Wer sich über „TheGame Group“ – kurz THE GAME – informieren möchte, wird auf der Website wenig schlauer. Besucher sehen dort Ende April eine recht leere, aber dafür umso wilder blinkende Seite, auf der zehn freie Stellen ausgeschrieben sind. Als 2D oder 3D Artist kann man einsteigen. Oder als Brand Strategist, Consultant und Art Director. In der Einleitung der Job-Sektion findet sich eine Beschreibung, was THE GAME eigentlich ist: eine „Supradisciplinary Creative Agency“. Eine „Customized Agency for BMW with Start-up Character“.
THE GAME ist das aktuell wohl ambitionierteste Agenturprojekt im deutschsprachigen Raum. Die offiziell zum 1. April 2021 gegründete Agentur ist mindestens drei Jahre lang ausschließlich für die BMW Group tätig. Danach kann sie vom dritten bis fünften Jahr weitere Kunden außerhalb des Automotive-Bereichs akquirieren. Nach dem fünften Jahr wird Bilanz gezogen.
Das Modell ist customized – also maßgeschneidert – für die Bedürfnisse des Münchner Automobilkonzerns. Inzwischen arbeiten fast 150 Angestellte für die Agentur. Sie soll entscheidend dazu beitragen, für Unternehmens- und Markenkommunikation sowie Marketing einen konsistenten Auftritt mit einheitlichen Botschaften zu entwickeln, der über alle Kanäle hinweg die öffentliche Wahrnehmung des Premiumherstellers prägt.
„Freude am Fahren“ – der bekannte BMW-Claim wird heute nicht nur über Top-Speed zum Leben erweckt. Autofahrer erwarten von eher hochpreisigen Autos innovative technische und digitale Devices. Es braucht ein Erlebnis. Faszination. Die Kommunikation muss hier technologisch mithalten und die Begeisterung vor allem im virtuellen Raum verstärken. BMW investiert deshalb mit THE GAME vor allem in digitale Plattformen, Audio und Bewegtbild.
Mögliches Vorbild für andere
Hinter der Idee, eine Customized Agency aufzubauen, steht bei der BMW Group eine seit Jahren laufende strategische Neuausrichtung in der Außendarstellung. Das Unternehmen reißt die in vielen Köpfen immer noch bestehende Grenze zwischen Unternehmenskommunikation und Marketing ein. Für Organisationen, deren Marken sich über den Erlebnis- und Imagefaktor und über Emotionen verkaufen, lassen sich Marketing und PR sowieso nicht mehr trennen. Andere Unternehmen dürften sich deshalb genau anschauen, wie die Zusammenarbeit zwischen Agentur und Konzern läuft und wie kreativ der Output ist.
„Wir erleben eine Renaissance der Öffentlichkeitsarbeit“, sagt Alexander Bilgeri, der in der BMW Group die Kommunikation für Strategie, Services, Media House und die Marktkommunikation für Europa und China leitet. Natürlich werde man weiter Journalisten als wichtige Zielgruppe bedienen, aber die eigenen Kanäle würden für Kunden und andere Stakeholder immer wichtiger.
Für Bilgeri ist jeder Medienkonsumierende ein Hybrid. Was er damit meint? Jeder einzelne ist Sender und Empfänger zugleich sowie Teil mehrerer Zielgruppen. Ein einzelner gehört zur breiten Öffentlichkeit, ist aber gleichzeitig vielleicht Shareholder, Mitarbeiter, Interessent oder Kunde. „Alle erwarten ein stringentes und stimmiges Bild – egal über welchen Kommunikationskanal etwas konsumiert wird. Die Aussagen vom Marketing und die aus der Kommunikation müssen sich gegenseitig unterstützen und nicht gegeneinanderstehen.“ Offenbar hat die BMW Group hier für sich in der Vergangenheit Defizite ausgemacht und war mit der übergreifenden und koordinierten Zusammenarbeit intern sowie der einzelnen Agenturen miteinander und mit deren Ergebnissen nicht immer glücklich.
Als Lösung hat die BMW Group für sich gemeinsam mit den BMW-Markenverantwortlichen das Modell „alles aus einer Hand“ definiert. Der Anspruch: eine Agentur zu finden, die sowohl Marketing, Kreation, Inhalte, Social Media, Event-Erlebnisse und klassische PR abdeckt. Und zu BMW passt. „Die haben wir für uns so in Deutschland nicht gefunden“, erklärt Bilgeri.
Die BMW Group ist dann auf unterschiedliche Agenturen zugegangen. Darunter Jung von Matt, die Agentur Experience One und die Looping Group. Die Frage: „Wollt und könnt ihr für uns eine Customized Agency bauen, die Marketing für BMW und Unternehmenskommunikation kann?“ Jung von Matt ist als Werbeagentur eine naheliegende Wahl. Experience One, die heute Going Beyond GmbH heißt, soll alles rund um Events und Kundenerlebnisse abdecken. Die Looping Group steht für PR-, Social- und Content-Kompetenz und verbindet Storytelling mit Data. Die vom ehemaligen „Stern“-Chefredakteur Dominik Wichmann mit drei Co-Foundern gegründete Agentur verfügt unter anderem aufgrund der Zusammenarbeit mit Mercedes-Benz über Erfahrung mit Automobilkunden. Für BMW ist die Agentur neben den Kolleginnen und Kollegen in München, Berlin und Hamburg auch am Londoner Standort tätig.
Außerhalb klassischer Kategorien denken
Warum wurde BMW nicht bei den bereits existierenden Agenturen fündig? Kompetenz in integrierter Kommunikation, Marketing und Werbung reklamieren auch Serviceplan, Fischer-Appelt, Scholz & Friends und andere für sich.
„Agenturen kommen alle immer aus einer Richtung“, sagt Bilgeri. „Mal aus der PR, mal aus der klassischen Werbung oder aus dem Marketing.“ Genau von diesem Denken in Kategorien will sich BMW lösen. Der Konzern wünscht sich von seinem Agenturpartner maximale Offenheit und ein Denken außerhalb der gelernten Kommunikationsmuster. Die Bereitschaft, losgelöst von bestehenden Kommunikationskanälen und Präferenzen zu konzipieren und allein die ganzheitliche Aufbereitung und Vermittlung eines Themas in den Mittelpunkt zu stellen. Erfahrung von außerhalb der Automobilbranche ist ausdrücklich erwünscht. Inspiration sucht man deshalb auch bei Tech-, Mode-, Medien- und Umweltkonzernen.
„Wärmer, näher, direkter, überraschender, progressiver“ – mit diesen Adjektiven beschreibt Bilgeri die künftige BMW-Kommunikation. „Wenn Sie sich BMW vor fünf Jahren anschauen, dann war da viel Grau. Insbesondere die Group agierte sehr zurückgenommen. Jetzt wird es farbenfroher und dialogorientierter.“ Der Automobilkonzern will auch jüngere Zielgruppen erreichen und sich stärker mit Influencern und Bloggern vernetzen.
Wofür will die BMW Group überhaupt stehen? Bilgeri: „Die BMW Group will mehr sein, als dass wir nur Menschen von A nach B bewegen. Wir wollen auch das Herz bewegen, den Geist beflügeln und intellektuelle Stimulation liefern.“ Die von der Kommunikation entwickelten Themen sollen über Autos und Mobilität hinausgehen.
Bei The Game ist im Juni vergangenen Jahres Mark Niedzballa als CEO und Geschäftsführer eingestiegen. Die erste Findungsphase hat er von außen erlebt. Agenturräume gab es zu dem Zeitpunkt noch nicht. Man habe anfangs mit Handy und Laptop von der Parkbank gearbeitet, scherzt Niedzballa. Inzwischen hat THE GAME in München Büroräume angemietet – direkt am Englischen Garten.
Niedzballa kennt die Automobilbranche sehr gut. Mit seiner Vorgängeragentur Heye hat er für BMW in Deutschland gearbeitet. Vorher war er lange bei Daimler tätig. Das Interview absolviert er gemeinsam mit Stefan Mauerer, der für das Kundengeschäft bei der Looping Group zuständig ist und die Agentur Haeberlein & Mauerer (heute: Haebmau) mitgründete. Mauerer bringt vor allem Social-, PR- und Content-Expertise ein.
Orchestrieren, Produkte und Botschaften ganzheitlich betrachten und in Einklang bringen – so fasst Niedzballa den Auftrag von THE GAME zusammen. „In der alten Welt von BMW gab es diese eine übergreifende und orchestrierende Institution nicht, die wir mit THE GAME eingezogen haben.“ Die BMW Group und BMW wollen eine übergeordnete Geschichte erzählen, die über alle Kanäle konsistent wirkt.
Der Aufbau von THE GAME klingt recht klassisch. Es gibt eine Strategie- und Beratungsabteilung, dazu Teams für Campaigning, Social Media, Editorial, PR und Experiential, die kontinuierlich ausgebaut werden. „Wir können die Kommunikation aus diesen Ressorts heraus jetzt gemeinsam schmieden, bevor sie anfängt zu rollen“, so Niedzballa. Mauerer ergänzt, dass von der ersten Sekunde an Expertinnen und Experten aus den verschiedenen Bereichen an einen Tisch geholt werden können. In den Agenturräumen gibt es auch einen Coworking-Bereich, in dem BMW- und Agentur-Mitarbeiter arbeiten und sich austauschen können.
Wie fällt das erste Fazit aus? „BMW weiß natürlich, dass ein solches Konstrukt nicht am ersten Tag komplett steht. Es ist klar, dass wir mit dem Kunden Aufbauarbeit zu leisten haben“, sagt Niedzballa. Auf beiden Seiten gebe es enormes Vertrauen. Man hat sich gemeinsam auf eine Reise begeben. Stefan Mauerer sieht bei BMW eine große Veränderungsbereitschaft. „Das Modell muss intern gelebt und organisiert werden.“ Es ist ein kommunikativer Kulturwandel.
BMW-Kommunikator Bilgeri betont in seinem Fazit ebenfalls den Effekt nach innen. Es gebe mehr Austausch über Kommunikationsdisziplinen hinweg. Auch als gesetzt geltende Maßnahmen kämen auf den Prüfstand. „Was das Modell bereits gebracht hat, ist eine große Transparenz. Wir sehen, dass Menschen in anderen Abteilungen an denselben Themen arbeiten.“ Zugreifen auf die Agentur können die Abteilung Konzernkommunikation und Politik von Leiter Maximilian Schöberl, das zentrale Marketing und teilweise auch HR.
Content und Lifestyle
Extrem zufrieden zeigen sich BMW Group und THE GAME mit dem Auftritt auf der IAA Mobility, die im September 2021 in München stattfand und für BMW ein Heimspiel war. Für die Messe ließ der Autokonzern seine Firmenzentrale mit den vier zylinderförmigen Türmen mit einer gigantischen Lichtinstallation versehen. Der Premiumhersteller hatte unter dem Namen „Joytopia“ darüber hinaus eine virtuelle Welt à la Metaverse gebaut, die man mithilfe eines persönlichen Avatars erkunden konnte.
Die Welt zeigte eine Zukunft, wie sie sich BMW vorstellt. Inhaltlich hatte sich BMW auf die Vision einer Kreislaufwirtschaft und auf nachhaltige Mobilität fokussiert. „Joytopia“ vermittelte Einblicke in Technologie, Design, Nachhaltigkeit und Materialforschung. Durch die Welt führt Oscar-Preisträger Christoph Waltz. Zusätzlich gab es ein virtuelles Konzert von Coldplay. Die Band lieferte mit der Single „Higher Power“ den Soundtrack zur Kampagne für die Elektrofahrzeuge BMW iX und BMW i4.
Überhaupt scheint BMW ein Faible für Celebrities zu haben. Für Konsumenten sichtbar ist eine Content-Welt, die stark nach Lifestyle-Marke aussieht. Überall warten Erlebnisse. Mal erklärt der Filmkomponist Hans Zimmer, wie er Antriebsgeräusche für Elektrofahrzeuge kreiert. An anderer Stelle hat der Künstler Jeff Koons einen BMW M850i xDrive Gran Coupé gestaltet oder man kann sich auf eine mit einem speziellen Sound unterlegte nächtliche Fahrt durch London begeben. Mit „Changing Lanes“ gibt es eine Podcast-Reihe, in der beispielsweise einer der weltbesten Kitesurfer berichtet. Mit der Sängerin Doja Cat ging es im BMW auf das Coachella Festival. Es ist bunt, teilweise schrill. Alles sieht nach Zukunft aus. Supercool.
Nur: Ist es wirklich zielführend, solche Mengen an Content zu produzieren, der mit dem Kernprodukt „Auto“ lediglich noch am Rande etwas zu tun hat? Die Videos, Podcasts, digitalen Welten und der gesamte Content mögen high-end produziert sein. Was die BMW Group sein will und für wen die Autos genau die richtige Wahl sind, wird nur begrenzt klar. Bei den Geschichten über die Art Basel in Miami, über Südtirol, London, Kalifornien, München und aus einer „Metropole im Jahr 2063“ entsteht eher der Eindruck, als wäre das bevorzugte Fortbildungsmittel der Kunden nicht der 3er BMW, sondern ein Privatjet – oder gleich eine Rakete. Ein potenzieller Käufer könnte ein 50-jähriger Clubgänger sein.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe #Agenturen. Das Heft können Sie hier bestellen.