„Über 100 Muskeln sind beim Sprechen beteiligt“

Sprechtraining

Timo Sämann wendet im Rahmen seiner Sprechtrainings sein eigens entwickeltes Konzept der Stimmtreppe an. Diese besteht aus zehn aufeinanderfolgenden Stufen und soll dabei helfen, das volle Potenzial der eigenen Stimme zu entfalten.

Für wen lohnt sich Sprechtraining?

Meine Kund*innen sind vorrangig Führungskräfte, Coaches und Kreative. Am Ende ist es aber für jeden Menschen sinnvoll, sich mit seiner Stimme zu beschäftigen. Wir investieren sehr viel Zeit in unser Aussehen und verhältnismäßig wenig in die Stimme. Vielen ist es gar nicht bewusst, dass wirkungsvolles Sprechen nicht angeboren, sondern in gewisser Weise veränderbar ist. Es gibt ein Potenzial, das jede Person freisetzen kann.

Woher kommt es eigentlich, dass so viele Leute ihre eigene Stimme nicht gerne hören?

Wir haben eine andere Wahrnehmung davon, wie wir uns selbst hören, als die Leute, die uns von außen hören. Neben dem Schall aus der Luftleitung nehmen wir auch den Schall über die Knochenleitung wahr und deshalb haben wir für uns selbst eine andere Stimme im Ohr, als wenn wir uns von außen hören. Das zu akzeptieren, fällt vielen Leuten sehr schwer. Es ist auch mir schwergefallen.

Wie wichtig ist die Stimme für die Kommunikationsarbeit? Welchen Anteil des Erfolgs kann die Stimme ausmachen?

Unsere Kommunikation wird grundsätzlich durch drei Faktoren bestimmt: Inhalt, Stimme und Körpersprache, also Gestik und Mimik. Nach der Mehrabian-Regel machen 55 Prozent der Kommunikation die Körpersprache, 38 Prozent die Stimme und nur sieben Prozent der Inhalt aus.

Jetzt hängt es davon ab, auf welchem Medium wir unterwegs sind. Wenn wir physisch anwesend sind, dann erzielen wir durch unser optisches Erscheinungsbild und die Stimme die größte Wirkung. Wenn ich aber am Telefon bin, einen Podcast mache oder im Radio spreche und der auditive Kanal der einzige ist, über den ich wahrgenommen werde, ist die Wirkung der Stimme wesentlich höher. Gleichzeitig beeinflusst auch die Körpersprache den Stimmbereich wesentlich. Daher sind bei meiner Arbeit die körperliche Vorbereitung und die Körperenergie die Grundlagen.

Was sind die häufigsten Fehler beim Sprechen, die du in deinem Arbeitsalltag beobachtest?

Unsere Stimmen sind geprägt durch unsere Vergangenheit und dadurch, wie wir großgezogen wurden. Wir adaptieren sehr viel von den Dingen, die wir hören. Teilweise passiert das unbewusst. Dann setzen sich Muster fest, wie zum Beispiel, dass man mit der Stimme immer wieder nach oben geht. Wesentlich ist auch die Sprechstimmlage. Wenn ich in der falschen Tonlage spreche, hat das nicht nur eine Auswirkung darauf, wie kompetent, wie glaubwürdig oder wie souverän ich rüberkomme, sondern auch darauf, wie anstrengend es für meinen Stimmapparat ist zu sprechen. Ökonomisch sinnvoll ist es, in der sogenannten Indifferenz-Tonlage zu sprechen. Dabei können wir sprechen, ohne heiser zu werden, weil die Stimmbänder in einem entspannten Zustand sind.

Häufig sehe ich, dass die Leute nicht entspannt und fokussiert in die Sprechsituation reingehen. Dann ist es wichtig, vor der Situation kurz zu reflektieren: Was möchte ich erreichen? Was ist meine Zielgruppe? Und in welcher Rolle spreche ich zu den Leuten? Es hilft enorm, sich klar zu werden, wie man kommunizieren möchte, und deshalb ist es sehr wichtig, sich fürs Sprechen vorzubereiten.

Der Phonetiker Oliver Niebuhr sagt, dass alle Menschen charismatisch sprechen können. Teilst du diese Auffassung und was sind aus deiner Sicht die wichtigsten Faktoren dafür, dass jemand allein mit der Stimme Personen für sich gewinnen kann?

Oliver Niebuhr nennt drei Faktoren, die wichtig für charismatisches Sprechen sind – Selbstvertrauen, Kompetenz und Leidenschaft – und die teile ich. Jede Person hat dieses Geschenk Stimme und kann es für sich nutzen, nur in einem unterschiedlichen Umfang. Es hängt damit zusammen, wie extrovertiert oder introvertiert wir sind, und es hat auch viel mit unserem Selbstwertgefühl zu tun. Wie ich klinge, hat ganz viel mit den Gedanken zu tun, die ich mir mache.

Ich sage immer: Leute, wenn ihr sprechen dürft, das ist doch ein Privileg! Es ist eine Chance, dass ihr Leuten was mitgeben dürft. Ergreift doch diese Chance und nutzt sie bestmöglich, indem ihr durch den richtigen Stimmenklang und den richtigen Einsatz der Stimme eure Botschaft rüberbringen könnt.

Timo Sämann in seinem Studio bei der Arbeit. © Florian Schmidt

Timo Sämann in seinem Studio bei der Arbeit. © Florian Schmidt

Du hast das Konzept der Stimmtreppe entwickelt. Was hat dich dazu inspiriert?

Bei den Trainings, die ich besucht habe, habe ich festgestellt, wie wichtig die körperliche Vorbereitung ist. Sie ist die Basis, wenn man die Stimme trainieren will. Im Bereich Sprechen habe ich mich gefragt, welche Tools ich zur Verfügung habe, um meinen Vortrag abwechslungsreich zu gestalten, um eine höchstmögliche Präsenz zu erreichen. Mir hat eine Struktur gefehlt, um zu verstehen, wie unsere Stimme ganzheitlich funktioniert.

Für die Erstellung des Trainingskonzepts dienten mir u.a. die Arbeiten von Oliver Niebuhr, Michael Rossié, Julius Hey und der Impulsgruppe stimme.at sowie Einblicke in die Arbeit von Sprechern und Stimmcoaches über die Plattform Gravy For the Brain als Basis.

Was sind die einzelnen Stufen und wieso ist die richtige Reihenfolge dabei so wichtig?

Das Konzept der Stimmtreppe kann man in zwei Teile gliedern. Die ersten fünf Stufen beziehen sich auf die Stimme an sich und damit die körperlichen Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um sicher und entspannt zu sprechen. Es sind die Punkte: Körperenergie, Atmung, Stimmvolumen, Artikulation und Pausensetzung.

Die körperliche Vorbereitung ist unverzichtbar, um aktiviert, aber gleichzeitig entspannt in eine Sprechsituation zu gehen. In den Stufen sechs bis zehn geht es ums eigentliche Sprechen und darum, lebendig und überzeugend zu wirken. Dazu gehören die Aspekte Sprachstil, Sinnschritte, Betonung, Sprechmelodie und Sprechtempo.

Die Stufen greifen alle ineinander, mithilfe des Konzepts sind sie analytisch nachvollziehbar. Anhand einer Stimmanalyse stelle ich die jeweils spezifischen individuellen Aspekte meiner Kund*innen heraus und bearbeite diese mit ihnen zusammen im Rahmen des Stimmtreppen-Konzepts.

Grundsätzlich geht es mir nicht darum, so lange in einer Stufe zu arbeiten, bis die Person ihr ganzes Potenzial auf der Stufe ausgeschöpft hat. Alles ist nach dem Pareto-Prinzip aufgebaut. Also wie schaffe ich es, 80 Prozent des Stimmpotenzials freizusetzen, indem ich 20 Prozent ändere?

Wie lange dauert es im Durchschnitt, bis sich die Prozesse, die für wirkungsvolles Sprechen notwendig sind, automatisiert haben?

Das Wichtigste ist die Regelmäßigkeit. Es ist wie beim Sport. 100 Muskeln sind am Sprechprozess beteiligt. Die muss man immer wieder neu trainieren. Wenn ich in das Training gehe und denke, ich kenne jetzt alles und mache danach nichts mehr, wird sich nichts verändern. Daher ist es wichtig, sich die Zeit zu schaffen und die Übungen in den Alltag zu überführen. Kleine Einheiten von ein paar Minuten pro Tag reichen schon. Wenn man das regelmäßig macht, wird man nach ein paar Wochen Veränderungen hören. Einige Punkte brauchen mehr Zeit als andere und es hängt davon ab, von welchem Stand man kommt. Bei Leuten, die ich mit Trainings begleite und die motiviert sind, höre ich nach einem halben Jahr deutliche Unterschiede heraus.

Welchen Stellenwert nimmt aus deiner Sicht der Faktor Empathie beim Sprechen ein?

Empathie ist fürs Sprechen sehr wichtig. Denn: So wie du klingst, so fühlt sich dein Gegenüber.

Es ist wichtig sich klarzumachen, was man eigentlich erreichen will. Möchte man, dass das Publikum in einer entspannten Stimmung ist und aufmerksam zuhört? Möchte man sie motivieren und inspirieren? Was auch immer das Ziel ist, man sollte sich selbst beim Sprechen daran orientieren. Wenn das Publikum also fast am Einschlafen ist, dann könnte ich mich fragen, bin ich auch gerade fast am Einschlafen?

Es liegt aber auch nicht immer an einem selbst. Daher sollte man sich die gesamten Umstände und damit die Bedürfnisse des Publikums in der Situation bewusst machen. Im Zweifel hilft es, eine Pause zu machen und kurz zu reflektieren, was gerade passiert. Dann kann man zum Beispiel Fragen stellen und auf diese Weise versuchen, wieder eine Aktion auszulösen.

Zum Thema Sprechen und Emotionen: Wie kann man sich vor dem Vortrag in eine angemessene Stimmung bringen?

Ich empfehle, sich Musik anzuhören. Musik wirkt unmittelbar auf unser limbisches System, da ist unser Emotionszentrum. Wenn man schlecht drauf ist, aber einen fröhlichen Song hört und den vorzutragenden Text dazu schon mal spricht, dann wird man den Text fröhlicher präsentieren.

Dazu hilft auch, sich Bilder im Kopf zu verankern von Situationen, die bestimmte Emotionen auslösen. Das können Bilder aus dem Urlaub sein, wenn man gute Laune transportieren möchte, oder seltener auch traurige Geschichten, sodass man besser mitfühlen kann.

Es ist wichtig, dass die Stimme und die Stimmung miteinander verbunden sind, dass wir hier eine Kongruenz haben. Ansonsten wirkt das nicht authentisch.

Welche Personen des öffentlichen Lebens können aus deiner Sicht mit ihrer Stimme versiert umgehen und stehen vorbildhaft für bestimmte Wirkungen, die man mit der Stimmte erzielen kann?

Bei den Frauen ist es Amanda Gorman. Sie hat eine wahnsinnige Präsenz in ihrer Stimme. Sie strahlt Ruhe aus, gleichzeitig verfügt sie über eine extreme Souveränität in der Art und Weise, wie sie vorträgt, und auch über eine sehr gute Melodieführung. Bei den Männern ist es Steve Jobs. Ich empfehle allen, sich mal Jobs‘ Rede an der Stanford University anzuhören. Von ihm können wir lernen, Dinge auf den Punkt zu bringen und Leute emotional mitzunehmen, ohne es zu übertreiben. Von Barack Obama können wir lernen, wie wir bedeutungsvoll und auch humorvoll sprechen.

Auf KOM.de wird Timo Sämann im Rahmen einer wöchentlichen Videokolumne Tipps für wirkungsvolles Sprechen vorstellen. Der erste Beitrag erscheint nächste Woche Freitag.

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