Erbarmungslos zählt der digitale Zünder die Zeit herunter. Tick, tick, tick … Großaufnahme: Schweißperlen auf dem Gesicht des Spezialagenten. Wieder einmal steht der Held vor der alles entscheidenden Frage: roter Draht oder blauer Draht? Nur noch wenige Sekunden bis zur Explosion. Er setzt die Zange an und entscheidet sich für … blau. Der Draht ist durchgeknipst, der Countdown stoppt. Die Bombe ist entschärft, dem Drehbuch sei Dank.
Schnitt. Das Büro des Pressesprechers eines Unternehmens. Auf dem Bildschirm vor ihm tobt ein digitaler Shitstorm. Jede Sekunde kommen erbarmungslos neue Postings, Kommentare, Likes herein. Tick, tick, tick … Heldenepos? Happy End? Auch hier ist alles drin – das eigene Drehbuch macht es möglich.
Der Shitstorm
Das digitale Schreckgespenst eines jeden Kommunikationsverantwortlichen gehorcht den Regeln des klassischen Skandals. Das bedeutet, dass sich der Shitstorm quasi explosionsartig ausbreitet, um danach – und das ist die gute Nachricht – ebenso schnell wieder völlig in sich zusammenzufallen.
In jeder Krise ist Zeit ein knappes Gut. Der Shitstorm jedoch ist sozusagen eine zusätzliche Nitroglycerin-Einspritzung. Sie treibt den Druck auf jeden Pressesprecher binnen kürzester Zeit in den roten Drehzahlbereich. Damit Sie als Unternehmenskommunikator nicht noch früher in sich zusammenfallen als der Shitstorm selbst, sind gute Nerven und gute Vorbereitung alles.
Und Action! Jede Krise hat ein Drehbuch
Jede Krise folgt einer Dramaturgie, einer Story, einem Drehbuch. Es geht darum, dass Sie als Kommunikationsverantwortlicher am Ende in der Lage sind, den roten oder den blauen Draht durchknipsen zu können, weil Sie wissen, dass Sie die Bombe auch unter extremem Zeitdruck in jedem Fall entschärfen. Das funktioniert aber nur, wenn Sie das Drehbuch kennen − und das wiederum kennen Sie deshalb, weil Sie an den wichtigen Stellen selbst an ihm mitgeschrieben haben.
Erster Akt: Das Setting – Personen, Handlungen, Regeln
Ihr Drehbuch ist im ersten Akt eine konkrete operative Anlaufhilfe für den Ernstfall. Besser bekannt als Krisenhandbuch. Innerhalb verschiedener denkbarer Szenarien werden Checklisten, Verhaltensanweisungen und Datensammlungen in verständlicher Form hinterlegt. Außerdem regelt das Handbuch Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten sowie die organisatorischen und technischen Rahmenbedingungen.
Entscheidend ist, dass Sie inmitten der Dramatik einer Krise immer schnell die richtigen Informationen parat haben: Was ist passiert? Was sind die genauen Gründe, weshalb es passiert ist? Wer ist verantwortlich dafür? Wer muss wann, wie und von wem informiert werden? Und natürlich: Wie lässt sich das Problem lösen?
Wer (noch) nichts weiß, sollte dies auch sagen. Halbgare Gerüchte, die sich hinterher möglicherweise als falsch erweisen, schaden Ihnen mehr, als sie nützen. Schützen Sie Ihre Glaubwürdigkeit. Sie sind die Informationsquelle Nummer eins! Das bedeutet, die Grundsituation und sachliche Anfragen werden klar und allgemeinverständlich erklärt. Sie werden beantwortet, ohne dass Sie selbst mit inhaltlich zwar richtigen, aber extrem interpretationswürdigen Antworten die Situation noch weiter befeuern.
Ein Beispiel: Auch wenn der Fachterminus für eine in einem dicht besiedelten Wohngebiet ausgetretene Chemikalie korrekt „mindergiftig“ lautet, lehnen sich daraufhin leider nur Experten und Chemiker entspannt auf ihren Stühlen zurück. Nichteingeweihten Anwohnern treibt das Wort den Angstschweiß auf die Stirn.
Zweiter Akt: Das Problem und konkrete Lösungen
Wichtige Inhalte und Fragen sollte man der googelnden Öffentlichkeit tiefgreifender auf einer sogenannten Darksite im Internet beantworten. Dabei handelt es sich um eine Webseite, die im Vorfeld erstellt wurde, und die im Ernstfall hochgeladen wird. Um sicherzugehen, dass diese Seite auch gefunden wird, empfiehlt es sich, die Webseite mit einer Adwords-, also einer Werbekampagne bei Google zu unterstützen. Damit ist praktisch gewährleistet, dass Ihre Seite zu den krisenrelevanten Suchbegriffen auch auf den oberen Suchmaschinenpositionen gelistet wird und Sie Ihre Anspruchsgruppen immer up to date halten.
Außerdem lassen sich die Ströme der Besucher so auf die eigenen Webseiten leiten, die man hinterher wahlweise löschen oder auf den Status „noindex“ setzen kann, damit Suchmaschinen die digitalen Relikte der Krise im Anschluss nicht mehr auflisten.
Merke: Es gibt im World Wide Web kein Recht auf Vergessen. Deshalb sollten Sie schon während der Krise langfristig planen und deren digitale Überbleibsel so gering und so kontrollierbar wie möglich halten.
Apropos Überbleibsel: Üble Beleidigungen bleiben üble Beleidigungen − auch in der Krise. Solche Überbleibsel sollten Sie umgehend und konsequent auf den eigenen Kanälen, wie zum Beispiel Facebook, löschen. Setzen Sie dies auch auf anderen Kanälen durch, wie Foren, Bewertungsplattformen und in den Kommentarlisten der Zeitungen. Ein entsprechendes Monitoring hilft dabei, schnell und automatisiert neue Inhalte samt Quelle und Verbreitung zu finden, bevor es Kunden, Partner oder Mitarbeiter tun.
Dritter Akt: Auflösung und Schluss
Krisen sind gerade in der heutigen Zeit permanenter digitaler Erregungszustände auch Kopfsache. Suchmaschinen arbeiten längst als kollektives Krisengedächtnis. Insbesondere die Headlines großer, medial stark befeuerter Krisen geben eine ideale Projektionsfläche für neue, gleiche oder auch nur scheinbar vergleichbare Krisen ab. Jeder Querverweis ist dank Wikipedia und Google nur einen Mausklick oder eine Suchanfrage weit entfernt.
So ist einerseits potenziell heute jede Person, jedes Unternehmen und jede Organisation jederzeit Gegenstand einer Krise. Aber andererseits wird sie auch genauso schnell wieder aus dem Fokus der digitalen Empörungsgesellschaft entlassen. Man muss die Regeln kennen und darf sich nicht am Nasenring durch die virtuelle Manege treiben lassen. Aggressive Nutzer, radikale Organisationen und Konkurrenzunternehmen provozieren und verstärken Krisen mit gefälschten Accounts, Social Bots – also Computerprogrammen, die sich im Netz für Menschen ausgeben − und dem gezielten Verbreiten von Gerüchten.
Deshalb ist es umso wichtiger, auf der digitalen Klaviatur mit eigenen Kanälen, neuen reichweitenstarken Medien, Videos und Informationsgrafiken zu spielen. Technisch gut vorbereitet, glaubwürdig, klar verständlich, schnell und unerschrocken – aber niemals unbedarft.
Wenn alle Mitwirkenden ihren Part kennen, ihre Einsätze nicht verpassen und Sie als Kommunikationsverantwortlicher wissen, wie Ihr Drehbuch endet, ist die Entscheidung, welchen Draht Sie kappen müssen, plötzlich ganz einfach gefällt.
Mit nur einem richtigen Schnitt sind Sie in der Lage, einem Shitstorm-Szenario die Dramatik und den Zeitdruck zu nehmen und die Situation zu entschärfen. Keine digitalen Countdowns mehr, die einem die Luft zum Atmen nehmen. Kein enervierend flackerndes rotes Licht mehr. Der Film ist aus. (Happy) End.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe TEMPO. Das Heft können Sie hier bestellen.