Wie Daten zu Geschichten werden

Datenbasiertes Storytelling

„Summertime and the livin’ is easy“ George Gershwins berühmter Song aus „Porgy and Bess“ mag einem dieser Tage wieder in den Sinn kommen. Die Sonne scheint, die Tage sind lang, die Nächte lau – es gibt also einige Gründe, sich gut zu fühlen. Und offensichtlich spiegelt sich das auch in der Stimmung der Menschen wider. Wie sich das ermitteln lässt? Ganz einfach, man fragt die Menschen, welche Musik sie gerade hören. Ist die Musik eher fröhlich, lässt das auf gute Laune schließen, und umgekehrt gilt: Wer traurig ist, hört eher in Moll.

Der Streamingdienst Spotify hat einen Algorithmus entwickelt, der Lieder nach ihrer Stimmung beurteilt. Er reicht von 0 (sehr traurig) bis 100 (sehr glücklich). Aretha Franklins „Respect“ kommt hier auf 97 Punkte, „Creep“ von Radiohead auf zehn. Seit 2017 veröffentlicht Spotify die täglichen Ranglisten der 200 meistgehörten Songs. Natürlich stellt Spotify seinen Hörerinnen und Hörern keine Fragen. Das Unternehmen hat sich vielmehr in seinen Nutzungsbedingungen das Recht zusichern lassen, auswerten zu dürfen, wer an welchem Ort zu welcher Zeit auf welchem Gerät welchen Song hört. So lassen sich die Hörgewohnheiten von rund 300 Millionen Menschen abfragen – in Echtzeit.

Das Magazin „Economist“ hat die Daten von Spotify genutzt, um die Gemütslage der Welt zu erkunden. Beim Auswerten kommen die Journalisten in ihrer Kolumne „Graphic Detail“ zum Schluss, dass Menschen im Juli am glücklichsten und im Februar am unglücklichsten sind. Das trifft sogar auf Neuseeländer zu, obwohl sie am anderen Ende der Welt leben und bei ihnen im Juli Winter und im Februar Sommer ist. Mit gut aufbereiteten Daten lassen sich spannende Erkenntnisse gewinnen und Geschichten entwickeln, die zu journalistischen Themen werden.

Für ihre Recherchen mussten die „Economist“-Journalisten nicht einmal bei Spotify anfragen. Das Unternehmen stellt einen großen Teil seines riesigen Datenschatzes frei zur Verfügung. Für Entwickler hat der Streamingdienst ein Tool-Set geschaffen, über das sie Daten automatisiert abgreifen können. Das wird längst nicht nur vom „Economist“ genutzt. Viele Blogger und Journalisten greifen darauf zu, um über aktuelle Trends wie etwa die beliebtesten Songs des European Song Contest oder die spannendsten Entdeckungen der Indie-Szene zu berichten. Spotify verfolgt auch hier einen datenbasierten Ansatz. Die Anfragen über die Schnittstelle liefern ja nicht nur den Suchenden relevante Informationen. Sie erlauben dem Streamingdienst selbst, wichtige Rückschlüsse auf die Interessen seiner Nutzer zu ziehen. Und sie verhelfen ihm regelmäßig zu Erwähnungen in Musikmagazinen und darüber hinaus.

Was wir essen, verrät, wen wir wählen

Doch manche Fragestellungen lassen sich nicht allein aus den eigenen Datenbeständen beantworten. Dann kann eine kluge Kombination mit den Daten Dritter sinnvoll sein. So ist der US-Lieferdienst Grubhub gemeinsam mit dem „Time Magazin“ vorgegangen. In einem Beitrag ging es um die Frage, wie Ernährung und politische Einstellung zusammenhängen: Sage mir, was du isst, und ich sage dir, wen du wählst. Diese Korrelation zwischen kulinarischen Vorlieben und politischen Neigungen hat das US-Magazin analysiert. Auf der Basis der Daten des Lieferdienstes ließ sich das Bestellverhalten der Kunden analysieren. Diese Daten wurden dann mit dem Wahlverhalten in fast 200 Kongressbezirken in Beziehung gebracht. Von 175 beliebten Artikeln, die bei Grubhub bestellt wurden, wiesen 75 Prozent signifikante Korrelationen mit der Parteizugehörigkeit dieser Bezirke auf. Das Ergebnis: Wer in den USA Hamburger isst, wählt wahrscheinlich Republikaner. Wer zu Chicken Tikka Masala greift, zieht die Demokraten vor. Spielerisch konnten die Leser anhand von zehn Gerichten prüfen, ob ihre politischen Affinitäten mit ihren Ernährungsgewohnheiten übereinstimmen. Das Magazin erfuhr so nebenbei auch noch mehr über die kulinarischen und politischen Neigungen seiner Leser.

Journalisten haben gezeigt, wie sich mittels Daten Geschichten entwickeln lassen. Die Wikileaks-Enthüllungen 2010 waren zwar nicht die Geburtsstunde des Datenjournalismus, doch hier konnte er erstmals seine Relevanz eindrucksvoll unter Beweis stellen. Am 25. Juli 2010 veröffentlichte Wikileaks das Kriegstagebuch des Afghanistan-Krieges und stellte vorab ausgewählten Journalisten von „Guardian“, „Spiegel“ und „New York Times“ die kompletten Dokumente zur Verfügung. Niemals zuvor waren so große Datenmengen mit auch nur annähernd ähnlicher politischer Tragweite ans Licht gekommen. Und niemals zuvor war es gelungen, aus einer so großen Anzahl von Daten Geschichten zu destillieren. Angefeuert wurde der Datenjournalismus durch die wachsenden Möglichkeiten, Zugriff auf Daten zu erlangen. Inzwischen sind Datenjournalisten-Teams in den Redaktionen vom Bayerischen Rundfunk bis zur „Zeit“ etabliert. Entsprechende Kompetenzen und organisatorische Voraussetzungen für das Aufbereiten, Analysieren und Visualisieren von Daten sind vorhanden.

Drei Schritte zum datenbasierten Storytelling

Bei Unternehmen hingegen ist datenbasiertes Storytelling noch eine sehr junge Disziplin. Auch wenn es immer mehr Quellen gibt, auf die sie zurückgreifen können, werden diese selten für das Entwickeln von Storys genutzt. Dabei sind drei Dinge wichtig, um relevante Daten-Storys zu entwickeln:

  • Die Datenbasis schaffen: Auch wenn Unternehmen immer mehr Daten sammeln, liegen diese in der Regel in Silos vor. Die Daten werden in unterschiedlichen Systemen gesammelt, die von verschiedenen Einheiten betrieben werden. Ressourcen wie Kapital, Personal und Betriebsmittel werden etwa über ERP-Systeme gesteuert. Kundenrelevante Informationen liegen im CRM-System, Daten für den Online-Absatz im Shopsystem. Wichtige Erkenntnisse über Nutzerinteressen können zudem Website und Social-Media-Kanäle liefern. Je einfacher der Zugang zu den Daten auch für andere Abteilungen ist, desto besser lassen sie sich als Basis für neue Einsichten nutzen. Im Idealfall liegen sie in einem einheitlichen Business-Intelligence-System vor, das die unterschiedlichen Quellen integriert und allen Einheiten zugänglich macht.
  • Datenkompetenz aufbauen: Obwohl ihnen immer mehr Daten zur Verfügung stehen, fühlen sich viele Mitarbeiter überfordert, wenn es darum geht, Daten zu lesen, zu verstehen, zu hinterfragen und mit ihnen zu arbeiten. Für Kommunikationsverantwortliche war es lange Zeit nicht relevant, sich mit Daten zu beschäftigen. Das ändert sich für sie, da Daten eine wachsende Rolle für den Unternehmenserfolg spielen.
  • Datenkultur entwickeln: Daten verbrauchen sich nicht bei der Nutzung. Im Gegenteil: Sie gewinnen an Wert. Diese Erkenntnis machen sich erfolgreiche Unternehmen zunutze. Das bedeutet, dass sie Silos auflösen, Zusammenarbeit fördern und voneinander lernen. Nur so kann eine Datenkultur entstehen, die die Grundlage für die strategische Nutzung von Daten im Sinne der Unternehmensziele liefert. Sie etablieren gemeinsame und wiederholbare Methoden, Praktiken und Prozesse, um Daten unternehmensweit zu kontrollieren und zu verteilen.

Der Anfang: eine gute Frage

Doch wo anfangen? Bei der Vielzahl der möglichen Fragestellungen ist es sinnvoll, das Thema möglichst pragmatisch anzugehen. Wo gibt es spannende Fragestellungen, die für die Kunden des Unternehmens relevant sind? Wo gibt es dazu Datenquellen im Unternehmen? Und welche zusätzlichen Quellen braucht es, um daraus wertvolle Erkenntnisse zu gewinnen?

Datenprojekte werden schnell sehr komplex. Deshalb ist es gerade am Anfang wichtig, ein gemeinsames Verständnis über die Ziele und den Weg dahin zu schaffen. Oft hilft ein pragmatisches Vorgehen: eine gute Fragestellung entwickeln, Verbündete finden und relevante Quellen identifizieren. Und dann einen Piloten starten und Erfahrungen sammeln. So können sich Unternehmen dem Thema nähern, spannende Datenschätze heben und – die richtige Fragestellung vorausgesetzt – neue Geschichten finden, die Blogger und Journalisten aufgreifen und weitertragen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe #Berufsbild. Das Heft können Sie hier bestellen.