Lachen in Kiew

Ukraine

Bundesinnenministerin Nancy Faeser und ihr Kabinettskollege Hubertus Heil (beide SPD) aus dem Arbeitsressort besuchten die Ukraine. Sie hatten konkrete Anliegen. Bei Heil ging es unter anderem um Wirtschaftshilfe und die Situation der rund 900.000 registrierten Geflüchteten aus der Ukraine in Deutschland. Faesers Ministerium ist in die Unterstützung des Katastrophenschutzes in der Ukraine involviert. Deutsche Behörden leisten einen Beitrag zur Aufklärung von Kriegsverbrechen. Die Ministerin übergab zwei Sattelzüge und Stromgeneratoren. Es fanden zudem mehrere Treffen mit ukrainischen Politikern statt – unter anderem mit Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko.

Bei der Nachrichtenagentur dpa findet sich eine umfangreiche Fotostrecke, die Faeser und Heil bei der Anreise im Nachtzug, beim Besuch der völlig zerstörten Kleinstadt Irpin, bei Gesprächen mit ukrainischen Soldaten, Politikern und Mitarbeitern des Katastrophendienstes und vor ausgebranntem Kriegsgerät zeigen. Es sind Fotos, von denen einige auch die Ministeriumskanäle online verbreiteten.

Die meiste Aufmerksamkeit in der Twitter-Öffentlichkeit erhielten zwei Motive. Aufgenommen wurden sie der dpa-Bildbeschreibung zufolge „auf einem Balkon der Residenz der deutschen Botschafterin in der Ukraine“. Das eine Motiv twitterte ARD-Journalist Michael Stempfle. Es zeigt Faeser, Heil und Vitali Klitschko, wie sie gemeinsam mit Anka Feldhusen, der deutschen Botschafterin in der Ukraine, von einem Balkon aus auf die Stadt Kiew blicken. In der Hand halten sie Sektgläser. Das zweite Motiv, ebenfalls vom Balkon der Residenz (der Botschaft zufolge eine Etagenwohnung), zeigt, wie alle vier Personen auf dem Balkon lächeln oder lachen. Faeser und Feldhusen am herzhaftesten. Sie zeigen in Richtung des Fotografen. Irgendwas Lustiges muss passiert sein.

Schlechtes Bild

In der Ukraine finden insbesondere im Osten und Süden schwere Kämpfe statt. Jeden Tag sterben bei russischen Angriffen Frauen und Kinder. Menschen müssen fliehen. Auch wenn die Angriffe aktuell nicht direkt in Kiew stattfinden, heulen weiterhin die Sirenen. Verletzte werden behandelt. Menschen verlieren ihre Verwandten. Der Krieg ist auch in der ukrainischen Hauptstadt omnipräsent.

Das Foto einer Bundesministerin und eines Bundesministers, die in so einer Situation entspannt auf einem Balkon stehen, Alkohol trinken und lachen, erzeugt automatisch eine negative Wirkung. Es schadet den Ministern. Es wirkt wie Kriegstourismus. Wie Sightseeing in einem von schwerem Leid getroffenen Land, das man besucht, um empathisch und solidarisch zu erscheinen und als willkommenen Nebeneffekt mediale Berichterstattung zu produzieren. Im Interesse ihrer Minister hätten Heils und Faesers Presseteam dafür sorgen müssen, dass solche Fotos nicht entstehen, indem sie beispielweise die Minister für die Wirkung solcher Bilder sensibilisieren oder die Fotografen bitten, sich in dem recht privaten Rahmen in der Residenz auf bestimmte Fotomomente zu beschränken.

Zur Realität der Social-Media-Welt gehört, dass Fotos und Bewegtbilder von prominenten Politikern in für sie unvorteilhaften Situationen mit hoher Wahrscheinlichkeit von politischen Gegnern weiterverbreitet und aus dem Kontext gerissen werden. CDU-Generalsekretär Mario Czaja gehörte zu denjenigen, die die Vorlage der Balkonfotos nur allzu gerne nutzten. „Mit Champagner in der Hand einen Logenplatz ergattern (…)“ schrieb er auf Twitter, um die Wirkung der Fotos zu potenzieren und den Eindruck von Abgehobenheit der beiden SPD-Minister zu erwecken. Aus seiner Perspektive ist das verständlich: Vor wenigen Monaten waren es überwiegend SPD- und Grünen-Politiker, die CDU-Chef Friedrich Merz Inszenierung vorwarfen, als er nach Kiew fuhr. Mit Lachen in falschen Situationen kennt man sich in der CDU seit Armin Laschets Desaster im Ahrtal bestens aus. Man weiß also auch, welches Potenzial sowas bieten kann, um politische Mitbewerber anzugreifen. Der Kontext von Fotos oder Videos interessiert dann nicht. Eine solche Retourkutsche kann sich ein Generalsekretär nicht entgehen lassen.

Zum Hintergrund der Fotos gehört auch, dass Vitali Klitschko ebenfalls ein Getränk in der Hand hält und lächelt. Später kam noch sein Bruder Wladimir dazu. Weder bei Czaja noch in einem Tweet von Ex-„Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt kommt dieser Teil vor. Warum nicht? Hier würde das Narrativ von zwei SPD-Ministern, die Kriegstourismus betreiben und sich danebenbenehmen, indem sie lachen, nicht mehr passen. Man müsste ja auch Klitschko kritisieren.

Will wirklich irgendwer vom Sofa oder Schreibtisch aus definieren, wann der Bürgermeister von Kiew zu lachen und was er zu trinken hat? Was angemessen ist? Dass die beiden Klitschkos, die immer wieder selbst in die zerstörten Gebiete gefahren sind und teilweise mit eigenen Handys die menschlichen Schicksale dokumentierten, die Situation in der Ukraine trivialisieren, dürfte niemand ernsthaft behaupten. Treffen mit Politikern gehören zu ihrem Job. Beide Klitschkos wissen selbstverständlich, dass ihre Bekanntheit dabei hilft, die Welt weiterhin auf die Ukraine schauen zu lassen.

Hinzu kommt: In Kiew gibt es wieder so etwas wie einen Alltag. Normales Leben. Vitali Klitschko sprach bei RTL davon, dass „hier in Kiew die Sonne“ scheine, ein paar Kilometer weiter „eine richtige Schlacht“ tobe. Sein Bruder Wladimir betonte, dass man sich auch an so etwas wie einen Luftalarm gewöhne. Menschen würden wieder ausgehen und Festivals feiern. „Das Leben kann man nicht stoppen“, zitiert ihn RTL. Mit dieser Realität waren auch Faeser und Heil konfrontiert: den heftigen Eindrücken aus Irpin, wo niemand lachte, und dem sommerlichen Alltag aus Kiew.

Die Aufregung um Faesers Lachen lohnt also nicht. Eine andere Frage ist, ob man jeden Schritt einer solchen Reise inklusive Schlafwagen und heldenhafter Rückkehr im Flugzeug fotografieren lassen muss. Was soll das sonst sein außer Inszenierung?