Wer ist mutig? Helden sind mutig, antworten wir reflexhaft. Der Held, von seinem Publikum glorifiziert, in seinem Auftreten makellos, erhaben wie Achilles und stark wie Superman. Ein Ideal, das per se unerreichbar ist. Und gegen das wir eigentlich rebellieren – wie Literatur und Film durch unzählige Antihelden immer wieder beweisen. Wir rebellieren gegen diese Perfektion. Sind uns doch die Gefühlswelten von Goethes Werther oder Nick Hornbys Rob Fleming um so Vieles näher als unerschütterlich glatte Figuren. Der Antiheld, ein Typus, dessen Schwächen uns beruhigen. Und doch lieben die Menschen ihre Superhelden. Marketing und PR storytellen in einem fort die Heldenreise, die Medien stilisieren die Mutigen der Gegenwart zu Siegern. Doch was verlangen wir genau, wenn wir uns mutige Mitbürger, mutige Politiker, mutige Medien und mutige Kommunikatoren wünschen?
Für Aristoteles war Mut etwas für Männer. Das griechische andreía bezieht sich auf die tapferen Krieger und heißt übersetzt Männlichkeit, Machismo. Heute darf jeder mutig sein. In unserer postheroischen Gesellschaft braucht es längst keine furchtlosen Kämpfer mehr. „Wir haben ein Recht auf Feigheit“, konstatierte der Historiker Herfried Münkler kürzlich in der „Süddeutschen Zeitung“. Früher erwartete der Staat von den männlichen Bürgern die Bereitschaft zum Selbstopfer, heute sei die „Zumutung des Heroischen“ auf professionelle Gruppen und Freiwillige beschränkt. Und diese Berufsmutigen handeln anders mutig als beispielsweise der zivilcouragierte Einzelne. Feuerwehrmänner, Polizisten oder Soldaten beweisen ihren Mut innerhalb einer Gruppe und haben klare Vorgaben, sie leben mit kalkuliertem Risiko, schreibt Carsten Jasner in „Mut proben!“. Für den Rest der Gesellschaft ist die Entscheidung, mutig zu sein, eine, die allein getroffen wird. Und dafür müssen einige innere Hürden genommen werden.
Eine Bewegung der Seele
Mut ist eine lebendige Empfindung. Einst mittelhochdeutsch muot genannt, entfaltete sich die Bedeutung des Worts in zwei Richtungen – die Ostgermanen verstanden darunter Aufgeregtheit, Erbitterung, gar Zorn. Die Westgermanen hingegen verstanden es als einen Ort im Körper, in dem alles Fühlen, Begehren, Streben und Denken zusammenläuft. Mutiges Handeln entspringt einer Bewegung der Seele und stellt immer zwei Fragen, über die sich Philosophen, Soziologen und Psychologen seit jeher die Köpfe zerbrechen: die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens und die Verantwortung des Einzelnen im kollektiven Gefüge. Mut lässt sich also von außen (ziviler und sozialer Mut) und von innen (existenzieller Mut) bewerten. Eine Bewertung, die eine Aussage über uns selbst ist, denn was wir als mutig (also gut) oder feige (schlecht) kategorisieren, spiegelt unsere Werte wider. Für die verschlossene Auster Aldi ist es mutig, nach Jahren des öffentlichen Schweigens die Kommunikation auszubauen. Für andere ist es eine längst überfällige Selbstverständlichkeit. Die Perspektive entscheidet darüber, was mutig ist – und das Ziel unseres Handelns.
Was ist mit denjenigen, die mutig handeln, aber ihr Ziel nicht erreichen? Sie werden nie als Helden gefeiert. Mut ist cool, Scheitern nicht. Ist denn eine Handlung mutigen Ursprungs keine mutige, nur weil sie am Ende schieflief? Der Denkfehler-Experte Rolf Dobelli würde den Finger heben und „outcome bias“ rufen. Wir neigen dazu, nur auf die Ergebnisse zu schauen, aber den Prozess dahinter nicht zu beachten. Wir vergessen, den Weg zu würdigen. Wir vergessen auch oft, unseren eigenen Alltagsmut zu bemerken, den wir Tag für Tag aufbringen. Mut kann auch ohne Glorie auskommen und sollte bei Nichtleistung keinesfalls aberkannt werden. Er sollte etwas sein, das wir um unserer selbst willen tun und damit automatisch auch für unsere Mitmenschen.
Lassen Sie uns also für einige entspannte Gedanken das unerreichbar Heroische, den alles in Kauf nehmenden Wagemut in innere Haltung verkleinern. Mut kommt vom Herzen, dem Seismografen unseres Wollens und Fühlens. Hören wir genau hin, was es sagt? Oder trauen wir uns nicht, unseren inneren Stimme zu folgen? Nicht fremdbestimmt zu entscheiden, ist eine der persönlichsten Heldentaten. Die Frage ist also, was hält uns davon ab, unser eigener Held zu sein?
Die Koordinaten der Ängstlichkeit
„Was macht heroisch?“, fragte Friedrich Nietzsche 1882 die Welt und antwortete: „Zugleich seinem höchsten Leide und seiner höchsten Hoffnung entgegengehn.“ Dem Leid entgegenzugehen, sich ins Unbequeme vorzuwagen, etwas zu riskieren, Schmerzen in Kauf zu nehmen. All das erwartet uns, wenn wir etwas wagen. Und davor haben wir Angst, und unsere Angst schlägt zu, mit all ihrer Ambivalenz. Sie hat uns entweder fest im Griff, lässt uns verzagen. Sie kann uns jedoch auch abhalten, allzu leichtsinnig zu sein. Die Grenze zwischen Mut und Übermut ist filigran, und schnell wird ein Unerschrockener bei einer Mutprobe zum mutigen Irren oder ein Mitarbeiter im Innovationsdenken übermütig. Den wahrhaft Mutigen dient die Angst als Schutzfunktion.
Dass wir unsere Angst kontrollieren können, verdanken wir unserem Verstand. Er kanalisiert unseren Willen. „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, klingt uns der Aufklärer Immanuel Kant in den Ohren. Doch die Vernunft sollte uns nicht nur von anderen abgrenzen, sondern auch zu gegebener Zeit vom eigenen inneren Aufruhr emanzipieren. Ist die Angst nämlich größer als die realen Risiken, stört sie uns beim Entscheiden, beim Leben. Und was nutzen uns all unsere Ideale und Werte, wenn wir nicht den Mut haben, sie auszuleben? Es ist viel Gehorsam in uns, der uns feige werden lässt.
Fortschritt durch Ungehorsam
Freiheit beginnt damit, Nein zu sagen. Wie beherzt wir für uns selbst und andere einstehen, entscheiden zu großen Teilen Eltern und Umfeld. Mut ist erlernbar, genauso wie Kinder zur Hilflosigkeit erzogen werden können. Was wir brauchen, ist ein selbstbewahrendes Nein. Dies gehöre essenziell zu einer gesunden Aggression dazu, sagte der Professor für Pädagogische Psychologie Kurt Singer in einem Interview. Ein Nein, das auf eigener Einschätzung basiert. Für Singer war dies „eigenständiger, werterfüllter Gehorsam“. Kinder, die für Widerspruch nicht bestraft, also mit pädagogischem Takt erzogen werden, überprüfen Gehorsam. Sie entscheiden, ob das, was verlangt wird, ihrem Werteempfinden entspricht. Sie lernen, widerspruchsmutig zu sein. Ohne Ungehorsam kein Fortschritt. Körperliche und geistige Eigenbewegung, schrieb Kurt Singer in „Zivilcourage wagen: Wie man lernt, sich einzumischen“, seien ein äußerst wichtiges Element für zivilen Mut. Mut macht aus unseren Wünschen und Idealen erst wirklich erlebbare Möglichkeiten.
Folgen wir Nietzsche und gehen wir dem höchstmöglichen Leid entgegen, ist da noch die höchste Hoffnung. Hoffnung ist eine der fünf wichtigsten Komponenten für eine mutige Handlung, schreibt der Schweizer Psychotherapeut Andreas Dick in „Mut – über sich hinauswachsen“: Um mutig zu sein, wägt man den Gewinn der Handlung klug ab, hat die Hoffnung, dass dieser eintritt. Man geht freiwillig ein Risiko ein und pflegt, wie er es nennt, die Liebe zum Guten. Mut hat immer ein gutes Ziel, sonst könnte man all jene, die Risiken in Kauf nehmen – Bankräuber, Kriminelle, Mörder –, mutig nennen.
Mut ist also die Mitte zwischen Verzagtheit und Leichtsinn, ein Sitzen zwischen den Stühlen, zwischen Angst und persönlichem Ziel. Wenn wir mutig sind, vertreten wir unsere wahre Meinung. Wir sind ganz bei uns. Wir lassen uns nicht beherrschen. Wir sind ungehorsam. Wir sind selbstsicher. Wir sind glaubwürdig. Wir vertrauen.
Mut und PR
Was bedeutet das für die Kommunikation? Was ist mutige PR? Mutig zu sein, ganz bei sich zu sein, widerspricht dem Gefüge, in dem sich Kommunikatoren bewegen. Ihre Aufgabe ist es, Beziehungen zu managen; solche zur Öffentlichkeit, den Medien, Kunden und zu den Mitarbeitern. Sie müssen vermitteln und nivellieren, entemotionalisieren, schreibt PR-Experte Wolfgang Griepentrog in seinem Blog und nennt diesen Aufgabenbereich die „Komfortzone der PR“. Ihm zufolge findet mutige Kommunikation außerhalb dieser Zone statt. Keine leichte Aufgabe.
Kommunikatoren werden latent durch einen ihnen innewohnenden Zwiespalt beansprucht: den Widerspruch, eine eigene Meinung zu haben und gleichzeitig das Image des Unternehmens durch publikumswirksame Inszenierung zu gestalten. Dass der bewusste öffentliche Auftritt per se inszeniert ist, sei eine „anthropologische Konstante“, schreibt Medienprofessor Olaf Hoffjann in „Vertrauen in Public Relations“. Kein Wunder also, dass Glaubwürdigkeit die Achillesferse der PR ist. Und Kunden, User, Mitarbeiter – Hoffjann zufolge das „Theaterpublikum“ – werden immer kritischer. Ihr Vertrauen ist sensibel und sie brauchen Einblick ins Unternehmen, um es aufzubauen. Die vielbeschworene Transparenz ergibt sich durch eine sinnvolle Weitergabe von Details. Aber wie viel müssen die Stakeholder wissen, damit die Kommunikation als glaubwürdig eingestuft wird? Vertrauen in Unternehmen kann ähnlich kuriosen Charakter haben wie das Vertrauen in den Piloten, wenn wir in ein Flugzeug steigen. Wir trauen ihm zu, dass er uns sicher ans Ziel bringt, aber wollen auch nicht alles darüber wissen, wie das Flugzeug technisch funktioniert.
Vom Tennisspieler zum Basketballspieler
„You have a more important job now“, sagte Richard Edelman an einem kalten Montagmorgen im Januar und schaut in die kleine Runde der anwesenden Kommunikatoren. Er stellte das Edelman Trust Barometer vor: Am meisten vertraue der Deutsche auf Empfehlungen von Personen, die sind wie er selbst – also Freunden und Familienmitgliedern. In dieser komplexen digitalen Welt sind wir lokaler, als wir annehmen. Auf Unternehmen bezogen sei es also immer weniger der CEO, dem vertraut werde. Es seien die technischen Experten und die Mitarbeiter, die die öffentliche Diskussion dominierten. Es sei wie ein Wechsel vom Tennis- zum Basketballspieler, findet Richard Edelman ein passendes Bild. Kommunikatoren müssten in diesem Teamplay ihre Stakeholder durch die „trust door“ führen. Transparenz sei da nicht genug, man müsse – wenn nötig – das Geschäft und die Produkte ändern und mehr mit Nichtregierungsorganisationen zusammenarbeiten. Es sind große Aufgaben mit denen Richard Edelman seine Zuhörer zurücklässt.
Doch Mut muss nicht immer Handeln bedeuten. In Krisen beispielsweise können die souveränsten Entscheidungen die sein, die mit Abstand getroffen werden. Wir neigen jedoch dazu, sofort zu bewerten (Das ist das Ende!) und versuchen uns durch Aktionismus freizustrampeln. Still zu halten, sich zu besinnen, erst einmal Raum zum Nachdenken zu schaffen, hilft, die Krise zu kalkulieren. Dieses Verhalten ist kontraintuitiv. Unternehmensberater Alexander Verweyen rät in „Mut zahlt sich aus“, dieses action bias zu umgehen – und die Krise innerlich anzunehmen (So ist es jetzt.). Denn nur was wir als Tatsache begreifen und akzeptieren, können wir verändern.
Was ist Mut in der PR? Viele haben es bereits vorgemacht. Sei es die Forderung, die eigene Rolle in der Unternehmensführung zu stärken und Veränderungsprozesse anzustoßen. Oder zu behaupten, integrierte Kommunikation gebe es nicht, obwohl sie sich alle auf die Fahnen geschrieben haben. Mut ist auch, bei schlechten Nachrichten konkret und klar zu werden statt wolkig. Oder den eigenen Mitarbeitern einen Twitter-Zugang zu geben und sich in rotation curation zu versuchen, ausgediente PR-Planwirtschaft hinter sich zu lassen oder gar zu fragen, ob PR tot sei; dem Journalisten wichtige Zusammenhänge unter drei zu erklären, Interviews nicht tot zu redigieren, sich seines gesprochenen Wortes nicht zu schämen. Ich zu sagen statt wir.
All dies sind Stimmen, die den Diskurs über mutige PR gestalten. Es gibt dabei kein richtig oder falsch, es gibt nur die eigene Meinung, das aufmerksame Zuhören auf das, was einem der innere Ort des Fühlens und Strebens zu sagen hat. Friedemann Schulz von Thun würde sagen, wir sollten in unserer fiktiven inneren Ratsversammlung den Zweifler beruhigen und dem Mutigen das Wort erteilen. Mutig zu sein ist etwas Hochpersönliches. Es ist unsere Meinung, die wir aussprechen, und was wir sagen, sollte streitbar sein. Denn was nicht angreifbar ist, ist belanglos. Wenn wir uns Mut wünschen, wünschen wir uns eigentlich Ehrlichkeit. Und dazu sollten wir uns immer wieder selbst ermutigen und unsere inneren Ziele vertreten. So wie Fußballfans den Spielern „You’ll never walk alone“ entgegenschmettern. Es ist die Hoffnung, die sie antreibt. „Walk on! Walk on!“, singen sie. „With hope in your heart.” Und dann fragen wir, wie Nietzsche, was sagt mein Gewissen? Und es antwortet: Du sollst der werden, der du bist.
Dies ist ein Beitrag aus unserem 100. Heft. Hier können Sie einen Blick hinter die Kulissen der redaktionellen Arbeit werfen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Mut – Von couragierten Kommunikatoren und cleveren Kampagnen. Das Heft können Sie hier bestellen.