Axt im Walde

sprecherspitze

Es war ein langer Abend inmitten der Heftproduktion, die Lider schwer, der Geist erlahmt, die Konzentration erzwungen, als eine E-Mail mit dem Betreff „Bitte heute Abend noch lesen!“ im Postfach aufblinkte. Der Absender: eine gute Kollegin. Etwas Dringendes. Auch das noch! Kurz vor dem Aufbruch also verzagt hineingeschaut und ein Dokument mit dem Titel „Die Geschichte vom Holzfäller“ vorgefunden. Mit dem Magazin konnte das nichts zu tun haben. Sie fürchten richtig, nun wird es parabolisch. Kurz zusammengefasst geht die von Jorge Bucay verfasste Geschichte so: Ein Mann findet Arbeit bei einer Holzgesellschaft, bekommt am ersten Tag vom Vorarbeiter eine Axt überreicht und fällt sogleich 18 Bäume, ein Rekord, für den er gelobt wird. In den folgenden Tagen kann der Protagonist daran allerdings nicht anknüpfen, so sehr er sich auch abmüht. Es fallen nur noch wenige Bäume, obwohl er zunehmend seine Freizeit verkürzt. Verwirrt und mit schlechtem Gewissen beichtet er schließlich dem Chef seinen Leistungsabfall. Dieser fragt ihn: „Wann hast du denn deine Axt das letzte Mal geschärft?“, woraufhin der Holzfäller antwortet: „Die Axt schärfen? Dazu hatte ich keine Zeit, ich war zu sehr damit beschäftigt, Bäume zu fällen.“

Ha! Heureka! Ich brauche mentales Schleifpapier. Erhellt und zugleich irritiert von der Kollegenaufforderung, bitte mit möglichst scharfer (und noch dazu besonders martialischer) Waffe ins Büro zu kommen, habe ich den Heimweg angetreten. Und Pläne entwickelt, wie der Kopf, das (eigentlich) raffinierteste Tool im Business-Werkzeugkasten, auf Vordermann gebracht werden könnte, indem man sich die Zeit nimmt, das zu tun: mehr Abwechslung, weniger Druck, mehr Rausgehen, weniger Agenda, mehr Schlaf, weniger Kaffee, mehr Freiraum, weniger Hamsterrad. Die Liste lässt sich beliebig fortführen. Die Schattenseite: Seit ich die Geschichte kenne, sehe ich überall stumpfe Klingen. Sie scheinen omnipräsent: Menschen, die den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen beziehungsweise den Baum vor lauter Äxten nicht fällen – wie auch immer. Auf die Spitze getrieben von der internen Kommunikatorin, die es nicht mehr schafft, mit den Kollegen zu sprechen, weil sie ein Konzept für interne Kommunikation entwickeln muss. PRler wie Journalisten, die kaum noch die Geschichten der anderen lesen, weil sie zu verzweifelt damit beschäftigt sind, sich zu zwingen, eigene zu schreiben. Haben Sie manchmal das Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben, wenn Sie in dunkler Nacht das Büro verlassen? Nochmal ha! Schleifpapier. Bitte. Vielleicht ist das für Sie ja ein Spaziergang durch den Frühlingswald. Dann hat es zumindest auch etwas Gutes, dass die Bäume nicht alle gefällt worden sind.

 

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe KREATIVITÄT. Das Heft können Sie hier bestellen.

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