Was macht ein Corporate Story Architect, Herr Dennehy?

Storytelling

Herr Dennehy, in Ihrer Tätigkeit als ­Berater und ­Blogger ­beschreiben Sie sich mit dem ­Titel Corporate Story Architect. Was kann man sich darunter vorstellen?

Tobias Dennehy: Ich halte das Bild des Architekten für passend, weil es beim unternehmerischen Storytelling um mehr geht als die Art und Weise des Erzählens oder das Produzieren einer guten Geschichte. Es beinhaltet auch genaue Planung und einen langfristigen Aufbau. Es muss ein großer Bogen geschlagen werden: Das Fundament der einzelnen Storys ist die große Markengeschichte. Nette Filmchen oder Geschichten, die nicht auf dem Markenkern basieren, werden maximal kurzfristig erfolgreich sein. Am Anfang des Storytellings gilt es herauszufinden, wofür das Unternehmen steht. Und das erfährt man nicht in einem Tages-Workshop mit Vorstand und Markenagentur.

Sondern?

Es braucht viel Zeit und sehr genaues Zuhören, um sich bewusst zu machen, wie ein Unternehmen intern und extern wahrgenommen wird. Auf diesem Fundament aufbauend, muss man nach passenden Geschichten suchen, die zusammen ein Story-Gebäude entstehen lassen, quasi die Säulen, die ohne das richtige Fundament nicht stehen können. Das darüberliegende Dach kann man als Präsenz der Marke außerhalb des Unternehmens verstehen. Die ist enorm wichtig, denn niemand da draußen wartet auf Unternehmensgeschichten. Daher müssen thematisch passende Anlässe gesucht werden, durch die man mit Hilfe einer redaktionellen Planung auf sich aufmerksam macht – je überraschender, desto besser. Und all das muss er im Blick haben, der Corporate Story Architect.

Und in wessen Verantwortung liegt diese Planung? Ist Storytelling eher eine Aufgabe der Marketing- oder der Kommunikationsabteilung?

Ich empfinde das als eine künstliche und veraltete Trennung. Derjenige, der draußen mit unserer Marke zu tun hat, nimmt deren Kommunikation ohnehin als ein Ganzes wahr, egal aus welcher Abteilung der Inhalt kommt oder in welchem Kanal er diesen rezipiert hat. Früher hieß es immer, Inhalte kämen aus der Kommunikationsabteilung und bunte Bildchen aus dem Marketing, doch das ist Quatsch. Das gefällt mir am Storytelling: Es ist so grundlegend menschlich und mannigfaltig, dass man es auf allen Ebenen durchziehen kann und sollte.

Die Aussage des Cluetrain-­Manifests von 1999 lautete: „Wir sind keine Zielgruppen oder Endnutzer oder Konsumenten. Wir sind Menschen – und unser Einfluss entzieht sich eurem Zugriff. Kommt ­damit klar.“ Wird dieser ­Umstand von zu vielen Unternehmen vernachlässigt?

Auf jeden Fall! Jeder Mensch ist erst einmal ein unberechenbares Individuum. Ich versuche daher Worte wie Zielgruppe oder – noch schlimmer: User – zu vermeiden. Der Storytelling-Hype rührt auch daher, dass viele merken, dass diese faktenorientierte Kommunikation, bei der es maßgeblich darauf ankommt, auch ja alle Features eines Produkts zu nennen, nicht mehr räsoniert. Die Menschen vergleichen Produkte und Hersteller, sie suchen nach Alleinstellungsmerkmalen, und die geben Produktportfolios immer seltener her. Nur Menschen können anderen Menschen Produkte näherbringen. Das Prinzip „The Product is the hero“ geht nicht auf.

Warum nicht?

Weil das Wichtigste an einem Helden die Möglichkeit zur Identifikation ist. Ich würde behaupten, sich mit einem Schaltschrank, einer Gasturbine oder gar einem Handy zu identifizieren und eine Geschichte mit ihm erleben zu wollen, ist unmöglich. Ich brauche also zwangsläufig eine interessante Figur. Das Produkt als solches ist für jede Storytelling-Kampagne dennoch ein unglaublich wichtiges Element, ein Nebendarsteller oder versteckter Held sozusagen. Aber es kann nicht der Protagonist selbst sein, sondern nur ein Helfer. Wir brauchen emotionale Zugänge zu Marken, da Menschen nun einmal in erster Linie Bauchentscheidungen treffen. Das heißt aber nicht, dass eine Geschichte immer kitschiger Musik oder spielender Kinder bedarf. Viele, die sich am Storytelling versuchen, verfallen allzu leicht in solche Klischees.

Bis zum Oktober vergangenen Jahres haben Sie sich bei Siemens um das Storytelling gekümmert und dort auch die Kampagne „/answers“ aus der Taufe gehoben und betreut. Diese bestand aus kurzen Videos externer Dokumentarfilmer, die davon handelten, wie Produkte des Unternehmens das Leben einzelner Menschen beeinflussen, aber eben bewusst diese Produkte nicht thematisieren und nicht zeigen. Wie haben Sie da geeignete Helden gefunden?

Gar nicht, zumindest nicht selbst. Man ist im Unternehmen ja befangen und gefangen in Produktblatt-, Broschüren- und Power-Point-Dimensionen. Für „/answers“ haben wir aus diesem Grund ausschließlich mit externen Dokumentarfilmern zusammengearbeitet, die von Siemens keine Ahnung hatten, vom Geschichtenerzählen dafür umso mehr. Sie kannten die Produkte nicht, haben von uns dann aber ein ganz trockenes technisches Briefing bekommen, das ihnen deren Beschaffenheit und Vorzüge in allen Details erklärte. Zum Beispiel: In der Stadt X befindet sich ein Produkt, das für Projekt Y eingesetzt wird und von den Personen Z genutzt wird – also all die Informationen, die normalerweise 1:1 in einem klassischen Corporate-Film landen, fanden hier lediglich den Weg ins Briefing. Aufgabe der Filmemacher war es nun, genau diese Details nicht aufzugreifen, sondern spannende Menschen mit spannenden Geschichten zu finden, die von den beschriebenen Produkten profitieren – am besten, ohne davon etwas zu wissen. Die Autoren mussten das Produkt verstehen, sich aber von ihm lösen, denn die Geschichte des Helden hatte meist vordergründig nichts mit dem Produkt zu tun.

Das Produkt als solches kann man in der Geschichte also weitgehend ignorieren?

Absolut. In den Filmen wurde es nur einmal ganz am Ende kurz erwähnt, um von dort aus bei Interesse mehr darüber erfahren zu können. Unserer Erfahrung nach verstehen die Menschen die Botschaft trotzdem, vielleicht sogar noch besser, wenn ihnen der Holz­hammer erspart wird – man kann ihnen eine solche Transferleistung durchaus zutrauen. Ich halte es da mit dem britischen Autor Philip Pullman: „Let the events tell the story.“

Dann muss ich mir gar ­keine Story ausdenken, sondern in ers­ter Linie einen Helden ­finden, der diese mitbringt?

Idealerweise denke ich mir gar nichts aus. Auch bei „/answers“ bestand ein großer Teil der Leistung darin, Dinge geschehen und sich überraschen zu lassen. Ich würde jedem davon abraten, mit einer fertigen Botschaft im Kopf den dazu passenden Helden konstruieren zu wollen. Geschichten und ihre Protagonisten müssen echt sein. Der Zuschauer wird sich freuen, wenn er feststellt, dass der Held kein willkürlich ausgewähltes Model ist, sondern ein realer Mensch, mit dem er beispielsweise über soziale Netzwerke in Kontakt ­treten könnte.

Insgesamt wurden zwischen 2011 und 2014 im Zuge der Kampagne 60 Filme produziert. Haben Sie persönlich einen Favoriten?

Es gibt zwei Videos, die mir besonders gefallen. Zum einen ist das „The Last Flower“, das Porträt eines Orchideenbauers in China. Dessen Familienunternehmen stand kurz vor dem Ruin, da es ständig Stromausfälle gab und die Generatoren im Gewächshaus ausfielen. Der Dokumentarfilmer hat ihn in dieser schweren Zeit begleitet. Vor dem Chinesischen Neujahr, der wichtigsten Zeit im Jahr, ermöglichte Siemens eine verlässliche Stromübertragung. Mein zweiter Favorit ist der Film über einen Bastler, der schon seit seiner Kindheit Rennwagen aus Papier anfertigte. Von Red Bull wurde er eines Tages als Praktikant angeheuert, freute sich riesig darüber und unterstützte von da an mit Hilfe von Siemens-Software die Produktion realer Sportwagen. In diesen Geschichten geht es um echte Menschen, das spürt man sofort.

Welches Ziel haben Sie mit der Kampagne verfolgt?

Wir wollten überraschen, nahbarer werden. Hinzu kam die Herausforderung, dass die Abkehr vom Endkonsumentengeschäft über Handys und Waschmaschinen noch lange nicht in der Öffentlichkeit angekommen war. Wir mussten den Leuten zeigen, wo überall Siemens drinsteckt und was diese weniger alltäglichen Produkte nicht nur Businesskunden, sondern auch jedem einzelnen Menschen für einen Nutzen bringen. Es war ein Experiment, ob man mit Geschichten, die ganz weit weg vom Unternehmen sind und auf Werbeschwenks verzichten, Menschen dazu bringt, auf die Produkt-Webseiten zu gehen.

Und konnten Sie durch die Videos tatsächlich mehr Klicks auf der Unternehmensseite verzeichnen?

Absolut. Beispielsweise hat sich in der Woche, in der eine Geschichte live ging, die Besucherzahl auf den jeweiligen Landing-Pages verdoppelt, zwischendurch sogar verdreifacht. Im Durchschnitt haben sich 60 Prozent aller Besucher die Filme zu Ende angesehen, also die Unternehmensbotschaft mitbekommen. Und von diesen 60 Prozent hat ein Durchschnitt von elf Prozent den angebotenen Produktlink geklickt und sich durchschnittlich bis zu 20 Minuten auf der jeweiligen Landing-Page getummelt. Wir konnten also durch eine Mensch­geschichte weit weg vom Produkt Menschen für selbiges interessieren.

Hier haben nun externe Autoren Helden gefunden und von ihnen berichtet. Ist die Unternehmenskommunikation selbst zu befangen, um richtig gute Geschichten zu erzählen?

Befangen ist sie auf jeden Fall. Sie hat, und Gleiches gilt für Agenturen, einen klaren Auftrag: das Management oder den Kunden glücklich zu machen. Es ist schwierig, als Mitarbeiter komplett out of the box zu denken, wenn man weiß, dass die Geschichten noch von x Stellen freigegeben werden müssen, und man schon vorm Kreativ­werden die Schere im Kopf ansetzt. Von den Dokumentarfilmern habe ich viel über die notwendige Distanz zum eigenen Unternehmen und Portfolio gelernt. Ich bin fest davon überzeugt, dass man auch diese Fähigkeit im Unternehmen stärken kann. Eine geeignete Krücke für die Unternehmenskommunikation können auch Experimente mit Crowdsourcing sein. Wir können die Menschen draußen am kreativen Prozess beteiligen und über das Unternehmen sprechen lassen.

Also bringt man am ­besten andere dazu, etwas zu ­erzählen?

Ja, genau. Tue Gutes, und lass andere ­darüber reden – das macht es glaubhafter.

Es heißt immer, man ­könne für jedes Unternehmen gutes Storytelling betreiben. Aber macht es wirklich keinen ­Unterschied, ob ich zum Beispiel für ein Technikunternehmen oder einen Hersteller von Eiscreme kommuniziere?

Wer weiß, wie eine Geschichte funktioniert, kann sie überall erzählen. Jedes Produkt auf diesem Planeten birgt eine spannende Story. Zwar liegt diese bei einem versteckten technischen Produkt vielleicht weniger auf der Hand, dafür lassen sich womöglich mehr überraschende Varianten finden als bei der Eiscreme. Und wenn man einmal auf eine gute Geschichte gestoßen ist, lässt sich diese wiederum aus diversen Perspektiven erzählen. Wer behauptet, zu seinem Unternehmen oder seinen Produkten keine passende Geschichte zu finden, gibt sich einfach nicht genug Mühe.

Wie findet man heraus, wann der richtige Zeitpunkt ist, eine Geschichte zu ­erzählen? Ist es sinnvoller, auf einen äußeren Anlass zu warten, oder kann ich stattdessen mit einem ­willkürlich gewählten Zeitpunkt überraschen?

Beides ist möglich. Man kann die Geschichten jederzeit produzieren und versuchen, über Konsequenz und Durchhaltevermögen eine gewisse Erwartungshaltung bei den Menschen zu wecken und sie so an die eigenen Kanäle zu binden. Wenn jedoch die Aufmerksamkeit generell zu einem Thema erhöht ist, bietet es sich natürlich an, selbst ein Stück vom Kuchen abzubekommen. Grundsätzlich gilt: Wenn ich eine Geschichte ganz ohne zwingenden äußeren Anlass erzähle, ist es ohne ­Werbebudget kaum möglich, auf sich aufmerksam zu ­machen, dann braucht man eine ­Anschubfinanzierung.

In einem Vortrag ­haben Sie einmal die Formel ­Social ­Media ist ­Storytelling ­erwähnt. Aber nur weil ein ­Unternehmen die entsprechenden ­Kanäle nutzt, erzählt es doch noch lange keine Geschichte.

Stimmt, und so war das auch nicht gemeint. Die Idee dahinter ist, diejenigen Unternehmen, die sich erst langsam den sozialen Netzwerken nähern, im Hinblick auf das Neue an ihnen zu erden. Social Media ist ja nichts anderes, als durch Technologie etwas global zu machen, was den Menschen seit jeher zu einer einzigartigen Spezies macht: sozial sein und sich über Sprache oder nonverbal mit anderen austauschen. Menschen haben sich immer Geschichten erzählt, heute haben wir nur andere Plattformen. Das Prinzip menschlicher Konversation bleibt in ­Social Media dasselbe wie beim Sozialsein ohne Media. „Story is the currency of human contact“, schreibt ­Hollywoods Screen­writing-Lehrer Robert McKee – ein schönes Bild.

Wäre das auch Ihre ­Definition einer Story? Das klingt ein bisschen, als könnte man auf den klassischen Spannungs­bogen verzichten.

Im Gegenteil! Ohne Spannungsbogen läuft gar nichts im Storytelling, denn ich muss in der Lage sein, den Rezipienten durch den Dreiklang Expectation-Surprise-Change bei der Stange zu halten. Also: Eine Erwartungshaltung in einer Geschichte schaffen, dass da tatsächlich etwas passieren wird, für das es sich lohnt, dran zu bleiben. Dann muss aber auch etwas geschehen, und zwar idealerweise etwas Überraschendes. Und diese Überraschung führt zu einer klaren Veränderung der Handlung, des Helden, der Welt.

Das erweckt den Anschein, als müsste man weit ausholen.

Nein, eine solche Geschichte kann ich sogar in einem 140-Zeichen-Tweet unterbringen. Ich erinnere an Barack Obamas drei Worte „Four more Years“, die er nach seiner Wiederwahl zusammen mit einem Bild von sich in den Armen seiner Frau gepostet hat. Das war fantastisches Social-Media-Storytelling. Es geht nämlich nicht nur um den Spannungsbogen, den ich explizit erzähle, dieser kann auch im Hinterkopf meines Zuhörers gespannt werden. Ein weiteres erfreuliches Beispiel war ein Mutter­tags-Video von ­Pampers vor ein paar Jahren. Das Unternehmen hat werdende Mütter in Krankenhäusern ein Jahr nach der Geburt ihrer Kinder begleitet und ihnen eine durch die Väter ihrer Kinder zusammengestellte Ausstellung gewidmet. Im Krankenhaus, um so dort mit ihnen den ers­ten Muttertag zu feiern. Sehr überraschend, sehr emotional, sehr glaubhaft. Auch hier standen – bis zur Einblendung der Marke ganz am Schluss – die Menschen im Mittelpunkt. Insbesondere Eltern konnten sich mit den Gefühlen der Mütter und Väter identifizieren. Geschichten bauen auf Vorstellungskraft, sie müssen sich nicht immer vollständig vor unseren Augen abspielen.

Immer mehr Unternehmen siedeln ihre Kommunikations­abteilungen in Corporate Newsrooms an. Sie ­sprechen viel von den ­redaktionellen und organisatorischen Anforderungen an das Story­telling. Braucht man dafür die offene Arbeitsatmosphäre ­einer Redaktion?

Ja, die ist unbedingt notwendig. Natürlich kann es einen Newsroom, wie ihn auch Siemens hat, nicht für Unternehmen jeder Größe geben, wobei sich ein Großraum für Kommunikatoren immer besser eignet als Einzel­büros. Es geht aber viel mehr um die Einstellung. Die Mitarbeiter der Kommunikationsabteilung müssen sich gemeinsam auf die Suche nach Geschichten machen, und dafür benötigen sie Austauschformate wie tägliche Redaktionssitzungen, Themenplanungen et cetera, die Menschen unterschiedlichster Abteilungen zusammenbringen. Und Unternehmen brauchen neue Positionen innerhalb der Kommunikationsabteilungen. Nicht der Marketing- und der Pressechef sollten die jeweiligen Geschichten verantworten, man muss hier von den Rollen in klassischen Redaktionen lernen: Es braucht einen Chefredakteur, der sagt, wo es langgeht; einen Chef vom Dienst, der den übergreifenden Blick auf das Geschehen hat; Ressortleiter, die Themen kanal- und zielgruppenübergreifend verantworten – und Redakteure, die die Geschichten produzieren.

Und hier kommt dann der Architekt ins Spiel?

Ja, genau. Die Positionsbezeichnung ist nebensächlich, aber man braucht jemanden, der das ganze Haus im Blick hat. Jemanden, der die Statik überprüft, während die einzelnen Mitarbeiter an verschiedenen Säulen und Wänden arbeiten. Das scheint banal, ist aber längst nicht überall gegeben. Gerade im Hinblick auf den Anspruch, Geschichten erzählen zu wollen, brauchen wir in der Unternehmenskommunikation erwähnte neue Rollen – bei denen der Corporate Story Architect so etwas wie eine Mischung aus Chefredakteur und CvD ist. In einer Unternehmenswelt, die sich anhand von Themen und Geschichten ­organisiert, und nicht nach Kanälen und Zielgruppen.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Storytelling – Marken machen ohne Märchen. Das Heft können Sie hier bestellen.

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