Warum Wissenschaftsorganisationen mit „Bild“ talken

Journalismus

Am 11. Januar veröffentlichte Axel Springer eine Pressemitteilung: „Neue BILD Veranstaltungsreihe ‚Hinter den Schlagzeilen – Mit BILD im Gespräch‘“ lautet die Überschrift. Man wolle stärker mit Kritikern und Fans ins Gespräch kommen. Einen Talk als Auftaktveranstaltung kündigte der Verlag ebenfalls an: für den 28. Januar. Diese Gesprächsrunde veranstaltet „Bild“ nicht allein. Die Helmholtz-Gemeinschaft, die Hochschulrektorenkonferenz und die Max-Planck-Gesellschaft wollen gemeinsam mit dem Boulevardmedium über das „Verhältnis und Selbstverständnis von Wissenschaft und Journalismus in der Pandemie“ diskutieren.

Mit dabei sind neben dem Helmholtz-Präsidenten Prof. Otmar D. Wiestler, dem Internisten Prof. Michael Hallek von der Uniklinik Köln und „Bild“-Chefredakteur Johannes Boie auch Dr. Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation sowie Prof. Michael Meyer-Hermann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung. Das Boulevardmedium hatte die beiden Physiker Anfang Dezember in einem Artikel als „Lockdown-Macher“ bloßgestellt.

In der offiziellen Einladung von Axel Springer heißt es, dass „‚Bild‘ immer wieder für seine zugespitzte Berichterstattung kritisiert worden“ sei – „auch von wissenschaftlicher Seite“. Das ist euphemistisch formuliert. Nach Erscheinen des Beitrags „Die Lockdown-Macher“ hatte es einen Aufschrei weit über wissenschaftliche Kreise hinaus gegeben, wie ihn wohl selbst die gerne mit Empörungstriggern spielende „Bild“-Redaktion nicht erwartet hätte. Das Szenario erinnerte an den Mai 2020, als die Redaktion dem Virologen Christian Drosten fragwürdige Methoden bei einer Studie nachzuweisen versuchte und den Charité-Professor hart anging. Der Artikel über Drosten wirkt bis heute nach. „Bild“-Kritikern dient der Text als vermeintlicher Beleg dafür, dass die Redaktion wissenschaftliche Erkenntnisse negiert.

Im Artikel über „Die Lockdown-Macher“ hatte „Bild“ die Physiker Michael Meyer-Hermann, Viola Priesemann und Dirk Brockmann für Verschärfungen bei den Corona-Maßnahmen verantwortlich gemacht. In der Print-Ausgabe war es besonders hart: „Experten-Trio schenkt uns Frust zum Fest“, hieß es dort. Dazu gab es große Fotos der drei Genannten. Den Aufhänger für diese Berichterstattung hatte unbewusst der heutige Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach in der ZDF-Sendung von Maybrit Illner geliefert. Der SPD-Politiker hatte dort hervorgehoben, wie die drei Modellierer mit ihm gemeinsam die Maßnahmenverschärfungen entwickelt hatten. Als „diffamierend“ verurteilte die Allianz der Wissenschaftsorganisationen den erschienenen „Bild“-Beitrag in einem Statement.

Gespräch mit Mathias Döpfner

Warum jetzt dieser Talk? Von wem ging die Initiative aus?

Die Präsidenten der Helmholtz-Gemeinschaft, die Hochschulrektorenkonferenz und die Max-Planck-Gesellschaft hatten im Anschluss an den „Lockdown Macher“-Artikel und das Statement der Allianz das Gespräch mit „Bild“-Chefredaktion und Axel-Springer-CEO Mathias Döpfner gesucht. Die Wissenschaftsorganisationen machten sich Sorgen um die Sicherheit ihrer Angestellten, wenn diese derart prominent für politischen Entscheidungen verantwortlich gemacht werden.

„Im Ergebnis wurde vereinbart, in einer gemeinsam ausgetragenen öffentlichen Gesprächsveranstaltung über die Rolle und Verantwortung des Boulevardjournalismus in Zeiten der Pandemie zu diskutieren“, sagt Christina Beck, Leiterin der Abteilung Kommunikation bei der Max-Planck-Gesellschaft. „Ziel ist es, nicht nur übereinander, sondern auch miteinander zu sprechen.“ Als Rahmen für den Talk wurde die sowieso geplante Reihe „Hinter den Schlagzeilen“ ausgemacht.

Wie bewertet Christina Beck den „Lockdown-Macher“-Text? „Mit dem Artikel werden Wissenschaftler*innen zu Unrecht an den Pranger gestellt. Denn sie treffen keine politischen Entscheidungen, sondern versuchen lediglich, die Politik mit wissenschaftlichen Daten bei ihrer Entscheidung zu unterstützen.“ Die Berichterstattung von „Bild“ während der Corona-Pandemie bezeichnet sie als „ambivalent“. Sara Arnsteiner, Head of Communications bei der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren, äußert sich ähnlich. „Mit dem Artikel ‚Die Lockdown-Macher‘ hat ‚Bild‘ ihre im vergangenen Jahr begonnene, einseitige Berichterstattung fortgesetzt“, sagt sie, um etwas Positives hinzuzufügen. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass ‚Bild‘ auch kritische und korrekt recherchierte Wissensberichterstattung betreibt.“

„Die Lockdown-Macher“ findet Arnsteiner „faktisch unwahr, diffamierend und nicht zuletzt bedrohlich“. Wissenschaftliche Aussagen würden aus dem Kontext gerissen und bewusst polarisierend dargestellt. „Durch diese Art der Berichterstattung entsteht ein Meinungsklima, in dem Forscherinnen und Forscher physisch oder psychisch bedroht werden. Der Bericht ist nicht zuletzt ein Verstoß gegen den Pressekodex.“ Der Deutsche Presserat hat aufgrund des Beitrags ein Beschwerdeverfahren gegen „Bild“ eingeleitet. 94 Beschwerden hat es bis Mitte Dezember gegeben.

Die Gesprächsrunde am 28. Januar ist als Hybrid-Format geplant. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer treffen sich persönlich im Springer-Verlagsgebäude. Die Zuschauer können das Ganze digital verfolgen. Wo die Diskussion übertragen wird, ist noch nicht klar. Im TV-Sender „Bild live“ werde sie nicht laufen, sagt ein Axel-Springer-Sprecher. Eine Option sei Youtube.

Denkbar ist, dass die Diskussion nicht nur auf dem „Bild“-Kanal, sondern auch parallel auf den Kanälen der drei Wissenschaftsorganisationen gezeigt wird. Helmholtz-Kommunikationschefin Sara Arnsteiner erwartet nicht, „dass ein Podiumsgespräch die Macher von ‚Bild‘ ihr Geschäftsmodell überdenken lässt“. Es gilt offenbar die Devise, dass man sich das Boulevardblatt zwar wegwünschen könne, es aber nun einmal existiert und in der Corona-Debatte eine wichtige Rolle spielt. Besser sich arrangieren. Reden.

Zuspitzung, Verkürzung und Personalisierung sind nicht mehr ausschließlich das Metier des Boulevards. Insbesondere der „Spiegel“ hat sich hier während der Corona-Zeit Expertise angeeignet. Das aktuelle Heft-Cover zur Impfpflicht in James-Bond-Optik zeigt Gesundheitsminister Lauterbach mit Spritze bewaffnet durch den Lauf einer Pistole. Hierfür feierte sich das Magazin mit einer Auswahl an Titelzeilen, die man nicht gedruckt habe, selbst. So stolz! So kreativ! Der Versuch von zwei „Spiegel“-Redakteurinnen, die Virologen Jonas Schmidt-Chanasit und Hendrik Streeck mit dem Satz zu diskreditieren, „einen größeren Schaden als ­Corona-Leugner“ angerichtet zu haben, war ein weiterer Tiefpunkt der Corona-Berichterstattung. Auch darüber könnte man mal talken.

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