereits jetzt zahlreiche Anfragen für den Orange Day im November, dem internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen. Es gibt medial zwei Hubs, an denen für gewöhnlich über häusliche Gewalt berichtet wird: im November zum Orange Day und im März anlässlich des Internationalen Frauentags. Die Gesellschaft ist dann an zwei Tagen im Jahr entsetzt über das Ausmaß der häuslichen Gewalt. Danach wird das Thema schnell wieder beschwiegen. In der Zwischenzeit passierte sonst immer wenig. Das ist dieses Jahr tatsächlich anders.

Welche Zielgruppen wollt ihr erreichen?

Im besten Fall weite gesellschaftliche Schichten und Akteure flächendeckend in Deutschland. Wir gehen deshalb in fast jedes Interview, denn Reichweite schafft Sichtbarkeit. Zusätzlich würden wir sehr gerne eine Out-of-Home-Kampagne durchführen – im besten Fall digital und als Print, weil es im ländlichen Raum kaum digitale Außenwerbeflächen gibt.

Inwieweit unterscheidet sich das Interesse von Medien, die eher von Frauen gelesen werden, zu solchen, die verstärkt Männer ansprechen?

Frauenmagazine wie „Freundin“ oder „Lisa“ haben eine größere Bereitschaft zu berichten. Auf uns kam zumindest noch kein Männer-Medium zu. Es berichten aber auch viele nationale Leitmedien wie die „Zeit“, der „Spiegel“ oder Wirtschaftsmagazine. Wir freuen uns über jede weitere Anfrage.

Es gibt bei Medien die Tendenz, dass sie Einzelfälle als Aufhänger nutzen. Sie brauchen Emotionen. Sie wollen das persönliche Schicksal in den Mittelpunkt stellen, was sich bei diesem Thema anbietet. Wie erlebt ihr das?

Es ist bei allen Medien ähnlich: Jeder will die private persönliche Geschichte. Einer der Punkte, die wir verändern wollen, ist deshalb die Medienberichterstattung. In der Vergangenheit dominierte die Opfer-Berichterstattung. Wer ist das Opfer? Was macht die Frau beruflich? Aus welcher Familie kommt sie? Wie war die Kindheit? Ist die Frau eventuell in Therapie? Genau das wollen wir nicht. Es ist unser Wunsch und unsere Forderung an Medien, das zu ändern. Wir möchten den Blick weg von der Pathologisierung der Opfer hin zum Täter drehen. Was sind das für Männer? Was für Persönlichkeitsstrukturen liegen vor? Warum schlagen Männer? Und wie kann es sein, dass der gefährlichste Ort für Frauen das eigene Zuhause ist? Außerdem wünschen wir uns, dass die Berichterstattung weg von den Einzelfallberichten hin zu Berichten geht, dass häusliche Gewalt ein strukturelles gesellschaftliches Problem ist und wirklich jede Frau Opfer werden kann.

Wie wichtig ist es Medien, dass Betroffene bereit sind, mit Klar­namen aufzutreten, so wie du es machst? Das ist eher die Ausnahme.

Meiner Meinung nach macht es einen Teil unseres Erfolges aus, dass wir bereit sind, mit Klarnamen vorzukommen und unser Gesicht zu zeigen. Das ist ein Novum. Normalerweise bleiben alle anonym: Opfer und Täter. Namen sind mit einem Asterisk versehen, Frauen von hinten fotografiert. Dadurch werden die Geschichten nicht greifbar. Sobald jemand mit Namen und Gesicht auftritt, fangen Menschen an hinzusehen. Gleichzeitig ist es jedoch ein schwieriger Schritt für jede einzelne Betroffene, sich zu zeigen. Viele Frauen können es nicht, weil sie sich beispielsweise in Gefahr bringen oder laufende Gerichtsprozesse haben. Sich öffentlich zu zeigen, macht einen angreifbar und verwundbar und kann auch negative Konsequenzen mit sich bringen. Daher verdienen die Betroffenen, die sich mit uns im „Focus“ gezeigt haben, viel Respekt. Das war sehr mutig.

Ihr habt mit dem „Focus“ einen ersten Aufschlag gehabt, dazu viel sonstige Medienberichterstattung. Was kommt als Nächstes?

Wir haben jetzt viel mit Medien gemacht, um Aufmerksamkeit auf das Tabuthema zu lenken. Wir hatten als ersten Schritt der Initiative die Bewusstseinskampagne geplant, da uns klar war, es erst einmal schaffen zu müssen, dass die Menschen beim Thema häusliche Gewalt bereit sind hinzuschauen. Der nächste Schritt sind Aktionen Richtung Politik und Gesellschaft. Wir möchten dazu beitragen, die vielen sehr kompetenten Akteure und Organisationen in diesem Bereich zusammenzubringen. Wir möchten unsere Sichtbarkeit für bereits vorhandene Organisationen einsetzen. Zusätzlich erstellen wir einen Medienleitfaden, den wir Medien an die Hand geben wollen, mit Hinweisen, wie die Berichterstattung aus Sicht der Betroffenen nicht sein sollte. Dass sie beispielsweise nicht mehr schreiben „Mord aus Liebe“ oder „Mord aus Leidenschaft“.

Ist es nicht übergriffig, Medien zu sagen, wie sie zu berichten haben?

Es ist nicht übergriffig. Es ist ein gut gemeinter Hinweis – eine Bitte –, weil wir hier über ein Thema sprechen, das retraumatisierend ist. Als Journalist muss man sich überlegen, ob man eine Geschichte schreibt für die Leser, damit sie eine Opfergeschichte mehr lesen. Oder schreibt man einen Appell, damit sich der Leser, der gleichzeitig Gesellschaft ist, überlegt, über dieses Thema zu sprechen und im Freundeskreis zu fragen, ob sich jemand nicht sicher in seiner Partnerschaft fühlt?

Du hast eure konkreten Forderungen angesprochen. Diese reichen von einer staatlichen Koordinierungsstelle über eine andere Bericht­erstattung und Aufklärungsarbeit in Bildungs­einrichtungen bis hin zu mehr Frauenhausplätzen. Wie wollt ihr diese Forderungen erreichen?

Die Forderungen sind nicht neu. Organisationen wie der Weiße Ring, UN Women, Zonta, das Bündnis Istanbul-Konvention und sonstige Hilfestellen erheben diese seit Jahrzehnten. Viele dieser Forderungen sind mit Geld verbunden: sowohl Schulungen für Polizisten, Richter und Staatsanwälte als auch Frauenhausplätze. Dieses Geld fehlt politisch leider seit langem. Dennoch hat sich die Bundesregierung im Rahmen der Istanbul-Konvention zu ganz konkreten Maßnahmen verpflichtet. Es ist überfällig, dass diese umgesetzt werden.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat kürzlich den Lagebericht zur häuslichen Gewalt vorgestellt. Das BKA registrierte 2022 insgesamt 157.550 Fälle häuslicher Gewalt in Partnerschaften. Was erhofft ihr euch von der Politik?

Wir möchten zeitnah in Berlin eine politische Veranstaltung durchführen. Parteiübergreifend ist großes Interesse vorhanden, daran teilzunehmen. Auf dieser Veranstaltung wollen wir unsere Kernforderungen vorlegen. Es ist schön und gut, wenn Nancy Faeser sagt, Frauen sollen mehr Anzeigen erstatten. Nur: Dann soll sie das auch möglich machen. Dafür braucht es eine Struktur, damit eine Frau überhaupt anzeigen kann. Die Politik müsste beispielsweise einen niedrigschwelligen Rechtsanspruch schaffen. Aktuell ist es so, dass oft der eigene Geldbeutel darüber entscheidet, ob eine Frau eine Anzeige durchführen und sich einen guten Anwalt leisten kann. Auch müssten Staatsanwälte und Richter fortgebildet werden, damit sie die Dynamiken häuslicher Gewalt verstehen. Die jahrelang dauernden Prozesse sind häufig nicht nur kostenintensiv, sondern auch retraumatisierend für die Betroffenen. Eine Studie vom LKA Niedersachsen zeigt, dass dort nur jede 215. Tat überhaupt angezeigt wird. In nur einem Bruchteil aller Fälle kommt es zu einer Verurteilung.

Ihr habt mit Civey eine Umfrage durchgeführt. Ging es darum, einen Aufhänger für Medien­berichterstattung zu schaffen, oder wolltet ihr inhaltlich etwas herausfinden?

Es gibt zur häuslichen Gewalt kaum Zahlen. Wir wollten valide Zahlen bekommen, damit Politik und Medien diese nutzen können. Wenn ich als Privatperson sage, dass eine Täter-Opfer-Umkehr stattfindet, ist es etwas anderes, als wenn ich belegen kann, dass etwa jeder fünfte Befragte sagt, die Schuld liege nicht nur beim Täter.

Ihr macht bisher alles ehrenamtlich. Allein die Medienanfragen zu beantworten und Interviews zu geben, dürfte wahnsinnig viel Zeit kosten. Inwieweit wollt ihr die Struktur der Initiative professionalisieren?

Den Zeitfaktor haben wir unterschätzt, weil wir nicht wussten, dass unsere Initiative so positiv aufgenommen wird. Teilweise arbeiten wir in Hochphasen zehn Stunden und mehr für die Initiative. Aktuell sind wir im Gespräch mit einer großen Agentur, die uns hoffentlich konzeptionell und bei der Out-of-Home-Kampagne unterstützt. Hierfür benötigen wir jedoch Geld. Wir formieren uns nun in einen Verein um, damit wir auch Spenden annehmen können. Momentan zahlen wir alles aus eigener Tasche. So könnten wir der Agentur zumindest eine Aufwandsentschädigung zahlen. Wir würden auch gerne jemanden für das Projektmanagement einstellen.

Abschließend: Was würdest du unseren Lesern mitgeben? Was kann jeder Einzelne tun?

Ich appelliere an die Leser, mehr über häusliche Gewalt zu sprechen. Hört genauer hin in eurem eigenen Umfeld, glaubt den Opfern, verschließt die Augen und Ohren nicht! Häusliche Gewalt ist keine Privatsache, sondern geht uns alle an.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe #Beratung. Das Heft können Sie hier bestellen.