Können Sie schreiben? Aber klar. Und reden können Sie doch sicher auch? Wenn ich Berufskommunikatoren nach Stärken frage, kommen meist sehr allgemeine Antworten wie „Ich kann gut schreiben“. Kaum eine Berufsgruppe ist so ungeübt in der Kommunikation ihrer Stärken wie die Vertreter jener, die hauptberuflich mit Sprache zu tun haben. In einem Fragebogen, den ich vor Coachings zum Gedankeneinsammeln ausgebe, steht bei ihnen unter dem Punkt „Was sehe ich als meine Stärken an?“ deshalb nicht selten ein Fragezeichen.
Stärken nützen persönlich und beruflich
Dabei wäre es aus vielerlei Sicht sehr hilfreich zu wissen, was eigene Stärken sind. Es nützt im Vorstellungsgespräch, bei der alltäglichen Selbstdarstellung, beim Verkaufen von Angeboten und beim Überzeugen generell. Nebenbei dient es auch dem Selbstbild. Wer seine Stärken kennt, fühlt sich besser und kann sich leichter positiv präsentieren. Er hat auch eine bessere Basis, sich selbst zu verbessern.
Doch was sind Stärken? In einer Umfrage unter amerikanischen Studenten hielten sich über 90 Prozent für empathisch. Ähnlich sieht es aus mit gern genannten Begabungen wie Kommunikationsfähigkeit oder Organisationstalent: Jeder glaubt, sie zu besitzen. Doch was jeder hat, kann keine individuelle Stärke mehr sein. Meistens trifft die selbst identifizierte Stärke auch nicht wirklich zu. Ich stelle oft eine Art Stärkenfehlsichtigkeit fest: Wir sehen, was eigentlich gar nicht so spezifisch für uns ist, wie es etwas anderes wäre.
In meinem aktuellen Buch habe ich eine Relativitätstheorie der Stärken aufgestellt. Diese besagt:
1. Stärken müssen immer ins Verhältnis zu einer Vergleichsgruppe gesetzt werden.
2. Stärken sind nicht statisch, sondern entwickeln sich immer weiter.
Und zwar in zwei Richtungen: Zum einen werden Stärken in der Spitze stärker, meist durch Üben. Wenn Sie in zehn Jahren 3.000 Blogtexte geschrieben haben, dann werden sie im Blogschreiben geübt und schnell sein. Wenn sie Feedback und Resonanz einbeziehen wird Ihr Beitrag von heute auch viel besser sein als der von damals. Denn Sie haben vermutlich nicht nur die Stärke „Blogschreiben“, sondern auch ergänzende Stärken ausgebaut, etwa Dialogorientierung im Social Web. In meinem Buch spreche ich hier von Leitstärken und Begleitstärken.
Suchen Sie sich konkrete Vergleichsgößen
Wie komme ich denn nun meinen Stärken auf die Schliche? Suchen Sie sich zunächst konkrete Vergleichsgrößen. Stellen Sie sich einen Fischteich vor, in dem lauter Fische schwimmen, die ähnliche und noch besser entwickelte Stärken haben wie Sie selbst. Die mit den besonders starken Stärken sind die Superfische. Wenn Sie ein Foodblogger sind, dann sind die Superfische die, die noch erfolgreicher, besser, ausgefuchster sind als Sie. Fragen Sie sich, was die Superfische ausmacht, die Sie am meisten bewundern, weil sie ausgeprägte Stärken besitzen. Sie werden entdecken, dass es meist ein Bündel aus einzelnen Punkten ist. Ein Superfisch ist zum Beispiel supergut vernetzt, beherrscht die Kunst des Storytellings hervorragend oder nutzt eine supertreffende Bildwahl.
Schauen Sie bei der Suche nach Vergleichen nicht zu weit in die Ferne, sondern zu Menschen, die Ihnen ein kleines Stück voraus sind. Das hat psychologische Gründe: Wir entwickeln uns da, wo die Komfortzone aufhört, es aber noch keine unüberwindbaren Gräben gibt. Wenn Sie heute Ratgebertexte für Kosmetik schreiben, ist der intellektuelle brandeins-Autor Wolf Lotter nicht die richtige Vergleichsgröße. Haben Sie 28 Twitter-Follower, so orientierten sie sich nicht an Justin Bieber, sondern besser an jemand der in einem ähnlichen Feld tätig ist und ihnen in Sachen Followerpower etwa ein Jahr voraus.
Mit dieser Vergleichsgröße im Kopf definieren Sie nun auf einer Skala von eins bis zehn – in der zehn den Punkt verkörpert, den Ihr Superfisch schon erreicht hat – wo sie derzeit mit ihrer Stärke stehen. Beschreiben Sie dann konkret, was Sie können und verkörpern, wenn Sie selbst auf zehn stehen werden. Woran erkennen Sie, dass Sie den Höchstwert erreicht haben? Schreiben Sie es auf. Und dann machen Sie einen konkreten Entwicklungsplan. Reflektieren Sie Ihre Entwicklung am besten schriftlich. Viel Erfolg!