Durch Big Data linguistische Informationsschätze heben

Lingumarketing

Was tun Menschen rund 70.000 Mal pro Tag? Sie produzieren Wörter, die beruflich und privat über kommunikativen Erfolg oder Bruchlandung entscheiden. Bilder werden von uns zwar schneller wahrgenommen, aber umso rascher auch wieder vergessen. In unserer Lebenswelt − online wie offline − sind wir also permanent von (sprachlichen) Zeichen umgeben: angefangen beim Toilettenschild bis hin zum bunten Social-Media-Auftritt. Es sind letztlich die Macht der Wörter und deren anhaltende Erinnerung, mit der sich die ­größte Wirkung bei Zielgruppen erreichen lässt. Diese Sprachmacht wird aber in der Regel ­unterschätzt.
Weil wir alle jeden Tag Sprache verwenden, meinen wir, automatisch Sprachexperten zu sein. Diese Erkenntnis ist in den meis­ten Unternehmen weiterhin vorzufinden − jedoch bedarf Sprache spezieller Expertise. „Geisteswissenschaftler, und unter ihnen Linguisten, sind hierfür Experten. Sie können entsprechende Kommunikationsmöglichkeiten in Unternehmen identifizieren, sprachlich anreichern und auswerten”, so Clara Herdeanu, Referentin für ­Unternehmenskommunikation bei einem Hidden Champion im Bereich Elektromotoren. Die promovierte Linguistin weist darauf hin, dass alle Menschen zwar Sprache nutzen, die wenigsten aber über Sprache ernsthaft reflektieren. Sprachverarbeitung laufe zum großen Teil unbewusst ab; daraus ergebe sich die Relevanz von Linguisten in allen Unternehmensbereichen, die stark davon betroffen sind, etwa Kommunikation, Marketing oder HR, weiß Herdeanu.

Die unterschätzte ­Sprachmacht

Es scheint somit verwunderlich, dass linguistische Methoden die Unternehmen nicht bereits durchdrungen haben – abgesehen von Manfred Bruhns oder Franz-Rudolf Eschs Konzept der Integrierten Kommunikation sowie Jörg Pfannenbergs, Manfred Piwingers oder Ansgar Zerfaß’ Ansätzen zum Kommunikations-Controlling, nicht zu vergessen Hans-Peter Försters Ansatz zum Corporate Wording – wohl gemerkt, keine genuin linguistischen Ansätze. Auch viele Analyse-Softwares, die zur Ermittlung von Keywords/Topics, Social-Media-Monitoring oder zur Verständlichkeit bei großen Textmengen eingesetzt werden, operieren auf Basis einer heik­len Grundannahme: Denn Sprachdaten sind keine eindeutigen Zahlen und können somit nicht einfach in solche umgerechnet werden, da sie semantische Mehrinformationen (Mitbedeutungen, Kontextwissen et ­cetera) enthalten. Sprache richtet sich nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten, weshalb sie wiederum schwer mit konventio­nellen, numerisch ausgerichteten Methoden messbar ist und sich schlecht in rational-ökonomische Denkstrukturen einfügt. Es gibt ­allerdings Möglichkeiten, relativ schnell und valide zu Ergebnissen bezüglich des Kommunikationserfolgs zu kommen: Stichwort Big Data.

Big Data − Stau auf der Datenautobahn

Unternehmen und Gesellschaft erzeugen jeden Tag riesige Mengen an Sprach- und Textdaten. Social Media, Blogs, Freitextfelder auf Homepages oder Bewertungs-/User-Foren sind entsprechende Datenquellen. Nur rund ein Drittel der großen Konzerne und Mittelständler gibt allerdings an, seine Big Data sys­tematisch zu analysieren. „Man redet gerne über Daten, genutzt werden sie jedoch nicht“, titelte die „FAZ“ am 12. Januar und bezieht sich damit auf den Big Data Report der Hochschule Reutlingen im Auftrag von T-Systems Multimedia Solutions.

Insgesamt 108 große und mittelständische Unternehmen in Deutschland aus 16 Branchen wurden dazu befragt, wie sie Big Data im Unternehmen, speziell dem Marketing, nutzen. Viele Kommunikations- oder Marketing-Verantwortliche, gerade von Mittelständlern, verkennen die Relevanz dieser Daten für ihre Strategie, trauen sich keine Bewertung dieser zu oder erachten sie im stressigen Tagesgeschäft als nicht relevant. Dadurch gehen Unternehmen jedoch genau diejenigen Informationen verloren, nach denen alle suchen: Wie kamen entsprechende Kampagnen an? Was denken Zielgruppen über das Unternehmen oder dessen Produkte/Dienstleistungen (Image)? Was wird gut, was wird schlecht bewertet (sogenannte Sentiments)?

Vor allem aber: Was sind die wirklichen Wünsche und Gedanken der Zielgruppen? Dieses realistische Kunden-, aber auch Mitarbeiter-Feedback ist inzwischen von höchster Bedeutung und kommt zunehmend in großen Mengen aus dem Online-Bereich. Warum also die Daten, die sowieso schon produziert wurden, nicht auch gewinnbringend nutzen?

Trend Text Mining

Aus dem anglophonen Raum schwappt seit wenigen Jahren der Trend des Text Minings auch zu uns hinüber. Das Wort Mi­ning ist übrigens eine Metapher aus dem Bergbau: Unstrukturiertes Rohmaterial wird geschürft und bis zum kostbaren Edelmetall (also dem (Mehr-)Wissen) freigesetzt. Einige Dax-30-Unternehmen beschäftigen sich bereits in Pilotprojekten mit der Frage, wie sie solche Methoden integrieren können. Text Mining operiert mit computerlinguistischen und statistischen Analyseverfahren zur Entdeckung von verborgenen Bedeutungen in großen Textmengen, die gar nicht oder nur sehr schwach thematisch strukturiert sind.

Solche findet man etwa bei offenen Fragen: Wo können wir uns verbessern? Haben Sie Anregungen für uns? Wie zufrieden sind Sie mit uns? Was machen unsere Wettbewerber? Wie sehen unsere Märkte aus? Beim Text Mining werden dabei ­implizite Informationen explizit gemacht, das heißt bewertungsindizierende Äußerungen oder Argumente und somit neues und potenziell nützliches Wissen gewonnen.

Manuelle Auswertung ist teuer und ­fehleranfällig

Viele mittelständische Unternehmen werten Umfragen zur Kunden- oder Mitarbeiterzufriedenheit, sofern sie solche überhaupt durchführen, noch manuell aus. Dies sorgt nicht nur für hohen Aufwand, die Fehlerquote erhöht sich zudem dadurch, dass die Mitarbeiter nicht linguistisch geschult sind. Es werden außerdem meist nur vordefinierte Kategorien (zum Beispiel thematisches Clustering) genutzt, keine ergebnisoffenen Methoden angewandt und die Wortebene nicht mit der Prominenz behandelt, die ihr eigentlich zustünde. Beispielsweise geben nicht nur Autosemantika (Substantive, Verben und Adjektive) Aufschlüsse über Themen (zum Beispiel Liefertreue oder Vertrauen); kleine (Negations-)Partikeln und Distanzmarker wie eigentlich, selbstverständlich oder kein verweisen auf als gemeinsam unterstelltes Wissen, auf Ziele oder Normensysteme, Nähe und Distanz der Zielgruppen. Alle Aussagen, die bisher nicht in dieser Form strukturiert fachlich ausgewertet wurden, sind ungenutzte Kommunikationspotenziale, über die wertvolle Informationen einfach unter den Tisch fallen.

Rein maschinelle ­Auswertung bringt wenig Mehrwert

Unternehmen betreiben zur Analyse ihrer Mitarbeiter- oder Kundenwünsche mitunter viel Aufwand, beispielsweise durch Fokusgruppen oder Marktforschung. Wird Text Mining rudimentär angewandt, dann meist nur rein maschinell oder von Mitarbeitern ohne sprachwissenschaftliche Kompetenz. Ein reines (maschinelles) Daten-Clustering, beispielsweise eine Wort-/Themenliste, ein Kategoriensystem oder ein maschinell erstellter Report für die Social-Media-Analyse ohne solide qualitative Interpretation, nutzt Kommunikation, Marketing oder HR jedoch wenig, da es gerade um das Lesen zwischen den Zeilen geht, um das Mitgeteilte an Beziehungsinformationen und Emotionen.

Nichtsprachlich Geschulte und reine IT-Produkte können dies derzeit nur unzureichend aufschlüsseln: Was bedeuten die Ergebnisse? Welche Handlungen müssen wir daraus ableiten? Wie kann sprachlich in den Diskurs eingegriffen beziehungsweise auf diesen reagiert werden? Maschinen können inhaltliche Zusammenhänge menschlicher Kommunikation noch nicht hinreichend deuten oder Handlungsentwürfe daraus ableiten. Linguisten schon.

Marktforschung durch ­linguistisches Text Mining ergänzen

Qualitativ-hermeneutische linguistische Analysen in Kombination mit semi-automatisierten Tools im Bereich Text Mining machen es möglich, durch Sprachkompetenz einen bisher unbeachteten Informationsschatz zu heben. Unternehmen können dadurch schneller und kosteneffizienter an tieferliegendes Kundenwissen und -verstehen kommen sowie ihre Leistungen durch das ausgewertete Material (sprachlich) anpassen. „Lingumarketing“ beschreibt dabei das Zusammenspiel aus der aktuellen Sprachperformance und darauf abgestimmtem Marketing mittels Kommunikation. Es bedeutet, Zielgruppen wie Kunden oder Mitarbeiter zu sprachlichen Ideengebern in einem Prozess der Wissenszirkulation zu machen. Welche Themen oder Wünsche bringen sie etwa in den Diskurs ein? Eine Leistungsanpassung kann somit über tatsächliches Feedback ex post (ohne Simulationen in Fokusgruppen oder Umfragen) vorgenommen werden. Am Ende stehen neue Mus­ter und ein besseres Verständnis von allen, die mit dem Unternehmen kommunizieren. Dieses Verständnis basiert somit auf einer sicheren Datenlage, die mit linguistischer Expertise ausgewertet wurde.

Zukunftsfähige Wirtschaft braucht Kommunikatoren

Wer unternehmerische Sprache und Kommunikation analysiert und dann aktiv gestaltet, spart auf jeden Fall Kosten und Zeit. Dabei wird Sicherheit in Bezug auf die wirklichen Wünsche der Zielgruppen und deren Aussagewahrscheinlichkeiten gewonnen. Die konkreten Auswirkungen eines solchen Verfahrens auf die Performance von Unternehmen können sich langfristig in verringerten Vertriebskosten, Effizienzsteigerungen in der allgemeinen Korrespondenz, Imageverbesserungen, überzeugenderer Darstellung der Produkte, längerfristiger Kundenbindung sowie besserer Kundeninteraktion zeigen. Gerlinde Mautner, Professorin an der Wirtschaftsuniversität Wien, betonte dies schon im Jahr 2011 in ihrem Aufsatz „Sprache, Handel, Sprachhandeln: Zur Bedeutung von Sprache im Management.“ Kurzfristige Vorteile sind, nach eigenen Pilotstudien:

• Qualität/Sicherheit: Real existierende Datenquellen werden genutzt
• Geschwindigkeit und Kostenreduktion durch semi-automatisierte Verfahren − keine zeitaufwändigen Studien oder Fokusgruppen
• neues Wissen: Bislang ungenutzte ­Informationen werden ausgewertet
• Reduktion von Fehlschlüssen durch ­selektives Auswählen/Lesen
• Auffinden von Wörtern/Wortgruppen, die erfolgsrelevant sind; Eliminierung von Wörtern mit negativem Impact
• Hinweise für Vertrieb/HR/Communications zur Interaktion mit Kunden
• mögliche kommunikative Reaktion/Leistungsanpassung über tatsächliches kollektives Feedback ex post

Design Thinking − der ­hermeneutische Zirkel ­reloaded

Sprache wird auch weiterhin technisch nicht vorhersagbaren Eigengesetzlichkeiten folgen. Statistiken, Metriken und KPI sind zwar teilweise nützlich für die Erfolgskontrolle, aber gute Inhalte und Traffic zu generieren, bleibt ein Experimentierfeld. Maschinen können nicht denken und fühlen − Sprache und Kommunikation sind jedoch unmittelbar mit der menschlichen Kognition und Emotion verknüpft. Das Verhalten der Zielgruppen wird sich niemals gänzlich maschinell erschließen lassen.

Das Design Thinking erobert in dieser Hinsicht gerade den Markt, wodurch das Einfühlen in die Zielgruppen, ein ständiges Hinterfragen und kreative Prototypen propagiert werden, die sich am Kunden testen lassen. Eine Endlosschleife. Der hermeneutische Zirkel − vom Sprachphilosophen Hans-Georg Gadamer stark gemacht − beschäftigte sich bereits 1960 mit diesem Thema: Menschen entwickeln Verständnisentwürfe in Kontakt mit dem Praxisfeld. Das Vorverständnis, welches man von einem Sachverhalt hat, wird durch Kontakt oder neues Wissen (zum Beispiel mit der Zielgruppe oder dem Produkt) erweitert und korrigiert, was zu einem verbesserten ­Verständnis führt.

Wenn Unternehmen schon wüssten, was sie eigentlich bereits wissen

Mehr als 80 Prozent der geschäftsrelevanten Informationen eines Unternehmens sind in unstrukturierten Daten verborgen, so die Gesellschaft für Informatik auf ihrer Homepage. Dieses verborgene Wissen über Kunden, Wettbewerber und Märkte, das schnell verfügbar gemacht werden soll, wird in Verdrängungsmärkten immer wichtiger. Gadamer hielt Denken und Sprache für untrennbar. Wenn uns die Worte fehlen, ringen wir schmerzlich nach ihnen – und nicht nach Zahlen! Die Linguistik kann daher die Kommunikation von Unternehmen durch sprachwissenschaftlich fundierte Interventionen definitiv optimieren und aus kommerzieller sowie wissenschaftlicher Sicht für einen enor­men Mehrwert sorgen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Digitalisierung. Das Heft können Sie hier bestellen.

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