Ein Abend mit guten Kollegen, weinselige Stimmung, ein Gespräch über den nächsten Urlaub oder das neue Auto, ein paar Witze über vorhandene oder nicht vorhandene finanzielle Ressourcen. Und dann diese eine Frage: „Was verdienst du denn eigentlich genau?“ Ein Räuspern, ein Schlucken, ein Abwägen.
Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie schon einmal in dieser Situation waren, hängt von verschiedenen Faktoren ab: Ihrem Alter, Ihrer Branche, der Diskretion Ihrer Kollegen und dem Vertrauensverhältnis zwischen Ihnen. Ob Sie die Frage als unangenehm empfinden, ist wiederum davon beeinflusst, ob Sie und der andere im Unternehmen in einer vergleichbaren Position tätig sind und eine ähnliche Ausbildung und Betriebszugehörigkeit haben. Sollten Sie sich beide dazu durchringen, Zahlen auf den Tisch zu legen, und sich diese Zahlen voneinander unterscheiden, führt dies bei einem von Ihnen zu Unzufriedenheit und vielleicht auch zu Neid. Frust und Demotivation bei der Arbeit brechen sich daraufhin Bahn, oder aber es kommt zu Beschwerden und Neuverhandlungen.
Wer bei der Münchener Digital-Beratung „Die Produktmacher“ arbeitet, muss über die Gehälter der Kollegen nicht spekulieren. Die 17 Mitarbeiter des Start-ups können einfach nachschauen, wer wie viel verdient, alle Löhne sind transparent. Dass man eine offene Lohnkultur pflegen möchte, stand 2012 für das Gründungsteam von vorneherein fest. Geschäftsführer Fabian Dill und Kamila Stanitzek sowie die beiden anderen Gesellschafter hatten teils schon zuvor in Führungspositionen gearbeitet. „Uns war bewusst, wie sehr Gehälter im Unternehmen auseinanderdriften, dass sie stark davon abhängen, wie gut der einzelne Mitarbeiter verhandelt hat“, erklärt Dill. Wer mit einem niedrigen Gehalt einsteigt und dieses über die Jahre prozentual steigert, wird nie die Chance haben, Versäumnisse in der Einstiegsverhandlung wieder aufzuholen. „Wir möchten die Qualifikation und tägliche Arbeit unserer Mitarbeiter vergüten, nicht ihr Verhandlungsgeschick.“ Das Thema Gerechtigkeit stand an erster Stelle.
Im vergangenen Jahr sorgte Familienministerin Manuela Schwesig mit einem Referentenentwurf zum Thema transparente Gehälter für Aufsehen. Ihr ging es dabei vor allem um die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen. Auch hier krankt es häufig am zu wenig forschen Auftreten von Frauen in Gehaltsverhandlungen.
Die große Bescheidenheit
„Der große Vorteil einer transparenten Kultur ist, dass sich darin eine Wertschätzung gegenüber den Mitarbeitern ausdrückt“, sagt Dorothea Brunner. „Das wirkt sich positiv auf Zufriedenheit und Motivation aus.“ Die Arbeits- und Organisationspsychologin hat am Lehrstuhl für Human Resources Management der Universität Zürich zum Thema Lohnverteilung promoviert und war danach in einem Versicherungskonzern sowie einem Beratungsunternehmen mit der Praxis der Lohnthematik konfrontiert.
Dass das eigene Gehalt in Deutschland und der Schweiz ein Tabuthema ist, anders als beispielsweise in den USA, führt Brunner auf eine Kultur der Bescheidenheit zurück. Hinzu käme eine Angst vor Neid und Missgunst der anderen. Auf der persönlichen Ebene beginnt das Tabu sich langsam zu lösen: Heute vergleicht man sich über Online-Plattformen mit anderen, trägt den eigenen Lohn in Vergleichsrechner ein, informiert sich über Gehaltsstudien seiner Profession und tauscht sich darüber aus. Zum neuen Umgang mit dem Gehalt tragen auch staatliche Regelungen bei. „Die schärfere Regulierung der Manager-Gehälter war für die Debatte ein wichtiger Schritt“, sagt Brunner.
Am Anfang war die Struktur
In vielen Großkonzernen und bei Mittelständlern herrscht aber traditionell in puncto Gehälter noch wenig Transparenz. Taugt die neue Lässigkeit also nur für junge Start-ups? „Alle Gehälter auf der Personenebene offenzulegen, macht in einem großen Konzern keinen Sinn“, findet Brunner. „Durchaus sinnvoll ist es aber auch dort, die Zusammensetzung des Lohns und für das Grundgehalt definierte Lohnstufen für alle transparent zu machen. So kann jeder sehen, wie sich das eigene Gehalt herleitet.“
Das setzt natürlich voraus, dass eine klare Struktur vorhanden ist. Selbst in großen Unternehmen ist das allerdings keine Selbstverständlichkeit, so die Erfahrung der Expertin. „Das Schlimmste, was man machen kann, ist, Gehälter unkommentiert und ohne Klarheit offenzulegen.“ Die große Herausforderung sei also, zuerst einmal intern aufzuräumen; erst danach kann das Unternehmen in die Kommunikation gehen. Aufgabe von HR und Management ist es, die zahlreichen Einzellösungen in eine Struktur aufzulösen. Statt Mitarbeiter einzustufen, müssen Funktionen klare Gehaltsprofile zugeordnet bekommen. Brunner rät dazu, sich für diese Abstraktion Kompetenz von außen ins Unternehmen zu holen. Während bislang zu niedrig eingestufte Ausreißer sich über die Eingliederung freuen werden, muss bei den Ausreißern nach oben diplomatisch abgewogen werden, ob man tatsächlich den Schritt geht, ihnen das Gehalt zu kürzen.
Fünf Level, sieben Dimensionen
„Uns geht es nicht so sehr darum, dass jeder weiß, was der andere verdient, viel wichtiger ist, dass es für alle nachvollziehbare objektive Kriterien gibt“, sagt Fabian Dill. Bei „Die Produktmacher“ gab es die klare Struktur von vorneherein. Es gibt fünf Gehaltslevel, die sich aus sieben Dimensionen speisen. Diese sind: 1. Fachkompetenz, 2. Kunden- und Nutzerorientierung, 3. Kommunikations- und Feedbackverhalten, 4. Performanceorientierung und Unternehmertum, 5. Integrität und Werte, 6. Sales, Hiring und Marketing und 7. Kreativität und Innovationswille. Für jede Stufe gibt es ein klares Anforderungsprofil. In der Dimension „Fachkompetenz“ werden die fünf Gehaltslevel beispielsweise wie folgt bestimmt: Der Mitarbeiter in L1 wird noch angeleitet, der in L2 arbeitet eigenständig auf einem Projekt, der in L3 ist in der Lage, mehrere Projekte zu betreuen, ab L4 ist er darüber hinaus Enabler für den eigenen Bereich und L5 beinhaltet schließlich den Gesamtblick auf Markt und Unternehmen.
Wenn sich sein Handeln von der persönlichen Ebene hin zur Weitung des Blicks auf die Unternehmensebene entwickelt, steigt der Mitarbeiter also proportional im Gehalt. In diesem Sinne sind Dill zu Folge alle Dimensionen objektiv messbar. Dennoch gibt es schwierige Fälle, beispielsweise „Integrität und Werte“. Hier besteht ein Kriterium darin, ob der Mitarbeiter darauf aufmerksam macht, wenn Unternehmenswerte nicht eingehalten werden.
Eine offene Kommunikation gehört ebenfalls zu den Grundvoraussetzungen für transparente Gehälter. Ein- bis zweimal im Jahr bespricht der Mitarbeiter mit der Geschäftsführung in Feedbackgesprächen, wo er gerade steht.
Festgelegt werden die Gehälter vom Gründungsteam des Start-ups. Einmal jährlich werden sie insgesamt angehoben, die Gewinnbeteiligung ist für alle gleich. Geldwerte Vorteile, wie etwa Firmenwagen oder einen höheren Urlaubsanspruch, gibt es bei „Die Produktmacher“ nicht.
Ein Gehaltsmodell, wie es die Hamburger Agentur Elbdudler pflegt, käme für „Die Produktmacher“ nicht in Frage. Dort geht jeder Mitarbeiter mit einem Wunschgehalt ins Rennen, das dann im Kollegium diskutiert und ausgehandelt wird. „Wir haben uns bewusst für ein Modell entschieden, das sich auf die feste Herleitung der Gehälter fokussiert“, sagt Dill. „Zu uns kommen Menschen, die Abwechslung wollen, die bereit sind, sich stetig weiterzuentwickeln. Das unterstützen wir.“
Verbirgt sich hinter dem transparenten Gehaltsstufenmodell von Unternehmerseite das Kalkül, Ehrgeiz und Leistung der Mitarbeiter zu steigern? Schließlich suggeriert ein solches, jeder habe seine Gehaltserhöhung selbst in der Hand. Arbeitspsychologin Brunner pflichtet dem bei: „Ja, das ist auch eine Chance. So hat der Mitarbeiter keine latente Unzufriedenheit, sondern weiß, wie er sich selbst steigern kann.“ Zwar ist die eigene Einstufung nicht immer unmittelbar beeinflussbar, beispielsweise, wenn der Kollege eine höherwertige Ausbildung hat als man selbst. Aber: „Wenn ich mich an klaren Kriterien orientieren kann, kann das die Motivation und die Leistung durchaus steigern.“
„Die Produktmacher“-Geschäftsführer Fabian Dill rückt diesen Aspekt in den Hintergrund. Dennoch gibt er zu: „Wenn wir Freitagnachmittag sagen, dass Feierabend ist, bleiben die meisten noch eine Weile sitzen. Weil ihnen die Arbeit Spaß macht – nicht um das nächste Level zu erreichen.“ Ohnehin ließen sich die meisten Dimensionen nicht durch reinen Fleiß steigern.
Im Kampf gegen den Neid
Was sind die wichtigsten Voraussetzungen für ein solches Modell? „Auf jeden Fall Transparenz in allen Bereichen, die Mitarbeiter sollten auf alle wichtigen Unternehmenszahlen zugreifen können“, sagt Dill. „Bei uns geht das noch ein Stück weiter, wir haben das Geschäftsjahr 2016 tatsächlich mit allen Mitarbeitern geplant.“ Jeder habe zu Protokoll gegeben, was er sich für das Jahr vornimmt und zum Gewinn beitragen möchte. „Es wäre seltsam, wenn die Gehälter transparent wären, die Gewinne aber nicht.“
Problematisch wird die Gehaltstransparenz möglicherweise dann, wenn Unternehmen wachsen und sich auf verschiedene Standorte verteilen. Wenn der eine Mitarbeiter in der Kleinstadt sitzt und der andere in selber Position in München, ist es mit der Orientierung an Leistungsdimensionen in der Bezahlung allein nicht mehr getan.
Im direkten Vergleich der Gehälter werden unterschiedliche Lebenshaltungskosten aber oft nicht berücksichtigt. Auch auf den Betrag auf der Brutto-Netto-Abrechnung kommt
es dem Einzelnen nicht so sehr an. Man möchte wissen, was andere Pressesprecher, Ingenieure oder ITler in vergleichbaren Unternehmen verdienen. Organisationspsychologin Brunner bestätigt das. „Für uns zählt der relative Lohn mehr als der absolute, die Zahl spielt eine deutlich kleinere Rolle als der Vergleich.“ Wenn eine Unfairness festgestellt wird, führt das natürlich zu Neid. „Auch hier muss man kommunizieren, warum es ein Gefälle gibt. Warum der Kollege in der teuren Großstadt mehr verdient als der auf dem Land zum Beispiel. Dass es immer jemanden gibt, der unzufrieden ist, wird man nicht vermeiden können – Lohn ist und bleibt ein heikles Thema.“
Neid oder eine verschärfte Konkurrenz unter den Kollegen beobachtet Start-up-Chef Dill nicht, lediglich Vergleiche. Da die Gründe einer Beförderung für alle offensichtlich sind, muss hier nicht gemunkelt werden, ob sich der andere nicht vielleicht einfach besser mit dem Chef versteht. „Die Kollegen freuen sich bei uns eher, wenn jemand eine Stufe höher steigt.“
Eine Frage des Alters
Dass sich ein Bewerber durch den offenen Umgang mit Gehältern vor den Kopf gestoßen fühlte, hat Dill noch nie erlebt. Einziger Wermutstropfen: Verlangt jemand im Vorstellungsgespräch ein höheres Gehalt als vorgesehen, kann nicht gepokert werden. „In so einem Fall müssen wir ihm leider eine Absage erteilen, auch wenn uns das manchmal schwerfällt.“ Sonst müsste man schließlich das Gehalt für die gesamte Stufe anheben – und das kann schnell teuer werden.
„Die Produktmacher“ bewegen sich in einer jungen Branche, der älteste Mitarbeiter ist Anfang 40. Dills Resümee: „Insgesamt habe ich den Eindruck, dass die Gehaltstransparenz mit der vielbeschworenen Generation Y eine Zukunft hat. Dass dem Mitarbeiter nichts verheimlicht wird, hat auch mit Respekt zu tun.“ Und auf eine solche Behandlung käme es im Hinblick auf das Employer Branding den heiß umkämpften Knowledge Workern besonders an. Fabian Dill empfiehlt das Modell branchenunabhängig allen kleineren Unternehmen. Auch Dorothea Brunner ist davon überzeugt, dass der offene Umgang mit dem eigenen Verdienst eine Altersfrage ist. Ängste und Widerstände gegen Transparenz in diesem Bereich kämen meist von älteren Kollegen.
Ein neues Gehaltsmodell im Unternehmen etablieren kann nur die Geschäftsführung in Zusammenarbeit mit der Personalabteilung. Doch auch die Interne Kommunikation hat eine wichtige Rolle, wenn es in einem zweiten Schritt darum geht, Transparenz herzustellen. „Dazu sollte sie von Anfang an in das Thema eingeweiht sein“, findet Brunner. Für ein so sensibles Thema braucht es Kommunikationsprofis. Gehaltsstufen und persönliche Gehälter sind kein Thema für das Schwarze Brett. Und ganz sicher auch keines, über das ein Unternehmen seine Mitarbeiter am Kneipenabend mit den Kollegen diskutieren lassen sollte.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Geld – was wirklich zählt. Das Heft können Sie hier bestellen.